Studie zu Jugendsexualität Sex-Aufklärung 2021: Technisch top, inhaltlich flop
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16. Dezember 2021, 13:00 Uhr
Mit Sex ist es wie mit Geld: Man redet nicht drüber. Oder doch? Ist unsere Gesellschaft offener geworden, werden Kinder und Jugendliche heute anders auf Sexualität vorbereitet als frühere Generationen?
"Wahrscheinlich peinlich" heißt der TikTok-Kanal, der bei MDR WISSEN entstanden ist und in dem zwei junge Leute all das erklären, was die wenigsten Heranwachsenden ihre Eltern direkt fragen würden, weil es um Sex geht.
"Phimose. Deine Vorhaut klemmt?", "Drei Tipps fürs Selbermachen" oder "Ständer in der Öffentlichkeit?" Nichts, was man die eigenen Eltern gefragt hätte, die meisten vermutlich auch heute noch nicht tun. Denn hier klafft eine Bildungslücke. Nicht in dem Sinn, dass generell zu wenig bekannt wäre über Sex. Aber in dem Sinn, dass es Dinge gibt, über die offenbar niemand direkt mit den Tweens redet, außer die Jugendlichen untereinander. Aber ist unsere Gesellschaft in Sachen Sex nicht völlig offen?
Für die Studie "PARTNER 5 Jugendsexualität 2021der Hochschule Merseburg in Sachsen-Anhalt wurde unter anderem erfragt, was Jugendliche heute über Sex wissen und woher sie ihr Wissen beziehen. Eines der Ergebnisse: "96 Prozent der Jugendlichen berichten von Sexualaufklärung in der Schule, 72 Prozent hatten dazu mehrfach Angebote. Zwei Drittel, 29 Prozent, nahmen darüber hinaus an Aufklärungsprojekten mit schulexternen Expertinnen teil". So heißt es in der Studie.
Sex: Worüber wir mit Teens schweigen
Die Untersuchung deckt dabei inhaltlich eine Art Schieflage auf: Die Jugendlichen berichteten, dass sie vor allem über "traditionelle" Aufklärungsthemen wie Pubertät und körperliche Entwicklung, Schwangerschaftsvorbeugung und sexuell übertragbare Krankheiten, informiert werden. Knapp die Hälfte der Befragten hatte nach eigenen Angaben auch an Veranstaltungen zu sexueller Gewalt, zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt teilgenommen.
Aber: Der Bereich, in dem Darstellungen von Sexualität jederzeit abrufbar sind, in Medien und Pornografie, fehlte der Befragung zufolge als Thema. Offenbar herrscht an der Stelle Schweigen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen, obwohl es sehr wahrscheinlich ist, dass der Nachwuchs mit Pornos in Berührung kommt, auf eigenen technischen Geräten, in Schulhofpausen und in der Freizeit zusammen mit Freunden.
Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg sagt im Gespräch mit MDR WISSEN, dass beispielsweise knapp 100 Prozent der Jungen Pornografie, und 80 Prozent der Mädchen nutzen. Und er sagt auch: "Wir müssen damit umgehen, und auch gesprächsbereit darüber sein. Zum Beispiel, wenn es um harte Pornografie geht, die Kinder nicht verarbeiten können", sagt der Wissenschaftler.
"Um darüber mit den Jugendlichen zu sprechen, braucht es Medienkompetenz, bei Eltern wie auch Lehrkräften." Dazu müsste beispielsweise auch in der Schule über Pornographie gesprochen werden können, damit Kinder und Jugendlichen einen guten, achtsamen Umgang, Selbstbestimmung lernen könnten, fordert Voß. "Deshalb sind auch die Debatten, wie wir sie jetzt haben, über sexualisierte Gewalt, 'nein heißt nein, und ja heißt ja', durchaus wichtig."
Wie gehen Familien mit Sexualität um?
Nur, wie lernen Erwachsene, Kindern und Jugendlichen ein positives Verständnis von Sexualität zu vermitteln, ohne sich auf Warnungen und Hinweise auf Schwangerschaft oder ansteckende Krankheiten zu beschränken?
Sexuelle Bildung, die zu Mündigkeit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung von Sexualität befähigt, ist zwar Teil des Themenkanons in der Schule und wird dort thematisch angepasst an das Lebensalter der Kinder und Jugendlichen. Theoretisch werden hier die Kinder befähigt, sich mit ihrer eigenen Sexualität auseinanderzusetzen, ihre Gefühle, ihre Empfindungen beschreiben zu können. Doch wer befähigt Eltern, kompetente Ansprechpartner zu sein? Wer vermittelt Eltern, angemessen auf Fragen und Schilderungen des Nachwuchses reagieren, aktiv zuzuhören, nachzufragen, statt zu schweigen oder gar das Thema zu verdammen, wenn Kinder von dem erzählen, was in der Schule besprochen wurde?
Sex: Geht die Gesellschaft heute offener mit dem Thema um?
Man könnte meinen, das alles sei kein Problem. Wir leben schließlich nicht mehr in den 1950er-Jahren, in denen vorehelicher Sex tabu oder Sex ohne Einverständnis als eheliche Pflicht bis 1997 keine Straftat war. Es hat sich also was getan in der Gesellschaft? Aus Sicht von Heinz-Jürgen Voss hat die Gesellschaft in den vergangenen Jahren tatsächliche erhebliche Fortschritte gemacht. Er erinnert an die Debatten seit 2010, als Übergriffe in Internaten beispielsweise öffentlich wurden, er verweist auf die MeToo-Bewegung und Debatten über Gendersternchen. Das sind alles wichtige Momente, sagt der Wissenschaftler: "Es ist wichtig, dass wir dazu im Gespräch sind, denn es führt dazu, dass wir besser miteinander in Kontakt sind."
Denn auch dadurch lernen Kinder und Jugendliche eine Art von Selbstermächtigung, oder wie Wissenschaftler Voß sagt: "Sie lernen sich selbst besser wahrzunehmen, wo Grenzverletzungen stattfinden oder Übergriffe." Also anders gesagt: Kinder lernen, dass sie darüber bestimmen und sich darüber auszudrücken: "Mag ich das, was da jemand mit mir machen möchte, was macht mir Spaß, was macht dem anderen Spaß, was will ich allein, was zusammen mit einem anderen ausprobieren? Ich darf darüber bestimmen, wie mich ein anderer anschauen, anfassen darf." Nicht zuletzt hilft das Kindern und Jugendlichen, sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen, denn sie kennen ihre eigenen Grenzen und haben bestenfalls gelernt und geübt, nein zu sagen.
Ohne die Fähigkeit, über den eigenen Körper zu sprechen, ohne die Übung, sich über eigene (Körper-)Gefühle ausdrücken zu können, entsteht ein leerer Raum, in dem sich Kinder und Jugendliche sprachlos orientieren müssen, oft notgedrungen allein, weil sich Eltern dem Thema Sex entziehen. "Dabei gibt es aber auch Angebote für Eltern", sagt Wissenschaftler Voß, "die sind für Erwachsene durchaus sehr hilfreich und befreiend."
Wachtmeister Dimpfelmoser am 16.12.2021
Ein großer Schritt ist ja jetzt mit dem Selbstbestimmungsgesetz der Grünen und der FDP getan, nach dem jeder ab 14 Jahren selbst festlegen kann, zu welchem Geschlecht man gehört.
Janes am 17.12.2021
Ironie ist der bucklige Verwandte des Sarkasmus! Als ob Menschen sich das aus einer Laune heraus einfach mal so überlegen....