Eva Grill, LMU München, Grafik für die MDR Wissen Serie "Mein Jahr mit Corona".
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Mein Jahr mit Corona Herausforderung und Chance: Epidemiologin Eva Grill

08. März 2021, 11:03 Uhr

In der Pandemie sollen Epidemiologen Modelle und Einschätzungen liefern, wie sich das Virus verbreitet. Aber was, wenn das eigene Forschungsthema eigentlich das Altern ist und der Lockdown die Arbeit blockiert?

Autorenfoto von Clemens Haug
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Eva Grill ist eine Idealistin. Vor über 20 Jahren gab sie ihren Beruf als Pharmazeutin auf und ging zurück an die Universität. "Ich wollte etwas sinnvolles machen, einen Beitrag zur Gesellschaft und zur Gesundheit der Bevölkerung leisten", sagt sie heute. Sie wurde Professorin für Epidemiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.

Mein Jahr mit Corona Seit einem Jahr befindet sich unser Leben durch die Pandemie in einem Ausnahmezustand. Wie hat Corona das Leben von Forscherinnen beeinflusst? Um diese Frage geht es in unserer Serie.

Epidemiologen – neben den Virologen sind sie die gefragtesten Wissenschaftler in der Corona-Pandemie. Sie sollen mit Modellrechnungen voraussagen, wie sich die Krankheit verbreitet. Wie viele Menschen wie viele andere anstecken. Welche statistischen Effekte geschlossene Schulen und Läden haben. Allerdings: Eva Grills zentrales Thema ist eigentlich die Frage, wie wir gesund altern können. "Die allerwenigsten von uns beschäftigen sich primär mit Infektionskrankheiten. Denn überwiegend sterben wir ja an nichtübertragbaren Krankheiten", sagt sie.

Nach den ersten Modellrechnungen schläft die Epidemiologin schlecht

Trotzdem ist klar, dass das neue Virus wichtig werden könnte, als im Januar die ersten Meldungen darüber kommen. "Wir haben ziemlich intensiv im Kollegenkreis diskutiert, ob es etwas ist, was ernst zu nehmen ist. Ich habe am Anfang auch unterschätzt, was da auf uns zukommt."

Die Forscher gründen aber eine Arbeitsgruppe, die ein relativ einfach aufgebautes Modell durchrechnet. Das SIR-Modell betrachtet nur, wie viele Menschen sich anstecken können (der englische Fachbegriff dafür lautet "Susceptibility", übersetzt "Anfälligkeit"), wie lange sie krank sind (englisch: "Infected") und wann sich die Infizierten erholen (englisch: "Recovery"), beziehungsweise, wie viele an der Erkrankung sterben werden.

Als ich die ersten Ergebnisse gesehen habe, bin ich richtig erschrocken. Es waren diese Modellrechnungen, wo man sieht, wie schnell man wie viele Todesfälle erwarten kann, wenn die Epidemie unkontrolliert in der Bevölkerung läuft. Da war uns klar, dass man etwas tun muss. In der allgemeinen Diskussion war das damals noch nicht so präsent. Aber wir haben eine Stellungnahme verfasst. Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich dann ganz lange nicht gut geschlafen habe.

Professorin Eva Grill, Ludwig-Maximilians-Universität München

Deutschland hört auf den Rat der Experten und reagiert früh mit einem Lockdown. Die erste Welle kann rasch abgefedert werden. Was folgt, beschreiben Grill und ihre Kollegen heute allerdings als das klassische Präventions-Paradox: Weil die Vorbeugung klappt, bleibt die Katastrophe aus, dadurch erscheinen Pandemie und Virus weniger schlimm. Die Folge: In der zweiten Welle reagiert die Politik sehr viel später. Die Experten haben es schwerer, sich Gehör zu verschaffen.

Erfolg und Blockade zugleich: Die paradoxe Situation für die Epidemiologie

Paradox ist allerdings auch die Situation für die Epidemiologie. Während die Forscher gefragte Interviewpartner zum Virus sind, liegt vieles von Grills eigener Forschungsarbeit brach. "Wir arbeiten viel im klinischen Kontext, und haben dort eigentlich mit Patienten zu tun, um Daten zu erheben", erklärt sie. Doch seit März 2020 sind Kliniken und auch die meisten Pflegeheime gesperrt für Besucher. Das gilt auch für die Wissenschaftler. "Da geht es fast gar nicht mehr vorwärts. Wir können unsere eigentliche Arbeit nicht tun." Labortests sind schwierig zu bekommen, wenn sie nicht nach Corona suchen. Wo es möglich ist, werden Operationen verzögert.

Auch wenn es ihr bei dieser Gelegenheit manchmal erscheint, als habe die Pandemie überhand genommen und alles andere verdrängt, ist Eva Grill dagegen, zu früh locker zu lassen. Stellt man sie vor die Wahl, das Coronavirus zum langfristig in der Menschheit heimischen Erreger werden zu lassen, oder zu versuchen, es auszurotten, dann hat sie eine klare Meinung. "Ich bin Verfechter der Null-Covid-Strategie. Ich will das Ding einfach loswerden. Aber es ist mir auch vollkommen klar, dass es dabei Probleme gibt, die sich nicht leicht lösen lassen". Unter anderem reiche es nicht, wenn ein Land in Europa seine Maßnahmen isoliert betrachte. "Wir sind da alle zusammen mit drin, man muss eigentlich immer mit ganz Europa denken."

Eva Grill vermisst die Menschen, nicht die Reisezeit

Klar ist, die Fallzahlen müssen sinken, damit das Virus weniger Gelegenheiten hat, sich an die Impfungen anzupassen oder noch ansteckender zu werden. Den Preis für die Einschränkung spürt Eva Grill persönlich auch. "Am meisten fehlen mir meine Freunde, die persönlichen Kontakte, die Spontanität, in ein Café zu gehen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Mir fehlt die Kultur, mir fehlen Konzerte, das Theater, das Kino." Und ihr ist klar, dass das die Sorgen privilegierter Menschen sind, deren Beruf ein sicheres Einkommen bringt, die keine Not leiden, deren Familie gesund ist.

Was bleiben wird, wenn die Pandemie vorüber ist? Neben der deutlich engeren Zusammenarbeit vieler unterschiedlicher Experten, hofft Grill, dass auch von der Solidarität in der Bevölkerung etwas bleibt. Ganz praktisch werde wohl die Möglichkeit, auch virtuell an Treffen teilzunehmen, bleiben. "Wir haben unseren Jahreskongress im Herbst virtuell gemacht. Wir mussten viel Trauerarbeit leisten, bevor wir uns durchgerungen haben, die Präsenzveranstaltungen abzusagen. Aber dann ist es gut gelaufen. Wie hatten den Herrn Lauterbach zu Gast, der wahrscheinlich nicht zu einer Präsenzveranstaltung gekommen wäre, weil er keine Zeit gehabt hätte, hinzureisen." Die Kollegen zu sehen, vermisse sie, sagt Eva Grill. Die Reisezeit in Zügen und Flugzeugen dagegen nicht.

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