Mittwoch, 15.06.2022: Annahme
"Und, Marie, was haben Sie heute gemacht", frage ich. "Betten", kommt es zurück. Mehr gehaucht als gesprochen. Den Blick auf den Boden gerichtet, die rechte Hand knetet die linke, so steht sie vor mir. "Ah", sage ich, "Sie haben heute die Betten bezogen. Sehr schön. Und hat es gut geklappt?" Sie nickt.
Seit zwei Monaten macht Marie nun ein Praktikum in unserem Hotel. Sie wird bald 19. Im Sommer beendet sie nach 13 Schuljahren die Schule, eine Förderschule. Viele ihrer Klassenkameraden gehen anschließend in einer WfbM arbeiten, einer Werkstatt für behinderte Menschen. Marie möchte gern bei uns arbeiten. In der Kindheit wurde bei Marie eine Form von Autismus festgestellt.
Ihr soziales Verhalten ist sehr eingeschränkt. Sie spricht kaum ein Wort - oder nur zu ausgewählten Personen. Es fällt schwer, einen Blickkontakt zu ihr aufzubauen oder eine Reaktion auf Gesagtes zu bekommen. Mittwochs arbeitet Marie oft mit Frau Schmidt zusammen. Mit ruhiger Stimme und in leichter Sprache erklärt sie ihr die Arbeit. In kurzen, einfachen Sätzen führt sie einzelne Arbeitsschritte vor und beschreibt die Arbeitsmittel.
Das beeindruckt mich: Sie schaut nicht auf das, was Marie nicht kann. Sie akzeptiert Marie wie sie ist. Sie begegnet ihr einfühlsam und wohlwollend. Sie traut ihr die Arbeiten zu. Und das Zutrauen ist berechtigt: Wenn das Bett fertig bezogen und hergerichtet ist, gibt es keinen Unterschied zu den Betten der anderen Kollegen.
Frau Schmidt sagt: "Sie macht ihr Ding. Na klar, sie ist langsamer, aber das ist doch in Ordnung. Lieber langsam und ordentlich, als huschhusch." Recht hat sie. Wer sein Gegenüber mit dem Herzen anschaut, wird in jedem Menschen erstaunliche Fähigkeiten und vor allem eine von Gott geschaffene und geliebte Person erkennen.