Teasergrafik Altpapier vom 3. Januar 2020: Wegweiser mit Fakten und Mythen - über Fakten ist ein kleineres Schild auf dem steht: zu spät
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Das Altpapier am 3. Januar 2020 Wenn Fakten zu spät kommen, um ein Narrativ aufzuhalten

03. Januar 2020, 12:30 Uhr

Warum meint Armin Laschet, Hanns-Joachim Friedrichs zitieren zu müsse? Wie ist es ein Jahr nach dem Amtsantritt Jair Bolsonaros um die Medien in Brasilien bestellt? Was geschah in Connewitz? Ein Altpapier von René Martens.

Im gestrigen Altpapier über die Umweltsau-Sache und das "schlechte Krisenmanagement der Geschäftsleitung" (WDR-Redakteursvertretung im Intranet des Senders) haben wir die Reaktionen diverser Politiker, nicht zuletzt aus Platzgründen, erst einmal ausgeblendet.

Das geht spätestens jetzt aber nicht mehr, denn Armin Laschet durfte für Die Zeit in die Tasten hauen. In der am Donnerstag erschienenen aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung liefert der nordrhein-westfälische Ministerpräsident aber leider keineswegs eine "sachgerechte", also "bei den Gattungen von Kinderlied und Parodie ansetzende Textinterpretation" (Patrick Bahners), sondern schweift raunend vom Thema ab. Er schreibt zum Beispiel:

"Wer politischen Diskurs als Konfrontation eskaliert, spielt ungewollt denen in die Hände, die unsere Gesellschaft ohnehin spalten wollen."

Der phrasenschweinöseste Textbaustein der Stunde ("Gesellschaft spalten") muss natürlich unbedingt untergebracht werden. Abgesehen davon: Was spricht eigentlich gegen Konfrontationen? Kann es überhaupt einen konfrontationsfreien politischen Diskurs geben? Zugegeben: Jetzt bin ich auch abgedriftet, denn diese Fragen drängen sich um Zusammenhang mit "Meine Oma ist ne Umweltsau" eigentlich eher nicht auf…

Am Ende kramt Laschet dann auch noch das meistmissverstandene Zitat aus dem Bereich der vermeintlichen Journalismusregeln aus dem Zettelkasten, also natürlich das von Hanns-Joachim Friedrichs (ich übernehme mal die Zitierweise des Ministerpräsidenten):

"Distanz halten, sich nicht gemeinmachen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken (...). Nur so schaffst du es, dass die Zuschauer dir vertrauen (...)."

Hanns-Joachim Friedrichs hat - diese These würde ich jetzt mal riskieren - im Fernsehen keine Lieder gesungen, weder Kinderlieder noch Parodien von Kinderliedern. Man könnte auch sagen: Ein Lied ist ein Lied ist ein Lied - und kein Journalismus.

Laschet kann übrigens nicht nur Medienkritik, sondern auch Musikkritik. Spiegel Online schreibt:

"Als er das Video des Kinderchors zum ersten Mal sah, erzählte Laschet am Telefon, habe er gedacht: 'Wie kann man nur?' Die Kinder hätten 'sehr pointiert' gesungen, das habe ihn 'erschreckt'."

Falls sich Armin Laschet im Kino oder auf einem Ausspielgerät seiner Wahl mal einen Spielfilm anschauen sollte, in dem Kinder Sätze sprechen, die Erwachsene ins Drehbuch geschrieben haben - dann gnade uns Gott!

Das Thema Omalied-bedingte Demonstrationen haben wir gestern nur kurz angerissen, aber es wird uns erhalten bleiben. Fürs Wochenende haben Hooligans und Neonazis gleich zu mehreren Demonstrationen und Kundgebungen in Köln aufgerufen, die unter anderem vor dem WDR-Gebäude stattfinden sollen. Und für eine Demo in Baden-Baden vor dem SWR trommelt, wie der Landesbezirk von Verdi in Baden-Württemberg meldet, ein AfD-Mann.

Als Trost, um es mal sarkastisch zu wenden, bleibt uns ein schneller Tweet, den die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl vor ein paar Tagen abgesetzt hat: Was rund um den WDR "gerade abgeht", sei "btw bald das new normal". Ähnlich wie auf das "Prinzip Trump" werde man auf mehr und Begebenheiten nur noch mit "Fassungslosigkeit" reagieren können. Um es zu paraphrasieren: Wir sollten uns schon mal daran gewöhnen, dass Idiotisch das neue Normal ist.

Der Journalismus und die Clowns

Mit dem Stichwort Trump hätten wir dann einen Übergang gefunden zu einem Essay, das Torsten Körner für die Medienkorrespondenz über den Typus des "Politclowns" bzw. "Clownspolitikers" geschrieben hat, also "Figuren wie Donald Trump und Boris Johnson":

"Der Politclown ist ein Symptom des kommunikativen Burn-outs der politischen Klasse. Charismatiker sind keine in Sicht, Technokraten wollen die Wähler nicht mehr sehen, also betritt der Clown als Charismatiker-Ersatz die Arena (…). Der Clown inszeniert sich als Turbo-Heiler, der die normale Betriebsgeschwindigkeit der Demokratie aufhebt, und verspricht, seine Eigenzeit zum Zeitmaß des Gelingens zu machen. Die Show bin ich, lasst mich hier rein! Der Bürger, versprechenstodmüde, konsensgequält, wählt den Clown als Instant-Pharmakon, er ist die Pille, die man schluckt, die süße Momentmedizin. Die Massenmedien, auch in Moment-Taktung, beliefern die Clowns, nolens volens, mit Treibstoff."

Körner leitet daraus eine Forderung ab:

"Stärker als bisher müsste der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seinen politischen Formaten, Reportagen, Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen die Mediatisierung der Politik analysieren, anstatt sie selbst zu betreiben. Zu dieser basalen Pflicht- und Selbstverständigungsaufgabe gehörte die Förderung sozialer Praktiken, die den Bürger immunisieren gegen Clownspolitiker und die Monumentalisierung des Moments. Wo wir dem Allzeit-Diktat des Moments gehorchen, dort wächst die Gefahr, dass wir den Politikclowns auf den Leim gehen, weil wir Politik nur noch als Bestandteil der kurzatmigen Eventkultur begreifen, in der Leute wie Donald Trump und Boris Johnson sich als Manager des Augenblicksglücks gerieren."

Es ist, um den heute schon angeklungenen etwas fatalistischen Tonfall beizubehalten, aber zu befürchten, dass viele - auch öffentlich-rechtliche - Journalisten sich als Teil einer "Eventkultur" im weiteren Sinne verstehen - und zumindest in diesem Sinne dann doch Verbündete der Clowns bleiben wollen.

Bolsonaro gegen die "Hyänen"-Presse

Einen Blick in ein Land, in dem vieles von dem umgesetzt ist, was den Demonstranten vorschwebt, die am Wochenende gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufmarschieren (siehe oben), wirft aktuell Übermedien: Niklas Franzen berichtet aus Brasilien - er fragt, wie es nach einem Jahr unter Bolsonaro "um die Medien im größten Land Lateinamerikas" bestellt ist:

"Die Fakt-Checking-Seite Aos Fatos hat zwischen 1. Januar und 11. Oktober 162 Angriffe von Bolsonaro auf Journalist*innen und Medien gezählt. Im gleichen Zeitraum verteidigte der Präsident nur 18 Mal die Pressefreiheit. Bolsonaro bezeichnete 'einen Großteil der Medien' als 'unsere Feinde'. Ein anderes Mal erklärte er, dass ein kritischer Journalist "'eigentlich verhaftet werden müsste.' Ende Dezember sagte er Journalist*innen, die sich nach Ermittlungen gegen seinen Sohn Flávio erkundigen wollten, dass sie 'still sein' sollen, und einem Reporter, dass er aussehe wie ein 'schrecklicher Homosexueller'."

Ähnlich wie der heute schon erwähnte Donald Trump kommuniziere Bolsonaro "fast ausschließlich über die sozialen Medien" - und, wenn es um Journalisten geht, zudem auf durchaus Trumpsche Weise:

"Ende Oktober teilte Bolsonaro auf Twitter ein skurriles Video, das einen Ausschnitt aus einem Naturvideo zeigt. In dem Video wird ein Löwe von Hyänen gejagt: Der Löwe soll Bolsonaro darstellen, die Hyänen sind linke Parteien, der Oberste Gerichtshof – und die Presse."

Zum Umgang mit Pressemitteilungen der Polizei

Am Donnerstag war an dieser Stelle im Zusammenhang mit einigen kritischen Bemerkungen zur Pressearbeit der Polizei Sachsen die Rede davon, dass bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten in Leipzig-Connewitz ein Polizist "schwer verletzt" worden sei, nahezu überall anders war sogar von einer "Notoperation" die Rede. Nun sind die Formulierungen "schwer verletzt" und "Notoperation" natürlich dehnbar, dennoch gibt es Gründe anzunehmen, dass die Polizei sich in diesem Einzelfall in einem noch stärkeren Maße erzählerische Freiheiten genommen hat, als es gestern hier beschrieben wurde.

Vor allem Recherchen der taz legen diesen Eindruck nahe.

Ein wichtiger Teil des ursprünglichen Polizei-Narrativs sah laut taz-Redakteur Konrad Litschko so aus:

"Einige Angreifer hätten versucht einen brennenden Einkaufwagen ‚mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei zu schieben‘. Dabei sei ein 38-jähriger Beamter so schwer verletzt worden, dass er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus 'notoperiert' werden musste."

Die nächste Version fasst Litschko so zusammen:

"Am Donnerstagnachmittag legte das sächsische LKA mit einer Mitteilung nach, mit mehr Details – und teils Abschwächungen. Demnach sei der brennende Einkaufswagen nur noch 'in Richtung' der Polizeibeamten geschoben worden (…). Von einer Notoperation des schwer verletzten Beamten ist hier nun keine Rede mehr."

Der taz-Redakteur erwähnt zudem "mehreren Augenzeugen", die sagen, dass der "als Polizeiauto dekorierte Einkaufswagen angezündet und rund 30 Meter von den Polizeieinheiten entfernt auf der Kreuzung abgestellt worden".

Wichtiger noch:

"In Krankenhauskreisen zeigte sich man sich verwundert über diese Darstellung und die Polizeimeldung von einer 'Notoperation'. Von dort erfuhr die taz, dass es einen Eingriff an der Ohrmuschel des Beamten unter lokaler Betäubung gegeben habe. Der Mann sollte demnach am Donnerstag oder Freitag wieder entlassen werden. Lebensgefahr oder drohender Gehörverlust hätten nicht bestanden."

Der in Jena und Leipzig arbeitende Soziologe und Politikwissenschaftler Robert Feustel wettert in einem Thread, die Polizei wisse,

"dass die Fakten zu spät kommen, um das Narrativ noch aufzuhalten. Dass später Fakten auftauchen, die ein anderes Licht auf die Dinge werfen, ist in der kontrafaktischen Gesellschaft nicht mehr relevant. Die Geschichte zirkuliert und liefert all jenen Futter, die es glauben wollen."

In diesem Zusammenhang ist ein Zitat aus dem gestern aufgegriffene Thread des Kreuzer-Redakteurs Alko Kempen hilfreich:

"Um 04:42 veröffentlicht die Pressestelle der Polizei Leipzig eine umfangreiche Pressemeldung zu den Geschehnissen. Dass diese PM von entscheidender Bedeutung sein und  bundesweit rezipiert werden wird, muss den Pressesprechern nach Erfahrungen in Vorjahren bekannt gewesen sein. Deswegen sind Form und Veröffentlichungszeit von besonderer Bedeutung: Die Meldung ist früh genug da, um mit dem Beginn der Frühschicht von Redaktionen aufgegriffen zu werden."

Und natürlich beziehen sich all die Krawallschachteln und "Clownspolitiker" (siehe oben), die bei solchen Themen schnell auf der Matte stehen, auf die Darstellung von 4:42 Uhr, die ist gewissermaßen "gesetzt".

Dass Journalisten Polizeimeldungs-Prosa als Wirklichkeitsbeschreibung missverstehen, missverstehen wollen oder aus Zeitdruckgründen nicht nachrecherchieren - das ist leider kein neues Phänomen. Nur ein paar Schlagworte seien genannt: Ellwangen (Altpapier), Hitzacker (Altpapier again), G20-Demos (Vice).

"Ihr seid Männer, ihr habt auch ein Geschlecht"

Im Dezember waren die finanziellen Nöte des Schweizer Magazins Republik kurz Thema im Altpapier. Gegen Ende des Jahres ist ein Interview erschienen, das deutlich macht, warum es ein Verlust bedeutete, wenn das Magazin eingestellt werden würde. Daniel Ryser hat ein Gespräch mit der Soziologin Geschlechterforscherin und Twitter-Aktivistin Franziska Schutzbach geführt, in dem diese u.v.a. ausführt, warum sie die Formulierung "weißer, alter Mann" nützlich findet und was sie an ihr ambivalent findet. Es sei

"keine Kategorie, die biologistisch zu verstehen ist. Es gibt sehr viele weiße, alte Männer, die wenig privilegiert sind. Es ist eine Metapher für eine Struktur, die dafür sorgt, dass bestimmte Menschen eher in den Genuss von Privilegien von Macht und Ressourcen kommen als andere. «Weißer, alter Mann» ist eine Kritik an diesen Strukturen, lässt sich aber auch sehr polemisch und populistisch anwenden, mit dem Zeigefinger auf Einzelne. Ich bin ehrlich gesagt auch nicht sicher, was ich davon halten soll.

Was ihr am "weißen, alten Mann" aber allemal gefalle, sei "das Zurück­werfen von Markierung":

"Der Mann gilt als Subjekt, Frauen sind die Abweichung vom Mann. Das zeigt sich in der Geschichte zum Beispiel bei der Verabschiedung der ersten Verfassungen, die Frauen keine Rechte gaben, weil sie nicht als Menschen definiert waren. Der Mann ist traditionell der universelle Mensch, Frauen sind die anderen, jene, die auf ihr Geschlecht reduziert werden, auf ihre Natur, das Gebären. Geschlecht ist gleich Frau. Jetzt kommen wir Feministinnen und sagen: Ihr seid Männer, ihr habt auch ein Geschlecht. Ihr seid nicht neutral. Ihr habt einen bestimmten Blick auf die Welt, einen Männer­Blick – und der ist nicht universell. Diese Zuschreibung finden viele Männer nicht cool. Ihre Perspektive ist plötzlich nicht mehr die neutrale, sondern eine markierte: weiß, männlich. Dieses Zurück­werfen gefällt mir. Man hat Frauen zweihundert Jahre lang markiert. Jetzt spiegeln sie das zurück."


Altpapierkorb (Handke und kein Ende, ein neuer Trend in der Gastronomie-Kritik, Free-TV-Start der Serie "Das Boot")

+++ Wer nach dem "epischen" Altpapier-Jahresrückblick auf die Handke-Debatte noch Nachschlag wünscht, könnte in einen Artikel von Kurt Gritsch, Autor des Buches "Peter Handke und Gerechtigkeit für Serbien. Eine Rezeptionsgeschichte", reinschauen. Gritsch beklagt bei Telepolis: "Mit wenigen Ausnahmen fanden und finden sich in der massenmedialen Aufregung um Handke und Jugoslawien, unterfüttert durch Verkürzungen und losgelöst von der Beschäftigung mit Primärwerken, nur noch zwei Positionen. Man ist entweder für oder gegen Peter Handke. Ein 'Aber' existiert nicht mehr."

+++ "Linksextremisten" (Überschrift) bzw. "mutmaßlich Linksextremisten" (Fließtext) haben in Berlin-Wilmersdorf das Auto des B.Z.-Journalisten Gunnar Schupelius durch einen Brand zerstört. Das berichtet der Tagesspiegel.

+++ Deutsche Klimakrisenleugner, die dazu neigen, sich als "Klimarealisten" zu bezeichnen, zitieren gern "'eine chinesische Studie', die es allem Anschein nach gar nicht gibt". Darüber schreibt Alan Posener (starke-meinungen.de).

+++ Worüber man auch mal reden kann (bzw. wir an dieser Stelle nie reden): über Entwicklungen in der Restaurantkritik. Im Text von Theodore Gioia für das Los Angeles Review of Books geht es zwar um Entwicklungen in den USA, aber wer sich für das Genre grundsätzlich interessiert, wird den Text instruktiv finden. Es geht unter anderem um "three young female critics of color (who) had started new positions at major newspapers (…). They promise to tackle greater civic and social questions than the cooking on the plate. The old ideal of critic as neutral arbiter gives way to a modern vision of the critic as hip, multicultural storyteller." Soleil Ho, eine dieser Innovatorinnen, wird folgendermaßen zitiert: "I don’t see the critic’s task as one of simply deciding if a food or restaurant experience is pleasing, but rather using an aesthetic evaluation of restaurants to tell stories about the connections between people, cultures, and communities.”

+++ Kontext hat mal wieder einen von Flurfunk-Informationen gesättigten Text am Start über Mitarbeitern bzw. zukünftigen Ex-Mitarbeitern von Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten drohende Imponderabilien.

+++ Altpapier-Autor Christian Bartels befasst sich in seinen neuesten "Betrachtungen" für die Medienkorrespondenz unter anderem mit der finanziellen Lage von netzpolitik.org - und den sich immer wieder verändernden internen Debatten zu der Frage, wie man entsprechende Probleme am besten in Angriff nimmt.

+++ Und was läuft im Fernsehen am Wochenende? Die laut Stuttgarter Zeitung "sensationelle Fortsetzung" des Spielfilms "Das Boot" als achtteilige TV-Serie. Sie hat nun Premiere im Free TV. Lars Weisbrod macht in einem Zeit-(€)-Artikel deutlich, dass er die Serie ganz und gar nicht sensationell findet. Sie leiste "einem Geschichtsrevisionismus Vorschub, der die deutsche Verantwortung für den Zweien Weltkrieg und und seine Verbrechen relativiert."

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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