Teasergrafik Altpapier vom 23. Juli 2019: Eine blaue Krake schneidet mit einem Küchenmesser einer anderen Krake die Arme ab. Die Kraken stehen symbolisch für Datenkraken.
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Das Altpapier am 23. Juli 2019 Hacken Datenkraken einander Arme ab?

Jedenfalls kritisiert Netflix in "The Great Hack" Facebook. Und dass ägyptische Filmemacher auf den Westen blicken, macht die Sache noch interessanter. Facepalm hat nix mit Facebook zu tun, ist aber auch nicht ungefährlich. Gesichtserkennung geht immer besser. Außerdem: Ist "Kurz & Kickl" ein neuer Spotify-Podcast? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Perspektivwechsel, also auf bekannte Gegenstände aus einer individuell weniger bekannten Blickrichtung zu blicken, sind oft aufschlussreich. Auch das Interview, das die FAS-Medienseite mit "dem bekanntesten satirischen Twitterer der arabischen Welt", @karlremarks, führte und das nun frei online steht, ist es.

Der Libanese sagt z.B. etwas zur im deutschen Mainstream aufgebrandeten Kritik an einer "Karikaturistin, die auch Cartoons von verschleierten Frauen gezeichnet hat", also Emma-Zeichnerin Franziska Becker (Altpapier): "Ich finde, es sollten immer zwei Fragen gestellt werden, wenn es ... um solche Karikaturen geht. Erstens: Haben die Leute das Recht, so etwas zu tun? Und zweitens: Macht sie das immun für Kritik? Die Antwort auf die erste Frage lautet ja,  die auf die zweite offenkundig nein. In Europa gibt es aber die Tendenz, sich nicht klar für Meinungsfreiheit einzusetzen."

Dass Europa das, was es anderswo immer engagiert einzufordern bereit ist, daheim nur noch wählerisch einlöst, ist ReMarks' Haupt-Botschaft:

"... dass viele Leute im Westen, die uns im Nahen Osten über Demokratie und Menschenrechte und so weiter belehrt haben, selbst nicht wirklich an Demokratie glauben. Sondern jetzt Dinge sagen wie: Das Brexit-Ergebnis gab es nur, weil Russland eingegriffen hat oder weil manche Leute dumm sind und auf bestimmte Slogans hereingefallen sind."

Aber ist denn nicht nachgewiesen, dass Russen ..? Womöglich neigt man beim Blicken auf ganze Kontinente oder Gemeinschaften unterschiedlicher Staaten zum Pauschalisieren. Oder kommt überhaupt nicht drumrum.

Netflix' Doku über Facebooks Skandal

Zufällig ist tagesaktuell noch ein Blick arabischsprachiger Medienmacher auf den Westen (der aus diesem Blickwinkel kein "sogenannt" davor braucht, obwohl er, von innen gesehen, erodiert ...) Thema. Ab morgen hierzulande auf Netflix zu sehen ist der Dokumentarfilm "The Great Hack – Cambridge Analyticas großer Hack". Und wer im dröhnenden Trailer auf Netflix' deutschsprachigem Youtube-Kanal "von den für einen Oscar nominierten Filmemachern von 'The Square'" liest, sollte nicht an den schwedischen Spielfilm denken, sondern an einen ägyptischen Dokumentarfilm über die 2011 vielbeachteten Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo. (Die Unsitte, dass alle Filme nur noch unter ihren englischen Weltmarkt-Titeln laufen, hat nicht nur Vorteile ...)

"The Great Hack" von der Ägypterin Jehane Noujaim und ihrem Landsmann Karim Amer wird heute auf zwei deutschen Medienseiten ausführlich besprochen. Oliver Jungen nennt den "mitunter zu Spielfilmästhetik neigenden Film" in der FAZ (noch nicht frei online) "eine engagierte Dokumentation, ein Statement für einen verantwortlicheren Umgang mit privaten Userdaten". Kurt Sagatz sieht's im Tagesspiegel ähnlich. Wobei für Filmkritik wenig Raum bleibt. Vor allem muss noch mal erklärt werden, was der Cambridge Analytica/ Facebook-Skandal war bzw. ist:

"Der Trick bei der Trump-Kampagne von 2016 mit dem Projektnamen Alamo bestand darin, die sogenannten Überzeugbaren in den Swing States so mit Blogs, Webseiten, Artikeln, Videos und Anzeigen auf allen verfügbaren Plattformen und zuvorderst auf Facebook zu bombardieren, dass sie bei der Wahl die gewünschte Reaktion zeigten. Am Ende entschieden 70:000 Wähler in drei Staaten den Ausgang der US-Wahl von 2016",

schreibt Sagatz und ergänzt: "Wie so etwas funktioniert, hatte die CA-Mutter SCL zuvor mit Info-Kriegen in Thailand, Trinidad, Indien, Südafrika, aber auch in der Ukraine und Italien gezeigt, heißt es in der Doku." Allerdings: Ist Netflix denn publizistisch vertrauenswürdig? Um ein Unternehmen des kalifornischen Plattformjournalismus, das unglaubliche Mengen Daten saugt, um einerseits seinen Kunden immer noch relevantere Filme anbieten zu können, und andererseits – wer weiß ..., handelt es sich ja ebenfalls. "Firmen wie Netflix, die Profile ihrer Abonnenten aufbauen, werden einen unglaublichen Einblick in die Persönlichkeit ihrer Nutzer bekommen", sagte schon 2017 der damalige Cambridge Analytica-Chef Alexander Nix in einem FAZ-Interview (Altpapier).

Das ist FAZ-Autor Jungen natürlich bewusst. Sehr feuilletonistisch schließt seine Rezension:

"Man muss es nicht gleich ein Kreter-Paradox nennen ('Alle Kreter lügen, sagt Epimenides, der Kreter'), dass die Dokumentation für Netflix entstanden ist, schließlich ist Netflix mehr Streaming-Plattform als soziales Netzwerk. Aber Big Data spielt für den Anbieter eine große Rolle. ... ... Die Frage ist nicht, ob wir uns in den Käfigen, die Algorithmen für jeden von uns Endverbrauchern schmieden, irgendwann eingesperrt vorkommen, sondern ob wir dann noch die Kraft haben werden, sie aufzubrechen."

Werbegeld von Volksparteien & eigene Wasserzeichen auf Fotos

Jedenfalls, Facebook (I): Das Narrativ, dass Werbung dort Wahlen entscheiden kann, sitzt – auch in den Köpfen der Entscheider deutscher Volksparteien, denen ja auch wieder enge Wahlen bevorstehen. Zumindest gab Joachim Steinhöfel bekannt, dass CDU, SPD und auch CSU "massiv bei Facebook werben". Bzw.: Bekannt gab der umstrittene und streitbare Rechtsanwalt seinen Anwalts-Coup, dass er offenbar Kontopfändungen bei Konten von CDU und SPD vornehmen lassen konnte, da diese Parteien bei Facebook würben, das ihm, Steinhöfel, in zwei Fällen noch nicht erstattete Gerichtskosten schuldig sei (meedia.de). Die pfiffige Idee, die Groko-Parteien in die Sache zu ziehen, ersann Steinhöfel wegen des NetzDGs, das seiner Ansicht nach "für die erratischen Eingriffe von Facebook in die Meinungsfreiheit mitverantwortlich" sei.

Jedenfalls, Facebook (II): Der in sämtliche denk- und bezahlbaren Richtungen ausbeut- bzw. -wertbare Meta-Datenschatz des Konzerns wächst nicht nur mit jedem weiterem Like, jeder Instagram-Interaktion und jeder Whatsapp-Botschaft laufend weiter. Sondern wuchs schon seit Jahren noch umfassender, als viele Kritiker ahnten. Dass Facebook "auch alle Fotos, die Nutzer hochladen, mit einem digitalen Wasserzeichen versieht" und sie daher auch dann, wenn sie später von anderen Nutzern, womöglich bearbeitet, "an einem anderen Ort im Netz" wiederveröffentlicht werden, sofort erkennt, ging gerade als zumindest relative Neuigkeit durchs Netz, wie Simon Hurtz bei sueddeutsche.de zusammenfasst.

Facebook-Sprecher beteuern wie immer, dass das nicht dem Tracking dienen würde, sondern "um unserem Sicherheitsteam zu helfen, Missbrauch zu verhindern" und Fakes "automatisch zu löschen" und so was. Hurtz hält sich nicht mehr lange mit der Frage auf, ob solche Worthülsen Spuren von Glaubwürdigkeit enthalten und ob dieses Facebook-Foto-Problem im schnelllebigen Netz schon mal bekannt gewesen war. Sondern gibt Nutzern den guten, durch eine hübsche Anekdote um John McAfee verbildlichten Rat, Foto-Daten am besten immer zu entfernen, bevor sie Fotos irgendwo hochladen bzw. mit der Welt und den jeweiligen Datenkraken "teilen" ...

Geht immer besser: Gesichtserkennung

Jetzt eine gute Nachricht: Facepalm, "die derzeit beliebteste Spielerei auf den Smartphones der Welt", gehört nicht zu Facebook. Offenbar wurde auf "Face"-Komposita noch kein Copyright durchgesetzt. Vielmehr nennt faceapp.com/terms eine Anschrift in: "Saint-Petersburg, 198096, Russia". Huch!

Dass die in diese App zwecks lustiger oder aufschlussreicher Alters-Spielereien raufgeladenen Fotos "nicht auf dem Handy" "bleiben" und nicht bloß ins sonnige Kalifornien, sondern nach Russland gehen, "löste vergangene Woche Panik aus", notierte Jannis Brühl gestern in einem Kommentar auf der SZ-Meinungsseite. Doch sei diese Panik eher unbegründet bzw. ubiquitär. Wer, der ständig über sein sog. Smartphone wischt, kann sich schon um eine einzelne AGB kümmern. Das "wahre Problem", dass "aus Gesichtserkennungs-Technik ... derzeit die nächste Stufe der Überwachungsgesellschaft gebaut" werde, fasst Brühl in eindrückliche Worte, am eindrücklichsten am Ende:

"Den Bürgern sollte der Fall FaceApp bewusst machen: Ihr Gesicht, der Spiegel ihrer Individualität, ist für andere lediglich ein Rohstoff."

Wozu die aktuelle netzpolitik.org-Nachricht passt, dass die Europäische Union unter dem Kürzel "Prüm.ng" (was für "Next Generation Prüm", das Update eines einst im rheinland-pfälzischen Städtchen Prüm geschlossenen Vertrags) den EU-weiten "Abgleich biometrischer Daten deutlich erleichtern" will. Dazu habe die Kommission, noch vor Antritt der als Berater-freundlich bekannten neuen Präsidentin, das Beratungsunternehmen Deloitte mit einer Machbarkeitsstudie beauftragt. Und was naturgemäß zur Biometrie zählt, ist das eben angesprochene Thema:

"Um 'Next Generation Prüm' auf Gesichtserkennung auszuweiten, existiert eine vierte Fokusgruppe unter Leitung Österreichs. An ihr nimmt auch das BKA teil, das dort seine Erfahrungen aus deutschen Projekten einbringen kann ..."

Dass einerseits im Internet und überhaupt ohne grenzüberschreitende Regelungen nichts sinnvoll funktioniert, während andererseits inzwischen auch innerhalb der EU sehr unterschiedliche Ansichten über so gut wie alles herrschen, was automatisierten Datenaustausch über Staatsgrenzen hinweg zu einem komplexen Thema macht, wurde in diesem Altpapier kürzlich angesprochen.

Sittengemälde aus Österreich

Rasch noch ein Blick nach Österreich. Hinter dem attraktiv-knackigen Titel "Kurz & Kickl" steckt keine neue DAZN-Talkrunde und auch kein Spotify-Podcast. Sondern bloß ein neues Buch.

Geschrieben hat es Helmut Brandstätter, derzeit Herausgeber der österreichischen Tageszeitung Kurier (und einst Chef des damals noch nicht zur RTL-Gruppe zählenden deutschen Nachrichtensenders n-tv). Doch "es liest sich nicht so, als ob Brandstätter noch lange 'Kurier'-Herausgeber bleiben würde", meint die ebenfalls österreichische Tageszeitung Standard im Rahmen einer ausgiebigen Inhaltsangabe.

Inhaltlich geht es um Sebastian Kurz (ÖVP) und Herbert Kickl (FPÖ), die eine Zeitlang gemeinsam in einer österreichischen Koalitions-Regierung regierten, und um "ihren Umgang mit Medien". Brandstätter hatte seinen Chefredakteurs-Posten beim Kurier 2018 offenbar auf Kurz' Wunsch verloren. Die Besprechung mit ihren üppigen Zitaten aus dem Buch (".. Ich habe beides gespürt. Zunächst einen durchaus werbenden Sebastian Kurz, der gerne anrief, Treffen vereinbaren ließ, Standpunkte testete. Gleichzeitig liefen Beschwerden bei den Eigentümern ein. 'Ich habe niemanden angerufen', erklärte er mir regelmäßig, wenn ich ihn auf Interventionen ansprach ..."), die der Standard spürbar gern bringt, als kleines Sittengemälde zu lesen lohnt sich.

Seinen Herausgeber-Posten beim Kurier setzte Brandstätter offenbar auch nicht aufs Spiel, ohne was Neues in petto zu haben: Er werde "als prominenter Überraschungskandidat der Neos", einer weiteren Partei, "für die Nationalratswahl gehandelt", meint der Standard. Und Journalisten, die direkt in die Politik gehen, statt sie mittelbar machen zu sollen (oder zu machen), sind sicher eine Bereicherung.

Altpapierkorb ("Zwangsbeitrag", Treuhand, "Verfolgen statt nur löschen", "Obsoleszenz durch Software", "Artikel 5", Silvester 19/20)

+++ Die nächste Rundfunkbeitrags-Debatten-Saison geht los und wird heftig werden. "Zwangsbeitrag" heißt, durchaus verspielt, die Michael-Hanfeld-Glosse heute auf der FAZ-Medienseite, an dessen Ende der FAZ-Redakteur "Tagesthemen"-Kommentatorin Kristin Joachim jedoch zu einer Bahnfahrt nach Berlin einlädt, oder so.

+++ Ferner empfiehlt die FAZ ausführlich die heutige rundfunkbeitragsfinanzierte Arte/MDR-Doku über die Treuhandanstalt von u.a. ihrer Sonntagszeitungs-Autorin Inge Kloepfer (Altpapier gestern). "Dass die Autoren dafür Ex-Treuhand-Chefin Birgit Breuel gewannen, ist ein Coup".

+++ Unter den der politisch motivierten Hassrede im Internet Beschuldigten, die beim medienanstaltlich-staatsanwaltlichen Gemeinschaftsprojekt "Verfolgen statt nur löschen" in Nordhrein-Westfalen ermittelt werden, "seien mehr Männer als Frauen, 'aber mehr Frauen als ich gedacht hätte'", sagte der zuständige Staatsanwalt der dpa (heise.de).

+++ Damals, die nun stolze 50 Jahre alte gedruckte Geschichtszeitschrift aus Leinfeld-Echterdingen, "ist zwar klein, aber es wird nicht kleiner" und macht kaum etwas im Internet. Denn: "Wer sich für Geschichte interessiere, suche eben nicht die schnelle Information, sagt [Chefredakteur Stefan] Bergmann, sondern ein Leseerlebnis". Steht im Zeitschriften-Porträt der SZ.

+++ "Obsoleszenz durch Software ... kann auf alle von Software abhängigen Güter übergreifen. Vor diesem Hintergrund muss die Vision eines 'Internet der Dinge' bedenklich stimmen, weil damit eine wachsende Zahl von Gebrauchsgütern faktisch zu Peripheriegeräten eingebetteter Prozessoren wird": Dass Digitaltechnik auf sehr vielen Ebenen umweltschädlich ist, bis hin zur Tatsache, dass "das Internet ... ein Katalysator für den Preiskampf im Billigflugsektor" ist, schreibt der Zürcher Informatiker Lorenz Hilty in einem netzpolitik.org-Gastbeitrag.

+++ Es bleibt richtig und wichtig, auch banale bis schlechte Fernsehsendungen zu beschreiben. Beweist die Tagesspiegel-Kritik der heutigen, heißt es: Doku? im ZDF ("Vom Hollywoodstar, fährt er dramatisch fort, 'wird sie zur vielumjubelten Landesmutter', (noch dramatischere Kunstpause) 'die viel zu früh', (noch mehr Geigen) 'aus dem Leben scheidet' (so richtig dramatische Kunstpause). Das Fürstentum, sagt sodann ein Experte mit hippem Vollbart, 'fiel wie ein Kartenhaus' in sich zusammen. 'Doch ihre Enkel', beruhigt Brad Pitt, 'machen Monaco wieder zu einem Ort, auf den die Welt schaut'...").

+++ "Online-Mediatheken der klassischen Fernsehsender" lägen beim Onlinevideo-Gucken "gleichauf in der Beliebtheit" mit Youtube, und "als Abspielplattform hat das Smartphone mittlerweile fast gleichgezogen mit dem Fernseher", hat die Bitkom, einer der großen Digitalwirtschafts-Verbände, rausgefunden.

+++ Micky Beisenherz bezeichnet sich nicht nur als "multimedialen Gemischtwarenladen", sondern bietet mit der Online-Videoshow "Artikel 5" auch einen an: "Die neue Polit-Comedyshow läuft zuerst beim Fernsehangebot Magenta TV der Deutschen Telekom und ist später bei Youtube, Amazon Prime Video und Pantaflix abrufbar." Man könne dabei "die Formatentwicklung quasi live miterleben", weil Beisenherz aus Fehlern lerne und spätere Folgen sozusagen weniger schlecht seien als frühere, schreibt (online derzeit nicht genannt) Altpapier-Autorin Nora Frerichmann in epd medien.

+++ Und wenn die ARD demnächst verschärfte Sparbemühungen nachweisen müssen wird, kann sie auf "Die Silvestershow" 2019/20 verweisen, die bereits im November vor-produziert werden soll. Vermutlich bekommen Jörg Pilawa und all die anderen Künstler dann ja etwas niedrigere Honorare, was die Beitragszahler entlasten wird (dwdl.de).

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.