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Das Cover zeigt einen Kea (neuseeländischer Bergpapagei mit olivgrünem Gefieder und einem langen, gebogenen schwarzen Schnabel) auf weißem Grund. Um das Tier herum sind Autor, Titel und Verlag zu lesen.
Wie intelligent sind Tiere? Eine Buchempfehlung. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Buchtipp der Woche Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche.

03. April 2022, 15:00 Uhr

Sind Tiere intelligent? Was heißt überhaupt Intelligenz? Und wie misst man sie bei Tieren? Wer sich für solche Fragen interessiert, ist bei diesem Buch richtig, findet MDR WISSEN-Redakteur Carsten Dufner, der sich die Neuerscheinung mit Forschungsergebnissen und Schlussfolgerungen aus Biologie, Verhaltensforschung und Philosophie näher angesehen hat. Eine Empfehlung.

Carsten Dufner
Bildrechte: Tobias Thiergen

Kreativität bei Forschenden und Tieren

Zwei Röhren. Eine gerade und eine gebogene; in einer von beiden liegt was Leckeres. Davor zwei Vögel, ein Kolkrabe und ein Kea (das ist der auf dem Buchcover). Und die Frage, welche dieser Röhren sie auswählen. Der Rabe guckt in die gerade Röhre, sieht nichts und weiß, dass er besser in dem krummen Rohr suchen musst. Der Kea ist sich da nicht so sicher und schaut vorsichtshalber nochmal von der anderen Seite durch das gerade Rohr. Ist der Kolkrabe deshalb intelligenter? Nein, sagt Ludwig Huber, der Autor dieses Buchs. Logischer sind sie zwar, die Raben, aber mittelfristig sind die Keas erfolgreicher. Und er ergänzt auch gleich, warum das so ist. Raben haben natürliche Feinde und müssen schnell sein. Keas haben die nicht und gehen deshalb gründlicher vor.

Wer dieses Experiment und sein Ergebnis spannend findet, wird an diesem Buch seine helle Freude haben. Über 650 Seiten, voll von vergleichbaren Versuchsaufbauten, von Geschichten rund um den Versuch, die Intelligenz von Tieren zu bestimmen, zu zeigen, dass Tiere sehr viel mehr können, als es ihnen die Menschen über Jahrhunderte zugesprochen haben. Und letztendlich auch voller Respekt für die Vielfalt der Tierwelt. Und es bleibt nicht bei Raben oder neuseeländischen Bergpapageien – auch Delfine und Hunde, Ratten und Buschhäher, Meerkatzen, Schimpansen, thailändische Langschwanzmakaken oder brasilianische Kapuzineraffen – sie alle sind an Versuchen beteiligt, die Aufschluss über tierische Intelligenz geben.

Zwei Bilder, darin jeweils eine durchsichtige Plexiglas-Box mit einer schrägen Ebene , auf der eine stilisierte Nuss liegt. Vor der Box ein Kakadu, links mit einen Stück Karton, rechts mit einem abgebissenen Streifen desselben, mit dem der Vogel die Nuss aus der Box holt.
Ein Goffinkakadu bei der Herstellung eines passgenauen Werkzeugs zum "Angeln" der Nuss. Bildrechte: Suhrkamp Verlag / Auersperg, A. M. L, Köck, C., O’Hara, M. und Huber, L. (2018): Tool making cockatoos adjust the lengths but not the widths of their tools

Und oft weiß ich nicht, was ich erstaunlicher finde: die Energie und Kreativität, die die Forscherinnen und Forscher in immer neue Versuchsaufbauten stecken, um die Intelligenz von Tieren erfahrbar zu machen. Oder die Intelligenz der Tiere selbst, die Lust am Experimentieren, am Nachahmen und, ja, am Denken haben. Hätten Sie gedacht, dass ein Kakadu in der Lage ist, mit den bloßen Augen aus der Ferne Längen zu schätzen, einen entsprechend langen Streifen von einem Karton zurechtzubeißen und mit diesem Streifen durch ein Loch in einer Plexiglas-Box eine Nuss zum Herausfallen zu bewegen? Sehen Sie!

Biologie trifft auf Philosophie

Anders als vielleicht erwartet, stößt der Biologe Huber bei der Beschäftigung mit tierischer Intelligenz sehr schnell auf philosophische Fragen. Ob er nun Platon zitiert, wenn er sich mit Sprache beschäftigt, auf Descartes zu sprechen kommt, wenn er die historische Trennung zwischen Mensch und Tier herleitet oder mit Richard David Precht erklärt, dass "die Kluft zwischen dem, was Menschen im Umgang mit Tieren für richtig halten und dem, was tatsächlich praktiziert wird, noch nie so groß war wie heute".

Im Zentrum des Buchs steht die gleichermaßen biologische wie philosophische Frage: Ist der Mensch wirklich so ganz anders als die Tiere, wie wir uns das über Jahrhunderte eingeredet haben?

Carsten Dufner

Können wir die klare Trennung zwischen Mensch und Tier überhaupt wissenschaftlich unterlegen? Eindeutige Antwort nach Lektüre des Buchs: Nein. Zumindest gibt es nicht das Schwarz-Weiß, das "hier Tier = Trieb", "dort Mensch = Intelligenz". Manchmal könnte es vielleicht sogar umgekehrt sein. Und so ist es kein Wunder, dass der Autor gerade in diesem Wissen immer von "nichtmenschlichen Tieren" spricht.

Links drei Touchscreens mit jeweils zwei Symbolen zur Auswahl, davor eine Taube, ein Hund und ein Mann. Rechts acht Zweiergruppen von Symbolen, die im Test zum Einsatz kommen.
Dummes Tier? Taube, Hund und Student (!) mit der Aufgabe, jeweils eines von zwei Bildern auszuwählen. Bildrechte: Suhrkamp Verlag / Aust, U., Range, F., Steurer, M. und Huber, L. (2008): Inferential reasoning by exclusion in pigeons, dogs, and humans. Animal Cognition,11, 587-597.

Auch die Frage, was eigentlich Intelligenz ausmacht, ist eine philosophisch-biologische. Und auch hier weiß das Buch Antwort. Zur Intelligenz gehört sehr viel mehr als pures Denken, sagt Ludwig Huber. Und definiert sechs Kategorien, die eigentlich den Menschen vom Tier unterscheiden sollten, die aber – wen wundert’s? – allesamt auch bei Tieren zu finden sind (nur eben nicht alle sechs bei einem Tier gleichermaßen ausgeprägt). Huber fasst jeweils zwei dieser Kategorien zu einer Gruppe zusammen: 1. Herstellung von Werkzeugen und technische Intelligenz 2. das Ausdehnen des Denkens in die Vergangenheit und Zukunft und 3. das Nachdenken über den eigenen Wissensstand und den anderer.

Jedem dieser Indizien für Intelligenz ist jeweils ein Kapitel gewidmet; die weiteren Abschnitte des Buchs behandeln die zentralen Fragen, die sich jede und jeder von uns wahrscheinlich schon mal gestellt hat: "Können Tiere rational sein?", "Haben Tiere Sprache?" und "Haben Tiere Bewusstsein?".

Ein Schimpanse blickt auf ein buntes Objekt, das an einer Kamera befestigt ist, die ihn filmt. Auch eine Frau blickt auf dieses Objekt, ist aber durch eine Gesichtsmaske verdeckt. Zwei weitere Kameras beobachten die Interaktion.
Versuchsaufbau am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie: Folgen Schimpansen dem Blick der Forscherin auch dann, wenn sie eine Maske trägt? Bildrechte: Suhrkamp Verlag / Karg, K., Schmelz, M., Call, J. und Tomasello, M (2015). The goggles experiment: can chimpanzees use self-experience to infer what a competitor can see? Animal Behaviour, 105, 211-221,

Ein Meister seines Fachs

Mit seiner Fächerkombination aus Biologie und Philosophie hat Ludwig Huber genau das Richtige studiert, um die Frage der Intelligenz nicht nur von einer Seite zu betrachten. Huber, Jahrgang 1964, hat in Wien studiert und ist dieser inspirierenden Stadt auch als Forscher und Lehrer treu geblieben. Zunächst Assistent des Zoologen und Meeresforschers Rupert Riedl, begründete er die Kognitionsbiologie als Forschungsschwerpunkt, später als eigenes Department, bevor er Professor und Leiter des interdisziplinären Messerli Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität Wien wurde, das einen besonderen Fokus auf Natur- und Tierschutz legt. Seit 1993 ist Huber Mitglied des Konrad Lorenz Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung, seit 2005 Gastprofessor an der Karls-Universität in Prag.

Das Cover zeigt einen Kea (neuseeländischer Bergpapagei mit olivgrünem Gefieder und einem langen, gebogenen schwarzen Schnabel) auf weißem Grund. Um das Tier herum sind Autor, Titel und Verlag zu lesen.
Wie intelligent sind Tiere? Eine Buchempfehlung. Bildrechte: Suhrkamp Verlag

Die Daten zum Buch Ludwig Huber: Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche. Suhrkamp 2021, 671 Seiten, 34 € (als eBook 29,99 €), ISBN 978-3-518-58771-3

Mit Anspruch, aber verständlich

Die Zahlen sprechen für sich: 672 Seiten, 78 Seiten Bibliografie mit 1.181 Fußnoten, je ein Sach-, ein Personen- und ein Artenregister zeigen sehr deutlich, dass wir es hier nicht mit einer populärwissenschaftlichen "Einführung in die Verhaltensforschung" zu tun haben, sondern mit einem Buch, das den Stand der Forschung umfassend darlegen will. Huber ergeht sich aber nicht in seitenlangen Abhandlungen zu einzelnen Experimenten und glänzt auch nicht mit der unnötigen Verwendung eines Fachvokabulars, das man nur mit entsprechendem Studium versteht, sondern schreibt für ein breiteres, interessiertes Publikum anschaulich und nachvollziehbar, gelegentlich auch etwas komplexer, macht aber Lust, nach jedem dargestellten Versuch gleich auch den nächsten kennenlernen zu wollen.

Und so, wie er die Kolleginnen und Kollegen seines Fachs überall in der Welt zitiert (auch das Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie ist mit seinen Forschungen dabei), zeigt er die Kognitionsbiologie weniger als Forschung in Konkurrenz (obwohl er die fachinternen Dispute nicht auslässt), sondern vielmehr als große Forschungsgemeinschaft, die sich dessen bewusst ist, dass sie bei vielen Fragen rund um die Intelligenz der (nichtmenschlichen) Tiere noch am Anfang steht und in der jede Stimme und jedes Experiment mit Aufmerksamkeit verfolgt werden.

Drei Versuchsaufbauten mit zwei Buschhähern. Die Experimente unterscheiden sich dadurch, dass die beiden Vögel mehr oder weniger voreinander verdeckt sind.
Auf der Suche nach der Strategie, wie Buschhäher ihr Futter verstecken. Bildrechte: Suhrkamp Verlag / Clayton, N.S., Daily, J.M. und Emery, N.J. (2007) Social cognition by food-caching corvids. The Western scrub-jay as a natural psychologist. Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences,362 (1480), 507-522.

Tierische Intelligenz

Drei Gedanken bleiben nach Lektüre dieses Buches. Zunächst, ganz einfach: Tiere können Aufgaben lösen, die die meisten Menschen ihnen wohl nicht zutrauen würden. Darüber hinaus: Die Frage, ob Tiere intelligent sind, hängt stark mit unserer (!) Definition von Intelligenz zusammen. Und da würde es uns menschlichen Tieren gut anstehen, diese Definition immer mal wieder zu hinterfragen. Und schließlich: Oft liegen hinter scheinbar einfachen Aufgaben sehr komplexe Denkprozesse. Wenn ein Tier z.B. sein Futter vor Artgenossen verstecken will, muss es zum einen die Verstecke anderer kennen, muss sich diese merken können, darüber hinaus auch vermuten, wo andere suchen könnten und sich schließlich auch seine eigenen Verstecke merken. Das muss ein Mensch erstmal auf die Reihe kriegen!

Carsten Dufner schaut freundlich in die Kamera.
Carsten Dufner Bildrechte: Tobias Thiergen

Der Rezensent Carsten Dufner setzt sich in seiner Freizeit intensiv mit der Intelligenz von vier Eselinnen auseinander und empfindet es von daher als (einziges) Desiderat dieses Buchs (oder, besser: der Forschung), dass gerade diese intelligenten Tiere offenbar noch nicht so richtig in der Wissenschaft angekommen sind. Er könnte einiges zu einer Rehabilitierung der "dummen Esel" beitragen. Ansonsten betreut er bei MDR Wissen nicht nur diese Rubrik mit Buchempfehlungen, sondern ist auch Ansprechpartner für die Wissenschaftseinrichtungen im Land, für öffentliche Veranstaltungen der Redaktion und ist immer auf der Suche nach neuen Impulsen für Bildungsprojekte, Dokus und Podcasts.

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