Ein Neadndertaler mit Fellbekleidung. In der einen Hand trägt er einen Speer, mit der anderen Hand hält er die Hand seiner Tochter, die auf seinen Schultern sitzt und sich an seinem Hals festhält. Das Kind blickt nach hinten in die Ferne, der Blick des Vaters ist auf den Boden gerichtet.
Die Überreste von 13 Neandertalern wurden in Sibirien in den Höhlen von Chagyrskaya und Okladnikov gefunden. Die Genomsequenzierung offenbarte das Verwandtschaftsverhältnis der Individuen. Unter ihnen waren auch ein Vater und seine Tochter. Bildrechte: © Tom Bjorklund

Anthropologie: Studie aus Leipzig Der genetische Schnappschuss einer Neandertalerfamilie

19. Oktober 2022, 17:04 Uhr

Einem internationalen Team unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig ist es erstmals gelungen, die Genome mehrerer Mitglieder einer Neandertalergruppe zu sequenzieren. Dadurch erhielten die Forschenden Einblicke in Verwandtschaftsverhältnisse und die soziale Organisation der Neandertalergemeinschaft.

Die Geschichte des Menschen ist sehr komplex und ziemlich schwer zu entschlüsseln. Doch die moderne Wissenschaft und neue Techniken enthüllen immer mehr Details über die Entwicklung der verschiedenen Hominiden-Arten bis hin zum modernen Menschen Homo sapiens. Nun ist es einem internationalen Forschungsteam unter Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gelungen, tiefere Einblicke in das soziale Zusammenleben der Neandertaler zu gewinnen. Und das einzig und allein durch den Blick auf ihre Gene.

Genomsequenzierung macht's möglich

Zugegeben – ein Blick auf die Gene – das klingt sehr viel einfacher, als es eigentlich ist. Denn sogenannte Genomsequenzierungen sind eine vertrackte Sache, wenn es um tausende Jahre altes Genmaterial geht. Die Neandertaler lebten schließlich vor sehr langer Zeit, die ältesten Bekannten von ihnen wandelten vor mehr als 400.000 Jahren auf dieser Erde, bevor sie vor rund 40.000 Jahren schließlich ausstarben. Sie besiedelten Europa, den Nahen Osten, Zentralasien und Sibirien. Letzteres ist übrigens Herkunftsort der untersuchten Gensequenzen.

Ein großer Felsen, der aus üppiger Vegetation herausragt. Deutlich zu erkennen ist der Eingang zu einer Höhle. Der Felsen liegt direkt an einem Gewässerufer.
Die genetischen Daten von elf Neandertalern stammen aus der Chagyrskaya Höhle in Sibirien. Bildrechte: © Bence Viola

Die Forschenden um Dr. Laurits Skov untersuchten die Überreste von Neandertalern aus den Chagyrskaya- und Okladnikov-Höhlen im Altai-Gebirge in Südsibirien. Die beiden Höhlen wiederum sind weniger als 100 km von der Denisova-Höhle entfernt. Sie war der Fundort, nach dem eine ganz anderes Homininenform, nämlich der Denisova-Mensch, benannt wurde. Diese haben über Hunderttausende Jahre in dieser Region gelebt und auch mit den Neandertalern interagiert. Das zeigt ein früherer Fund eines Kindes mit einem Denisova-Vater und einer Neandertaler-Mutter.

Das genetische Material einer Familie

Doch was offenbarten die Funde aus den Chagyrskaya- und Okladnikov-Höhlen? Die Forschenden sichteten die DNA von 13 verschiedenen Neandertalern – sieben männliche und sechs weibliche. Acht von ihnen waren erwachsen und fünf befanden sich im Kindes- und Jugendalter. Damit ist dies übrigens eine der größten genetischen Studien einer Neandertalerpopulation, die es bisher gab. Das Ergebnis: Sie lebten nicht nur weitgehend zeitgleich in den beiden Höhlen, sondern hatten auch zum Teil enge Verwandtschaftsverhältnisse zueinander. Zu diesem Schluss kamen die Forschenden unter anderem, weil sie in der DNA Heteroplasmen nachweisen konnten, die sie miteinander gemein hatten. Das ist eine besondere Art einer genetischen Variante, die nur über eine geringe Anzahl von Generationen hinweg bestehen bleibt.

Dass sie zur gleichen Zeit gelebt haben, ist für uns sehr aufregend, denn das bedeutet, sie gehörten möglicherweise der gleichen sozialen Gemeinschaft an. So können wir zum ersten Mal mit Hilfe der Genetik die soziale Organisation einer Neandertalergruppe untersuchen.

Dr. Laurits Skov, Erstautor der Studie vom Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie

"Zur gleichen Zeit" bedeutet übrigens nicht, dass alle Individuen wirklich zur gleichen Zeit als Familie in der Höhle lebten. Die Forschenden gehen da eher von einem Zeitraum von ungefähr einem Jahrhundert aus. Es ist laut Dr. Benjamin Peter vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie also durchaus möglich, dass Vater und Tochter, die die Forschenden anhand der DNA identifizieren konnten, auch nacheinander gelebt haben, dass also der Vater bereits tot war, als die Tochter sich noch in der Höhle aufhielt. Solche spezifischen Hinweise geben leider selbst die DNA-Daten nicht preis.

Doch die Verwandtschaftsverhältnisse waren nicht die einzige spannende Erkenntnis. Die Forschenden fanden auch heraus, dass die genetische Vielfalt der Y-Chromosomen, die in der männlichen Linie vererbt werden, bei diesen Personen viel geringer ist als die der mitochondrialen DNA. Diese wird von den Müttern vererbt. Die genetische Vielfalt wurde also von ihnen in die Gemeinschaft getragen. "Neandertaler-Gemeinschaften waren also in erster Linie durch die Migration von Frauen genetisch miteinander verbunden", so das Autorenteam.

Die Männer bleiben, die Frauen gehen

Die Forschenden vermuten, dass diese Neandertalergruppe in einer kleineren Gemeinschaft mit etwa 20 Individuen lebte, in der 60 Prozent oder mehr der Frauen aus einer anderen Gemeinschaft zu den Familien ihrer Partner abwanderten, während die Männer an Ort und Stelle blieben. Woher genau die anderen Gruppen stammten, aus denen die Frauen kamen und wie weit diese entfernt waren, konnten die Forschenden laut Dr. Benjamin Peter anhand des genetischen Materials aber noch nicht ablesen.

Eine Migration von aus der Nähe stammenden Denisovarinnen in diese Neandertaler-Gruppe konnten die Forschenden allerdings nicht feststellen. Wie kann das aber sein, wenn die Höhlen doch eigentlich so nah bei einander liegen?

Die Wahrscheinlichkeit, dass in der Zeit dieser Gruppe auch Denisovaren in der Gegend waren, ist sehr gering. Wir wissen, dass es sie vorher dort gab, und mit vorher meinen wir zehntausende Jahre, und dass es sie auch zehntausende Jahre danach dort gab. Aber zu genau dieser Zeit eben nicht. Dafür gibt es keine Belege.

Dr.Benjamin Peter, Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Andere Neandertaler-Gruppen interagierten zu anderen Zeiten allerdings durchaus mit Denisovaren, wie oben bereits erwähnt wurde. Und auch Homo sapiens und Neandertaler haben eine Zeit lang nebeneinander gelebt. Eine aktuelle Modellierungsstudie, die in Scientific Reports erschien, gibt neue Aufschlüsse über diese Koexistenz.

Regionale Belege für Koexistenz

Die Wissenschaft geht davon aus, dass der Neandertaler und der Homo sapiens in Europa 5.000 bis 6.000 Jahre lang nebeneinander gelebt haben könnten, bevor der Neandertaler ausstarb. Auf regionaler Ebene gibt es aber nur wenige Belege für eine solche Koexistenz. Eine neue Studie der Universität Leiden in den Niederlanden liefert sie nun. Igor Djakovic und seine Kollegen haben einen Datensatz von 56 Artefakten von Neandertalern und modernen Menschen (28 für jede Gruppe) aus siebzehn archäologischen Stätten in Frankreich und Nordspanien sowie weitere zehn Neandertalerproben aus der gleichen Region analysiert.

Auf der Grundlage ihrer Modellierung (mittels Optimal Linear Estimation und Bayes'schen Wahrscheinlichkeitsmodellen) schätzen die Autoren, dass Neandertaler-Artefakte dort erstmals vor 45.343 bis 44.248 Jahren auftauchten und zwischen 39.894 und 39.798 Jahren verschwanden. Das Aussterbedatum des Neandertalers, das sich auf direkt datierte Neandertalerreste stützt, liegt zwischen 40.870 und 40.457 Jahren. Das erste Auftreten des Homo sapiens wurde auf 42.653 bis 42.269 Jahre datiert. Die Autoren deuten das als Hinweis darauf, dass die beiden Menschenarten in diesen Regionen zwischen 1.400 und 2.900 Jahren koexistierten. Ob sie allerdings auch miteinander interagierten, können diese Ergebnisse nicht zeigen.

Das Leben und Sterben der Neandertaler hält also auch weiterhin noch einige Geheimnisse und viel Raum für wissenschaftliche Forschung bereit.

JeS

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 03. Oktober 2022 | 12:00 Uhr

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