Porträt von Klaudia Wick
Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Barbara Dietl

Ein Geschenk-Papier von Klaudia Wick Metameta! - 20 Jahre Altpapier

06. November 2020, 10:39 Uhr

Als das Altpapier rauskam, war ich gerade weg. Ich hatte die Chefredaktion der taz 1999 freiwillig verlassen und mich gerade als Fernsehkritikerin selbstständig gemacht. "Fernseh-was?" fragten die Leute, mit denen ich bis dahin in den üblichen Diskussionsrunden der üblichen Mediengipfel über die üblichen Zukunftsfragen von "Papier" und "Funk" über die Zukunft der Medien schwadroniert hatte. Praktisch ALLE gaben mir den Rat, doch wenigstens "Medienkritikerin" auf meine Visitenkarte zu schreiben.

In der Rangfolge rangierte nach Meinung dieser Leitenden Journalist.innen "Medienkritik" zwar weit hinter Chefredakteurin, klang aber immer noch besser als Fernsehkritikerin. Fernsehkritiken schrieb man doch nur, so lange man noch nicht vom Feuilletonressort "Kino" entdeckt worden war. Später schrieb man übrigens aus dem gleichen Grund über US-Serien, die keiner in Deutschland sehen konnte. Noch später machten das dann absurderweise die Literaturautor.innen, die dann natürlich – wen wundert‘s? - in der HBO-The Wire den "Balzac unserer Zeit" erkannten. Serien mussten theoriefähig sein. Fernsehen durfte das nicht. Für mich als Fernsehkritikerin war aber die Sendung das, was das Buch für die Literaturkritiker.in oder ein Theaterstück für die Theaterkritiker.in: Es ist mein Gegenstand – theoretisch wie praktisch.

Als Chefredakteurin der taz hatte ich – von ein paar Editorials abgesehen – nur noch schreiben lassen. Die VG Wort fragte schon, ob ich überhaupt noch .... ? Kurz: Ich wollte zurück in den Journalismus, zu meiner Ausbildung und zu meinem Fachgebiet. Ich wollte über Fernsehen schreiben. Basta. Und wenn ich mit dieser Entscheidung von "ganz oben" in der journalistischen Hierarchie nach ganz unten gefallen sein sollte – auch egal. 

Natürlich war ich auch für das Altpapier, das ein ehemaliger taz-Kollege miterfunden hatte, mit meinem Gegenstand "ganz unten" angekommen. Einzelkritiken wie ich sie schrieb, fanden, wenn überhaupt, nur ganz am Ende in der Sammelrubrik Altpapierkorb statt. Dort namentlich genannt zu werden, war eher selten. Und weil die Berliner Zeitung keine vernünftige Online-Strategie hatte, waren ausgerechnet meine "wichtigen" Texte nicht online. Die Autor.innen des Altpapier erwähnten solche Texte, die noch auf Papier ausgeliefert wurden, nur mit Abscheu.

Okay, ich gebe zu, dass ich oft morgens ins Altpapier reingeschaut habe, um zu sehen, ob ich drin war. Gibt es etwas Selbstreferentielleres als ein Watchblog über Medien?

Der "Gegenstand", über den ich 20 Jahre lang nachgedacht und geschrieben habe und den ich heute im Museum in der Sammlung Fernsehen "kuratiere", hat seit der Gründung des Altpapiers mehr an Bedeutung verloren als das Medium als Institution. Wer sich mit den TV-Inhalten beschäftigt, wird meiner Beobachtung nach heute noch mitleidiger angesehen als vor 20 Jahren. Es ist fast so, als ginge es inzwischen mehr um den Apparat als um das, was er produziert. Wann genau ist nochmal der Satz "Ich gucke gar kein Fernsehen mehr, nur Netflix-Serien." in Mode gekommen? An dieser Behauptung stimmt ja letztlich gar nichts. Denn meist folgt ihm eine lange Aufzählung von Sendungen, die die Sprecher.innen "schon lange nicht mehr schauen" (kundig garniert mit Beispielen aus der letzten Woche), dann werden alle Tagesschau-Apps und Sondersendungen über Corona oder Trump von diesem "schon lange nicht mehr" souverän ausgeschlossen und schließlich ist ja sowieso höchst fragwürdig, wohin eine Netflix-Serie in den alten Schubladen eigentlich gehört: Fernsehen? Kino? VoD?

Ach, habe ich das eigentlich schon erwähnt? Seit sechs Jahren habe ich aufgehört, Fernsehkritikerin zu sein. Denn die Fernsehkritik hat ja auch leider weitgehend aufgehört zu sein. Mir fiel es erstmals auf, als die SZ anfing, Edgar Selge über den Polizeiruf schreiben zu lassen, den er selbst als Hauptdarsteller drehte. Gerade auf den Medienseiten wurde immer wichtiger, WER schrieb, statt worüber oder gar was er oder sie schreibt. Das mag für Abo- und Klickzahlen passen, für mich passte es nicht. Ich arbeite jetzt im Museum für Film und Fernsehen, das bei Lichte betrachtet ein Museum für Film ist, das sich unter anderen Fachkräften auch eine Fernsehexpertin leistet. In dieser Welt ist Babylon Berlin Kino, weil die Serie von Tom Tykwer gedreht wurde, und alles andere, was Netflix zeigt, ist das "bessere Fernsehen". Mich interessiert weiterhin die Beschreibung, was genau daran besser ist.

Keine Sorge! Ich hadere nicht mit meiner Entscheidung, mich seinerzeit "ganz unten" eingruppiert zu haben. Die Medienkritik ist schon deshalb so schwierig zu fassen, weil sie sich ja einen Gegenstand zweiter Ordnung wählen muss: Worüber Medienkritiker.innen schreiben, ist bereits medial verarbeitet, also eine Metaebene. Darauf setzen wir dann noch eine weitere Reflexionsebene drauf. Im Kellerressort "Fernsehkritik" heißt das: Der Fernsehfilm über Kindesentfremdung ist schon eine Bearbeitung des Themas Kindesentfremdung. Die Kritik über den Fernsehfilm über Kindesentfremdung ist also metameta. Worüber also schreiben? Über das Thema, die Machart, den Sendeplatz, die Senderstrategie, die Huckepackdoku, das Konkurrenzprogramm...? Oder dann doch gleich über Balzac?

So wie Türme aus Steinen gebaut werden, entsteht das Medium Fernsehen aus Sendungen, Print aus Texten und Netflix aus Filmen, für die man nicht ins Kino gehen muss. Mir ist es erstmal komplett wurscht, wie diese Texte, Filme, Sendungen zu mir kommen. Mich interessiert in erster Linie der einzelne Stein und nicht der Turm. Oder anders gefragt: Wie lange wird wohl das Grimme-Institut die Aufteilung in Grimme-Preis und Grimme Online Award aufrecht erhalten können? 

Im Museum für Film und Fernsehen versammeln wir "das bessere Fernsehen". In der Sammlung, die ich kuratiere, stehen derzeit rund 11.000 Sendungen zur Sichtung bereit. Die Auswahl folgt natürlich Metakriterien, aber die Besucher.innen schauen sich zunächst einmal die einzelne Sendung an. Sie ist der Gegenstand. Und je länger die Ausstrahlung her ist, desto weniger beschwert sich die Sendung mit dem medialen Kontext. Es wird wieder wichtiger, was zu sehen ist. Mir gefällt das.

Einen Stockwerk über der Mediathek ist das Pressearchiv beheimatet. Seite für Seite, heute pdf für pdf lassen sich dort zu historischen Sendungen Fernsehkritiken, Künstlerportraits, Medienreflexionen einsehen. Wer die historischen Texte liest, spürt sofort, wie sich die Autor.innen bemüht haben, den Zeitgeist zu bedienen und gleichzeitig auf der Metaebene zu reflektieren. Nicht immer gelingt diese komplexe Übung, was sich bekanntermaßen oft erst hinterher erkennen lässt. Es sind trotzdem wertvolle Dokumente, die einen längst vergangenen Fernsehbetrieb beschreiben, der sein jeweils eigenes Fernsehwerk hervorgebracht hat. Auch ein paar meiner Kritiken finden sich dort und warten darauf, der Nachwelt ein Zeichen zu geben.


Unsere Gastautorin: Klaudia Wick ist seit 2015 Leiterin der Abteilung AV-Erbe in der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen. Zuvor arbeitete sie lange als freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Fernsehkritik.

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