Antarktis-Studie Eis und Einsamkeit machen unser Gehirn kleiner
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05. Dezember 2019, 15:05 Uhr
Auf der deutschen Antarktisstation Neumayer III leben das ganze Jahr über Menschen. Tests haben gezeigt: Für das Gehirn sind gerade die Wintermonate eine herausfordernde Zeit. Vor allem die Isolation ist Schuld.
Eis und Schnee, verhältnismäßig ungemütliche Temperaturen und ein dunkles Firmament, auch tagsüber: In so einer Umgebung kann unser Gehirn merklich herunterfahren und sich messbar verändern. Aber keine Angst: Solange man sich in guter Gesellschaft befindet, ist alles fein. Schwieriger wird's in sozialer Abgeschiedenheit. Denn das ist einer der Hauptgründe, warum sich ein Teil des Hippocampus verkleinern kann. Dieser Teil, für den es nur die lateinische Bezeichnung Gyrus dentatus gibt, ist für das räumliche Denken und zum Festigen von Erinnerungen verantwortlich.
Neun Monate allein in der Antarktis
Extreme Bedingungen vorausgesetzt – so wie in der Antarktis. Dort sind die Sommer kurz und die Winter lang – von Ende Februar bis Anfang November. Eine, sagen wir, kuschelige, Zeit auf der Neumayer-III-Forschungsstation, in der weder Nachschublieferungen, Evakuierungen, noch An- und Abreise möglich sind. Weil das Wetter nicht mitspielt. Nächster Halt in Sachen Zivilisation wäre Südafrika, Kapstadt ist viereinhalb Tausend Kilometer weit weg. Auf Neumayer III gibt's zwar eine Bibliothek, aber kein Theater, keinen Musikclub, kein zivilisatorisches Grundrauschen und gleichzeitig wenig Privatsphäre. Es ist ein Grüppchen Menschen, das da im ewigen Eis "aufeinander hockt". Ideale Umstände also, um zu schauen, was das mit dem menschlichen Gehirn macht.
Forschende an der Berliner Charité und des Max-Planck-Instituts für Bildschungsforschung haben vier Frauen und fünf Männer für 14 Monate auf die deutsche Forschungsstation geschickt, darunter neun Monate, in denen die Probandinnen und Probanden auf sich allein gestellt waren. In Tests vor, während und nach der Mission wurden die Konzentrationsfähigkeit, die Gedächtnisleistung, die Reaktionsfähigkeit und das räumliche Denken überprüft. Außerdem hat das Forschungsteam das Gehirn der Testpersonen vor und nach dem Aufenthalt vermessen, mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass der Gyrus dentatus kleiner wurde. In den Tests haben sich Effekte auf das räumliche Denken und die sogenannte selektive Aufmerksamkeit gezeigt. Die ist notwendig zum Filtern unwichtiger Informationen. Alexander Stahn von der Charité gibt gegenüber der Deutschen Presseagentur aber Entwarnung: "Das Hirn in ist diesen Bereichen wahnsinnig anpassungsfähig. Ich gehe davon aus, dass diese Veränderungen reversibel sind."
Das ist die Neumayer-Station III
- seit 2009 in Betrieb, gehört zum Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven
- steht auf Stelzen und lässt sich anheben: Station kann mit der Schneedecke mitwachsen
- hundert Container auf zwei Ebenen mit Wohn- und Schlafräumen, Hospital, Küche, Messe, Funkraum und Sanitärräumen
- Trinkwasser wird über Schneeschmelze gewonnen
- während des kurzen Sommers bis zu fünfzig Menschen vor Ort
- Kälterekord: -50,2 Grad
Auch wenn die Probandengruppe sehr klein ist: Die Ergebnisse bestätigen vorangegangene Tests mit Tieren und zeigen, dass eine monotone Umgebung und Isolation schädlich fürs Gehirn sind. Und es gibt erstaunliche Parallenen zu einem Ort, der dem der Artkis sehr nahe kommt: Kalt, dunkel und einsam ist's auch im Weltall. Und siehe da: Ganz ähnliche Effekte konnten auch bei Raumfahrern festgestellt werden. Erst dieses Jahr wurden Ergebnisse vorgestellt, dass sich bei längeren Aufenthalten im Weltall bestimmte Hohlräume im Gehirn vergrößeren. Es wird ein Zusammenhang mit dem häufig beobachteten Verlust von Sehrschärfe vermutet. Volumenänderungen des Gehirns im Bereich der grauen Substanz, auch nach einer Mission, haben Mediziner bereits vorher erkannt.
Extrem und wunderschön
Kein Wunder, dass das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt die Studie auf Neumayer III unterstützt. Tim Heitland ist Medizinisch-Logistischer Koordinator der Station und sagt, sie sei "ein extrem geeignetes Analogmodell für die Raumfahrt", das schließt auch Fragen zu Immunsystem und Gruppendynamik mit ein. Denn ein bisschen ist es wirklich wie im Weltraum. Heitland gegenüber der dpa: "Der Ort an sich ist extrem, die Bedingungen sind hart." Dabei sei die Antarktis natürlich auch wunderschön. "Auf der Station kann man sich wohlfühlen, auch wenn es kein Luxushotel ist."
Link zur Studie
Die Studie unter dem Titel "Brain Changes in Response to Long Antarctic Expeditions" ist in The New England Journal of Medicine erschienen.
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | 11. Januar 2019 | 08:53 Uhr