Verkündigungssendung Das Wort zum Tag bei MDR SACHSEN vom 07.-13.11.2022

Täglich hören Sie das Wort zum Tag. Montags bis freitags gegen 5:45 Uhr und 8:50 Uhr, am Sonnabend gegen 8:50 Uhr, sonntags 7:45 Uhr. Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche u.a. Pfarrer Fabian Brüder aus Dresden.

Sonntag, 13.11.: Das Wort am Sonntag

Familienausflug auf den Friedhof. Wie soll ich mir das vorstellen? Vielleicht am Jahrestag des Verstorbenen einladen zu einem gemeinsamen Picknick. Warum nicht auf dem Friedhof? Eine kleine Wanderung mit Eltern, Kindern, Angehörigen, vielleicht sogar Freunden. Wie wenn man sich im Sommer im Park trifft. Eine Kleinigkeit zu essen, ein paar gute Flaschen Wein, Gläser zum Anstoßen, ein paar Blumen oder einfach Blütenblätter als Gruß für den Verstorbenen. Feier des Lebens auf dem Friedhof. Eine charmante, ja beeindruckende Idee. Und die Mischung aus Trauer über Vergangenes, Schmerz durch schwer und nie verheilende Wunden in der Seele und Freude am Wiedersehen mit denen, die zu uns gehören. Nicht alles in Worte zu fassen, aber der Versuch dem Leben in seinen Höhen und Tiefen, dem Tod im Leben einen angemessenen, aber nicht zu großen Raum zu geben.

Die Tage im November erinnern uns an die Endlichkeit. Nicht wenige suchen gerade jetzt den Gräbern auf dem Friedhof die Gestalt zu geben, die den Winter überdauern lässt. Das letzte Laub, das von den Bäumen fällt, als Zeichen unser aller Vergänglichkeit. Mit unseren Schritten schlurfen die Schuhe durch bunte, raschelnde und doch schon morbide Pflanzenreste.

Bei einigen sind die Wunden noch frisch. Reste der Trauerfeier lagern auf Erdhügeln, die den Aushub der erschütternden Tiefe bedecken. Andere Gräber zeigen sich wie kleine Gärten, als müssten sie in einen Wettbewerb treten mit den Nachbarflurstücken, die auf Zeit erworben wurden, um den Toten die letzte Ruhe zu geben. Und wieder andere bleiben leer; erzählen davon, dass sich ohnehin nichts bewahren lässt; dass Trauer in Gedanken ebenso wertvoll sein kann, wie Trauer am konkreten Ort diesseitiger, menschlicher Überreste. Familienausflug auf den Friedhof. Das Leben geht weiter, auch wenn die Erinnerungen zurückgehen. Dieses ewige Vermissen und die Einsicht, dass sich nichts festhalten lässt. Die Erinnerungen, die einen weinen, manchmal auch lächeln lassen. Gleichmütiges Schweigen, um nicht die Fassung zu verlieren, und dann auch zorniger Trotz, weil der Tod unfair eingegriffen hat in die Lebensgeschichte eines jeden, der mit auf dem Weg ist über den Schotterweg durch den Friedhof zum Grab. Wenn er das noch sehen könnte! Was ich ihm gern erzählen möchte, dem Verstorbenen. Und dann wieder mal kurz dieses Warum? Blitzt immer wieder auf, obwohl die Einsicht längst gereift ist, dass es darauf keine Antwort gibt, die trösten könnte. Und wenn es ein Kind ist? Dann erst recht. Das gehört so nicht, dass Kinder vor den Eltern gehen müssen. Dann gibt es keine gute Erklärung, kein Glaube und keine Weltanschauung, die irgendeinen Sinn konstruieren könnte. Da bleibt nur, sich selbst eine Strategie zurecht zu legen, dass der Schmerz das eigene Leben und den Alltag nicht überflutet. Das kann ein Familienausflug auf den Friedhof sein, aber da gibt es keine Rezepte, die allgemeingültig wären. Es gibt Abschiede, die überfordern unsere Einsicht. Ja, das Leben ist endlich. Das kann man verstehen. Und wann und wie das Ende gesetzt ist, liegt nur sehr bedingt in unserer Hand.  Der Schmerz einer Mutter aber, der Schmerz von Eltern über den Tod eines Kindes ist zu groß, als dass ich eine Ahnung hätte. Es ist nicht Recht, dass ein Kind vor den Eltern gehen muss. Wenn es geschieht, kann man nicht viel tun. Ich glaube, man kann zumindest den Schmerz vor Gott einklagen. Vielleicht mit dem Gleichnis von der bittenden Witwe in den Ohren, das Jesus erzählt hat: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.

Ich glaube, Gott ist kein selbstherrlicher Richter, aber wir Menschen können ihn bestürmen, als wäre er einer. Wir können ihm das Unrecht ins Gesicht schreien, wenn wir uns vom Leben betrogen fühlen. Er hält es aus, wenn wir ihn anklagen, weil sich unsere Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit nicht mit einem guten Gott auf einen Nenner bringen lassen. Wahrscheinlich wird es keine Antwort geben, die uns befriedigt, aber unsere Klage, unser Schmerz sind bei ihm aufgehoben. Sie werden einmal einen Trost finden, hier in diesem Leben oder dort im Himmel bei einem Wiedersehen – Gott weiß wie.

Heute ist Volkstrauertag. Wer über den Friedhof geht, wird auch an Gedenkstätten für die Toten der Kriege vorbeikommen. Sehr oft junge Männer, die früh ihren Müttern und Familien entrissen wurden. Manchmal wird auf dem Denkmal von Helden die Rede sein. Eine gar zu billige Erklärung für ihren Tod; ja geradezu ein Hohn, wenn man sich vor Augen malt, unter welchen Bedingungen sie gestorben sind. Kriege schaffen keinen Frieden. Sie bleiben das schlechteste Mittel der Konfrontation zwischen Völkern und Ideologien. Sie hinterlassen Krieg in den Seelen der Verbliebenen, der Mütter und Väter, der Geschwister und der Geliebten. Die bittende Witwe ist für mich die Heldin.

Gott um Frieden bitten, ihn bestürmen, bedrängen, ihm auf die Pelle rücken, damit das Unrecht der Kriege und der Gewalt nicht wieder neue Erfolge feiern kann. Die Leidtragenden sind lange nicht mehr nur die Soldaten, es ist die Zivilbevölkerung, es sind die Vergewaltigten, es sind die Flüchtenden. Schaffe Recht deiner Welt und greife mit deinen Mitteln ein, Gott, damit Recht und Gerechtigkeit, Friede und Freiheit neue Blüten treiben können, bevor wir uns verrennen wieder in neues Blutvergießen. Auch das könnte das Gebet derer sein, die sich die zornige, beherzte Witwe zum Vorbild nehmen. Familienausflug auf den Friedhof in unfriedlichen Zeiten?

Er könnte, besonders in diesen Tagen auch die Bitte um den Frieden einschließen, egal, ob uns die Namen auf den Ehrenmälern der beiden Weltkriege noch etwas sagen, oder ob Soldatenfriedhöfe uns befremden mit den Namen der russischen oder deutschen oder ausländischen Männer. Der Friedhof heißt nicht umsonst Friedhof. Die Verstorben mögen in den ewigen Frieden eingehen, die Lebenden sollen Frieden finden, auch durch die Menschen, die mit uns durch das Laub schlurfen. Friedhöfe sind immer auch aber Botschafter der Versöhnung. Weil Tote im Krieg niemals zu Recht Tote sind. Es gibt keinen gerechten Krieg. „Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“ ruft die Witwe, und sie ist eher bereit dem Richter ins Gesicht zu schlagen als dem Widersacher, weil sie sich an Recht und Gerechtigkeit halten will.

Es braucht andere Wege einen ungerechten Angriffskrieg zu beantworten. Abwehr und Schutz sind notwendig für die, die ausgebombt werden. Vielleicht auch mit Gewalt. Aber oft fehlt uns die Phantasie, oft fehlen uns die Mittel, manchmal auch der Mut, den dummen Krieg der Aggressoren ins Leere laufen zu lassen. Schaffe denen Recht, denen Unrecht geschieht; mit deinen Mitteln Gott, nicht erst nach dieser Zeit, sondern schon jetzt. Denn keine Idee ist es wert, dass mobil gemacht wird, und Menschen in den Krieg ziehen und nicht wiederkehren. Denn jeder und jede, ob alt oder jung wird fehlen als Menschenkind auf dieser Erde, als Sohn oder Tochter, als Bruder oder Schwester, als Ehepartner oder Geliebter.

Das Wort zum Tag spricht in dieser Woche:

Fabian Brüder im Porträt
Bildrechte: Fabian Brüder

Kurzvita Fabian Brüder

Fabian Brüder

Geboren am 02.07.1989 in Hannover | 2008 Abitur | 2008-2009 Diakonisches Jahr im Ausland im Rahmen eines Europäischen Freiwilligendienstes in Estland | 2009-2016 Studium der Evangelischen Theologie in Leipzig, Tartu und Berlin | 2016-2019 Vikariat in München | 2019-2020 Probedienst in Lübeck | seit 2020 Pfarrer in der Evangelisch-reformierten Gemeinde zu Dresden

Verantwortlich für Verkündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie das Wort zum Tag...

... sind die Senderbeauftragten der evangelischen Landeskirchen, der evangelischen Freikirchen bzw. der römisch-katholischen Kirche.