Active Noise Cancellation & Co. Mucksmäuschenstill mit Antischall – jetzt auch bei offenem Fenster

13. Juli 2020, 10:10 Uhr

Ein Entwickler aus Singapur stellt in einer Studie eine Apparatur vor, die Lärm von der Straße durch Antischall kompensiert. Das Prinzip kennt man von teuren Kopfhörern. Nur, wie funktioniert das eigentlich? Und wie gut?

Ein Bauarbeiter mit organgefarbener Warnweste stützt auf einem Presslufthammer und arbeitet konzentriert. Daneben Zementsäcke und Baustellenhütchen zur Absicherung, im Hintergrund eine Wand.
Und wenn's nur eine Tagesbaustelle ist: Straßenlärm kann krank machen – oder zumindest wahnsinnig. Bildrechte: imago images/VWPics (Montage: MDR)

Das coronabedingte Homeoffice hat möglicherweise ein ganz neues Licht auf ihre Nachbarschaft geworfen. Da ist tagsüber ganz schön was los, Baustellenfahrzeuge, Lieferwagen und, ach ja, dieses schreiende Kind auf dem Balkon gegenüber. Lärm macht krank und wenn nicht, dann zumindest wahnsinnig. Fenster zu? Hilft nur bedingt, gerade tiefe Töne schaffen's dann doch ins heimeliche Heimbüro. Und im Sommer ist zeitweises Lüften ja auch nicht das Schlechteste.

Was würde Daniel Düsentrieb machen? Er würde einen Kasten aufstellen, der auf Knopfdruck den Lärm einfach aufsaugt und schließlich seelenruhig seiner Arbeit nachgehen. Und Bhan Lam von der Nanyang Technological University in Singapur würde es genau so machen. Auch er hat sich gedacht: Wie sind natürliche Belüftung und Lärmreduktion unter einen Hut zu bringen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Bhan Lam schon seit einiger Zeit und hat in einer neuen Studie jetzt ein Gerät vorgestellt, das genau das kann: Lärm reduzieren bei offenem Fenster.

Knöpfchen an und Lärm "absaugen" – klappt auch im Hier und Jetzt

Die Apparatur passt in ein Schiebefenster und kann die Umgebungsgeräusche um die Hälfte reduzieren. Bei einem Baulückenschluss gegenüber wäre das ja schon mal was. Das Gerät – ganz so klein ist es dann doch nicht – besteht aus 24 Lautsprechern mit einem Durchmesser von je viereinhalb Zentimetern. Dazu gehört außerdem ein Lärmsensor außerhalb des Fensters, um die belastende Geräuschkulisse von draußen zu identifizieren. Der Rest ist einfach: Das Gerät spielt ein Antigeräusch ab und gut ist.

Mann mit Kopfhörern in einer U-Bahn-Station mit dem Rücken zum Betrachter, drückt auf einen Knopf am Kopfhörer
Funktioniert heute schon: Mit einem Knöpfchen am Kopfhörer werden laute Umgebungsgeräusche neutralisiert. Bildrechte: imago images / Levine-Roberts

Antigeräusch? Das klingt nach Science Fiction und Superheldentechnik und wenn man es sich recht überlegt, ist es das irgendwie auch. Jede Schallwelle hat eine spezielle Frequenz, die sich mit einer Wellenkurve darstellen lässt. Das Antigeräusch wäre jetzt ein Geräusch auf der gleichen Frequenz, aber mit umgekehrter Wellenkurve. Wenn Schall und Antischall aufeinandertreffen dann … zack! … neutralisieren sie sich. Verrückt, dass das funktioniert – aber ist auch gar nicht mal so besonders, wie ein Gang in einen beliebigen Ausstatter für Heimelektronik zeigt.

Kopfhörer können das schon – aktiv und passiv

Inzwischen bieten viele Hersteller Kopf- und Ohrhörer im oberen Preissegment mit Schallreduktion an. Diese Geräte sind mit einem Mikrofon ausgestattet, das die Umgebungsgeräusche registriert und das Antigeräusch direkt auf die Ohren sendet. Damit lässt sich Beethovens Pastorale auch dann würdevoll genießen, wenn gerade eine Horde Halbwüchsiger die S-Bahn gestürmt hat. ANR (Active Noise Reduction – Aktive Geräuschreduktion) oder ANC (Active Noice Cancellation – Aktive Geräuschauslöschung) wird dieses Feature genannt. Wobei die Betonung auf Active liegt.

Zwei Kurven bewegen sich in ihrer Wellenform gegensätzlich zueinander. Sie stellen Schall und Antischall dar. Ein Strich in der Mitte zeigt, was passiert, wenn man beide Kurven addiert.
Bildrechte: MDR WISSEN

Verbraucher, die sich zu einem günstigen Produkt mit passiver Geräuschunterdrückung hinreißen lassen, bekommen nichts weiter als einen weitestgehend gut isolierten Kopfhörer, der so gedämmt ist, dass Umgebungsgeräusche reduziert werden. Für die aktive Variante mit Antischall ist da schon etwas mehr Aufwand nötig. Der kann auch mal weniger erwünscht sein und schöne Töne kaputt machen: Dann, wenn man glaubt, eine richtige Polung beim Anschluss der Lautsprecherkabel an der Stereoanalge sei nicht so wichtig. Wenn einer von zwei Lautsprechern falsch rum gepolt ist, gibt er einen gegensätzlichen Antischall zum anderen Lautsprecher ab. Vor allem die Bässe neutralisieren sich dann. Wie genau dieser Antischall funktioniert, lässt sich am besten anhand einer mathematischen Gleichung veranschaulichen – ja, echt jetzt: Minus eins plus eins ergibt? Null. Und eins plus minus eins? Auch Null. Die Kurve eines Schalls muss also genau umgedreht werden – ohne dabei die Frequenz zu verändern. Eine Pluskurve und eine Minuskurve, beide aber mit den gleichen Schwingungen. Und schon hört man nix mehr.

Prinzip ist seit 150 Jahren bekannt

Na ja: Um beim Beispiel der Kopfhörer zu bleiben – die steuern zwar mit ihrem Antischall schon gezielt den Schalltrichter des Ohres an. Aber Schall überträgt sich eben auch über Schwingungen des Schädelknochens zum Trommelfell. Außerdem müssten die Ohr- oder Kopfhörer minutiös an die eigene Ohrform angepasst sein, um tadellose Stille zu liefern. Das führt dazu, dass die Schallunterdrückung zwar ganz gut funktioniert, aber irgendwas bleibt eben immer übrig.

Ein Patentbogen mit mit etwas Text und verschiedenen schwarz-weiß-Zeichnungen, z.B. Wellenlinie mit Gegen-Wellenlinie
Antischall-Patent von 1934 mit der Nummer US2043416A Bildrechte: Google Patents

Das letzte Quäntchen futuristischer Anmutung nimmt der Schallauslöschung die Tatsache, dass sie bereits seit mindestens 1878 bekannt ist. Entdeckt hat sie der Nobelpreisträger Lord Rayleigh (bekommen hat er ihn allerdings u.a. für die Entdeckung des Elements Argon). 1934 gab es dann ein erstes Patent vom Deutschen Paul Lueg. Dabei ging es aber mehr um die Funktionsweise als um ein konkretes Produkt. Der erste Kopfhörer wurde 1949 angemeldet, bis zu einem fertigen Produkt dauert es aber noch fast vierzig Jahre, bis zur kommerziellen Verfügbarkeit für Heim und Hobby noch länger.

Toll bei tiefen Tönen

Altes Prinzip, neues Gerät also. Und längst wird die Technik nicht nur dort eingesetzt, wo S-Bahn-Fahrgäste ihre Ruhe haben wollen. Sondern auch in der Beschallungstechnik bei Veranstaltungen, zur Schallreduktion von Flugzeugtriebwerken oder dort, wo insbesondere tiefe Töne geschundene Ohren stören könnten. Denn die Technik ist bei tiefen Schallfrequenzen besonders effektiv. Für die höheren müssen dann eben Ohrstöpsel her. Oder ein anderer passiver Schallschutz.

Eine Frau sitzt schreiend im Bett und hält sich mit dem Kopfkissen die Ohren zu
Diesen "passiven" Schallschutz haben Sie vielleicht schon selbst verwendet. Bildrechte: colourbox

Und wenn Sie es jetzt kaum noch erwarten können, Bahn Lams Frischluftfenstergerät mit aktiver Geräuschunterdrückung in ihr Schlafzimmer einzubauen: Bis es soweit ist können Sie es auch mal mit passivem Lärmschutz aus mitteldeutschen Gefilden probieren. Diese Fenster – einen Besuch beim Hersteller statten wir hier ab – werden bereits in die ganze Republik geliefert und funktionieren wie zwei übereinanderlegte Kippfenster, die versetzt geöffnet werden können. In diesem Sinne: Eine geruhsame Nacht – und in der Zukunft wird ausgeschlafen.

Link zur Studie

Die Studie Active control of broadband sound through the open aperture of a full-sized domestic window erschien am 9. Juli im Journal Scientific Report. DOI: 10.1038/s41598-020-66563-z

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