Kunsthalle in Rostock, Frau vor dem Gemälde «Die Ausgezeichnete» von Wolfgang Mattheuer
Das Gemälde "Die Ausgezeichnete" vom DDR-Künstler Wolfgang Mattheuer löste in den Siebzigern eine Debatte um die tatsächliche Gleichberechtigung der Frau aus. Bildrechte: dpa

Sexismus und sexuelle Gewalt in der DDR #MeToo in der DDR: Aufbruch zum Tabubruch

22. August 2023, 12:30 Uhr

Sexismus und sexuelle Gewalt passten nicht in das Gesellschaftbild, das die DDR von sich hatte. Das Land beanspruchte für sich, die Gleichberechtigung vollzogen zu haben. Mutige Frauen sprachen in den 1980er-Jahren diese Tabus dennoch in der Öffentlichkeit an und führten eine brisante Umfrage durch.

152 Umfragebögen, anonym ausgefüllt von Frauen aus der ganzen DDR. "Laut Auskunft der Kriminalpolizei sind sexuelle Delikte sehr selten im Vergleich zu anderen Straftaten. Wir möchten uns einen Überblick darüber verschaffen und bitten um Eure Unterstützung", heißt es über dem einseitigen Fragebogen. Eine 27-jährige Frau antwortet auf die Frage, wurdest du vergewaltigt? "Nein". Gab es eine versuchte Vergewaltigung? "Ja, von zwei Männern, unbekannt". Die Frau begegnete außerdem "drei bis vier Mal" Exhibitionisten. Auch erlebte sie andere Formen sexueller Belästigung: "Permanente Einladungen mit Beschimpfungen bei Ablehnung, tätliches Betatschen." Insgesamt gaben 22 Prozent der Befragten an, vergewaltigt worden zu sein, 72 Prozent schildern andere Formen sexueller Belästigung. Am häufigsten werden dabei genannt: "Anfassen, Betatschen, obszöne Bemerkungen, an den Hintern fassen".

Sexismus und sexuelle Gewalt - Tabuthemen in der DDR

Die Umfrage ist nicht repräsentativ für die gesamte DDR – sie zeigt jedoch: Sexuelle Übergriffe auf Frauen gab es sehr wohl in der DDR. Obwohl es dem Idealbild der friedlichen, sozialistischen Gesellschaft widersprach. Für Vater Staat und Mutter Partei war die Frau emanzipiert – befreit durch die Arbeit und dem Mann gleichgestellt in jeglicher Hinsicht. So stand es seit 1949 in der Verfassung und ab den 70er-Jahren galt die Gleichstellung als erreicht.

Die DDR tat viel, um die Frau in der Öffentlichkeit respektvoll darzustellen: Frauen diskriminierende und sexistische Inhalte wurden zensiert oder nur sehr eingeschränkt gezeigt. Frauen wurden weder als Sexobjekt noch als kapitalistische Ware inszeniert. Sexismus und sexuelle Gewalt gegen Frauen waren Tabuthemen. Weder in der Wissenschaft noch in der medialen Öffentlichkeit spielten sie eine Rolle. Generell galt: Was es nicht geben durfte, das gab es auch nicht.

Nichtstaatliche Frauengruppen brechen das Schweigen

Doch nicht alle Frauen hielten sich an das Tabu. In den 80er-Jahren entstanden die ersten nichtstaatlichen, inoffiziellen Frauengruppen, meist unter dem Schutz der Kirche. Mutige Frauen brachen zum ersten Mal ihr Schweigen und versuchten sogar, das Ausmaß sexueller Gewalt mit einer Umfrage zu erkunden. Hinter der Umfrage steckten Christiane Dietrich und Petra Streit. Sie gründeten 1987 in Weimar eine Frauengruppe und trafen sich in einem Raum unter dem Dach der Herderkirche.

Die Gruppe nannten sie "Frauenteestube" – obwohl sie eigentlich kaum Tee tranken, sondern "mehr Kaffee, Wein und Bier", erinnert sich Petra Streit 30 Jahre später. Der Name sollte "einladend und gemütlich" klingen und Frauen aus Weimar ermutigen, vorbeizuschauen. Hier oben schafften Christiane Dietrich und Petra Streit einen Raum, wo sie auch über sexuelle Gewalt und Sexismus gesprochen haben: "Wir haben eine Halböffentlichkeit gesucht, in der wir uns über solche Themen austauschen konnten", sagt Petra Streit.

Weimar - Herderkirche
Hier in der Herderkirche in Weimar traf sich ab 1987 die Frauenbewegung um Christiane Dietrich und Petra Streit. Bildrechte: Tsungam

Der Frauenkreis um Petra Streit und Christiane Dietrich, aus dem sich die Frauenteestube gründete, entstand schon 1983 aus der Gruppe "Frauen für den Frieden".

Wie ein Mann auf einem Mähdrescher sitzen zu dürfen, war für uns noch nicht die Gleichberechtigung. Wir haben gemerkt, dass es an vielen Ecken und Enden nicht stimmte.

Christiane Dietrich, Mitgründerin der "Frauenteestube" Weimar

Frauenbewegung in der DDR mit der Bürgerrechtlerin Katja Havemann (in der Mitte).
Frauenbewegung in der DDR mit der Bürgerrechtlerin Katja Havemann (in der Mitte). Bildrechte: MDR/WDR/Robert-Havemann-Gesellschaft/Werner Fischer/RHG_Fo_WF_041

Denn auch in den Friedensbewegungen fühlten sich die Frauen nicht gleichberechtigt: "Wir waren zwar alle für den Frieden, aber das große Wort hatten die Männer und die Arbeit haben die Frauen gemacht. Danach haben wir gesagt, so wir machen jetzt unsere eigene Gruppe."

Doch dabei blieb es nicht. Petra Streit und Christiane Dietrich zogen los und hielten in der ganzen DDR Vorträge über Vergewaltigung im Kontext von sexistischem Verhalten gegen Frauen und verteilten im Anschluss ihre Umfragebögen. Denn die offizielle Kriminalstatistik der DDR lieferte nur ein geschöntes Bild über sexuelle Gewalt. Kein ungefährliches Vorhaben. Die Frauengruppe wurde vom Geheimdienst überwacht. An den Treffen nahmen Frauen teil, die der Stasi Berichte lieferten.

Es war ja jede Kritik gegen den Staat unerwünscht und das, was wir zum Thema gemacht haben – Gewalt gegen Frauen – war alleine schon ein Affront gegen die DDR und die verordnete Gleichberechtigung.

Christiane Dietrich, Mitgründerin der "Frauenteestube" Weimar

"Puzzleteil zur Aufarbeitung von sexueller Gewalt in der DDR"

Die 152 beantworteten Fragebögen bilden heute wichtige Zeitdokumente. "Die Umfrage ist sehr wertvoll, weil Frauen in der DDR erstmals mit diesen Fragebögen Zahlenmaterial zum Thema sexuelle Gewalt und Übergriffe erstellt haben - um überhaupt erstmal eine Grundlage zu haben und auch die Dimension zu erfassen", sagt Historikerin Jessica Bock. Sie forscht zu Frauenbewegungen in Ostdeutschland und ist bei ihrer Recherche auf die Dokumente gestoßen. Inzwischen befinden sich diese bei der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin, im Archiv der DDR-Opposition.

Diese Umfrage ist ein Pfund im Archiv, etwas Besonderes, zwar nicht repräsentativ, aber ein gutes Puzzleteil zur Aufarbeitung von sexueller Gewalt gegen Frauen.

Rebecca Hernandez-Garcia, Archivarin in der Robert-Havemann-Gesellschaft

Denn obwohl in der DDR von oben scheinbar alles dafür getan wurde, dass die Frauen gegenüber Männern gleichberechtigt waren, gab es weiterhin männliches Dominanzverhalten, das sich auch in Sexismus und sexueller Gewalt offenbarte. "Der DDR-Staat war an sich ein patriarchaler Staat. Das zeigt sich schon alleine, dass sich in den Machtzentren der DDR hauptsächlich Männer aufgehalten haben", sagt Historikerin Jessica Bock. Frauen waren häufiger als Männern in geringer bezahlten Berufen beschäftigt. Familie und Haushalt blieben Frauensache.

Eine Hausfrau am Herd.
Trotz der diktierten Gleichberechtigung in der DDR, blieb weiterhin für die Hausarbeit meistens die Frau verantwortlich. Bildrechte: dpa

Politische Maßnahmen, wie der Haushaltstag oder die 35-Stunden-Woche, die die Frau entlasten sollten, zementierten die Ungleichheiten eher. "Die Frauenpolitik in der DDR war einseitig ausgelegt, nämlich nur auf die Frauen! Die Männer haben in dieser Gleichstellungspolitik keine Rolle gespielt", sagt Historikerin Jessica Bock. Die Frauen mussten sich also dem Ideal 'Mann' angleichen, als Schweißerin oder Schlosserin arbeiten, Vollzeit arbeiten.

Frauen wurden mit ihrem Schicksal in der DDR allein gelassen

Anders als im Westen waren Frauen im Osten weniger für die Themen Sexismus und sexuelle Gewalt sensibilisiert. "Selbst unter Freundinnen war das Thema sexuelle Gewalt häufig ein Tabu", sagt Gabriele Eßbach aus Leipzig. Sie arbeitete ab 1982 als Krankenschwester auf der Frauenstation für innere Medizin in Leipzig. Dort begegnete sie regelmäßig Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt hatten.

Nur die wenigsten gingen zur Polizei, um eine Anzeige zu erstatten. "Und die, die das gemacht haben, haben es im Nachhinein bereut", sagt Eßbach. Die Befragung – eine reine Tortur. Danach wurde die Anzeige meist eingestellt. Betroffene konnten sich weder an einen Frauennotruf oder an ein Frauenhaus wenden. "Frauen lagen bei uns auf Station, oft nach einem Suizidversuch, weil sie keinen Ausweg mehr aus dieser Gewaltsituation wussten", sagt Eßbach.

Noch zu DDR-Zeiten engagierte sich Gabriele Eßbach in der Leipziger Frauenbewegung. Der Gedanke, dass Frauen auch hier ein Frauenhaus gut gebrauchen könnte, kam schon früh. "Doch es war uns allen klar, dass wir diese Idee niemals umsetzen könnten." Gleich nach der Wende setzte sie die lang gereifte Idee in die Tat um. Am 1. November 1990 eröffnete sie Leipzigs erstes Frauenhaus – die 24 Plätze waren sofort belegt.

Selbst nach der Wende habe sich der Mythos der gleichgestellten, emanzipierten Frau in der DDR gehalten, die weder von Sexismus noch von sexueller Gewalt betroffen gewesen sei, so Gabriele Eßbach. Diese Themen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, genau darum ging es Christiane Dietrich, Petra Streit und der Weimarer Frauenteestube. Eine Debatte anzustoßen, wie wir sie auch heute wieder – Jahrzehnte später – führen. Doch auch heute gehört für die Frauen immer noch viel Mut dazu.

Über dieses Thema berichtet der MDR auch im TV: 25.11.2019 | 17:45 Uhr

Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2017.

Mehr zum Thema