Botanik Größter Pflanzen-Atlas der Welt kommt aus Leipzig
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29. November 2020, 05:00 Uhr
Johanniskraut kennen fast alle Menschen - allerdings unter 15 verschiedenen Namen. Wenn Wissenschaftler alles Wissen über diese Pflanze zusammentragen wollen, wo fangen sie dann an? Auf jedem Kontinent, in vielen Ländern bekommen sie einen anderen Namen. Wer alles über eine Pflanze wissen möchte, hatte bisher richtig viel Recherchearbeit. Das Problem gibt es nun nicht mehr, sagen Leipziger Forscher. Sie heben die weltweit umfassendste Liste aller bekannten Pflanzenarten veröffentlicht.
Der Botaniker Martin Freiberg war telefonisch in den vergangenen Jahren kaum erreichbar. Auch Journalisten hatten ihre Not, wenn sie mal mit ihm sprechen wollten. Jetzt wissen wir warum.
Wenn ich jetzt sage, dass ich seit 2008 dran gearbeitet habe, dann würde ich schon sagen, dass ich jede Woche zwei Tage damit verbracht habe.
Jede Woche zwei Tage Pflanzennamen vergleichen, aussortieren, hinzufügen. Zwölf Jahre lang, neben seiner Arbeit als Kustos des Botanischen Gartens in Leipzig und Dozent an der Leipziger Universität.
Die Liste ist noch nicht abgeschlossen. Ich arbeite jetzt schon wieder an einem Update, um die letzten zwei Jahre der Literatur drin zu haben. Durch die Liste werden wir sicher auch bald besser in der Lage sein, abzuschätzen, wie viele Gefäßpflanzen es überhaupt auf unserem Planeten gibt.
Gefäßpflanzen können in ihren Gefäßen Wasser und Nährstoffe transportieren. Das sind also fast alle Pflanzen, auch Bäume. Moose sind da ausgenommen, die können das nicht. Und für diese Gefäßpflanzen gibt es 1,3 Millionen Namen. Zwei Drittel sind aber nur Synonyme, sagt Martin Freiberg. Er trägt eine leuchtend orangene Jacke und steht auf einem der vielen schmalen Wege des Botanischen Gartens in Leipzig. Das Kraut auf der Erde vor ihm, umgangssprachlich Leberblümchen, ist durch die Kälte eingegangen. Der Name auf dem Schild indes sei so richtig wie nie zuvor.
Das hieß früher Hepatica transsilvanica und jetzt heißt es eben Anemone Transilvanika. Also die Gattung Hepatika gibt es nicht mehr, die ist komplett aufgelöst. Das ist jetzt alles Anemone.
Das weiß er, aber nicht gleichzeitig alle anderen Forscher auf diesem Globus. Deshalb ist eine für alle zugängliche Liste mit den korrekten Namen sehr wichtig. Der Studienleiter erläutert warum:
Wenn Sie sich vorstellen, ich bin irgendwo auf Kamtschatka als Russe und finde eine Anemone und beschreibe die neu und publiziere die im Jahre 1810: Dann ist das mal publiziert. Jetzt kann aber die gleiche Pflanze auf der anderen Seite in Alaska auch vorkommen. Dann hat das irgendein US-Amerikaner im Jahr 1820 unter einem völlig anderem Namen vielleicht ebenfalls beschrieben. Dann muss es jemanden geben, der sagt, die beiden Sachen sind aber identisch.
Und genau das hat Martin Freiberg nun getan. Der neue Leipziger Pflanzenatlas räumt auf. Alle Namen werden sortiert, abgeglichen und der Art zugeteilt. Und Freiberg sorgt für Erstaunen, denn nun stehen nicht weniger, sondern mehr Arten in dem neuen Atlas - ganze 70.000. Die kommen durch die Recherchen des Botanikers hinzu. In den letzten Jahren las er auch 4.500 Studien, in denen neue Arten erfasst wurden und trug diese in die Liste ein. Das sei grundlegend für Forscher, denn bisher mussten die sich durch das Namenswirrwarr selbst durcharbeiten. Professorin Alexandra Müllner-Riehl leitet an der Leipziger Universität die Arbeitsgruppe molekulare Evolution und Systematik der Pflanzen und nennt ein Beispiel:
Wir haben in der Flora von Java, mit der wir uns beschäftigt haben, mit den Medizinalpflanzen, mit 10.000 Arten gestartet. Wir haben es sehr stark unterschätzt, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt, aus diesen 10.000 Art-Namen die korrekten Namen herauszufiltern. Es hat also fast ein Jahr gedauert in diesem Projekt.
Diese Arbeit hätte man sich mit dem neuen Leipziger Pflanzenkatalog ersparen können. Einfach den Namen eingeben, und eine Suchfunktion ordnet die Pflanze zu. Als Marten Winter von der Liste erfuhr, habe er kaum glauben wollen, dass Martin Freiberg die Namen jahrelang alleine sortiert hat.
Marten Winter leitet am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) das Synthesezentrum. Seit ca. zwei Jahren hilft er bei der Erstellung des Leipziger Pflanzenkatalogs.
Es gab vorher ungefähr eine Viertel Million nicht aufgelöste Artnamen. Also in der Pflanzenliste vorher waren es 244.000 Artnamen, bei denen man nicht wusste, was der korrekte Name ist und wo die herkommen.
Bis auf 60.000 sind alle Artnamen geklärt
Davon sind jetzt nur noch reichlich 60.000 ungeklärt - der Rest ist zugeordnet. Ab dieser Woche steht die Leipziger Liste aller Pflanzenarten im Internet. Einschließlich einem so genannten R-Tool, das sich jeder runterladen kann. Damit kann man in der eigenen Datenbank Namen finden und zuordnen. Nicht nur für Botaniker sei die Liste von Bedeutung. Jeder könnte darin nachschauen, wie eine Pflanze im eigenen Garten tatsächlich heißt. Vor allem aber Mediziner, Artenschützer oder Klimaforscher:
Wenn ich heute mit dem Klimawandel arbeite und ich möchte wissen, meine Anemone blüht im Jahr 2000 Anfang Februar und möchte wissen, wann hat die denn 1810 geblüht, in Kamtschatka? Dann brauche ich das Herbarbeleg (getrocknetes und gepresstes Exemplar der Pflanze, Anm.d.R.) und kann sehen, damals hat die erst im April geblüht, wegen Klimawandel viel später als heute. Aber dafür muss ich wissen, dass ich von der gleichen Pflanze spreche und ich brauche den entsprechenden Namen. Das ist quasi das Rückgrat der ganzen Biologie, dass ich unter dem gleichen Namen auch wirklich das Gleiche verstehe.
Eigentlich sei alles nur reine Sortierarbeit, sagt Martin Freiberg, der mittlerweile vor einem Beet mit Johanniskraut steht. Aber ein Durchbruch für die Forschung.
Es geht rein um die Namen und die Autoren. Das ist der nächste Schritt, dass man die Eigenschaften damit koppelt, die Merkmale, die Beschreibung, die Fotos, die Inhaltsstoffe, die Verbreitung. Aber all das funktioniert nur, wenn ich eine Basis habe, über den Namen.
Nun komme es auf die Fachwelt an, wie der Pflanzenkatalog genutzt wird. Die Leipziger hoffen, dass ihre Stadt damit zur weltweiten Referenz für Pflanzenforscher wird.