Teasergrafik Altpapier vom 2. Januar 2020: Tom Buhrow und Ulrich Wilhelm
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Das Altpapier am 2. Januar 2020 Führungskräfte mit Rückgrat gesucht

02. Januar 2020, 19:59 Uhr

Ist WDR-Intendant Tom Buhrow geeignet für den Posten des ARD-Vorsitzenden? War es sein Vorgänger, der BR-Intendant Ulrich Wilhelm? Das neue Jahr beginnt mit großen Fragen. Ein Altpapier von René Martens.

Die Stabübergabe beim ARD-Vorsitz geht alle zwei Jahre normalerweise eher geräuschlos über die Bühne. In diesen Tagen stehen aber sowohl der bis Ende 2019 amtierende als auch der neue Vorsitzende unter Feuer - aus im Detail unterschiedlichen, im Kern aber vergleichbaren Gründen.

Beginnen wir mit dem neuen Vorsitzenden.

"Auf der Zielgeraden entreißt der WDR der GroKo-SPD noch den Pokal der erbärmlichsten Rückgratlosigkeit der Dekade",

twitterte Sascha Lobo ausgangs des alten Jahres, und gemeint war das Verhalten, das das zweitgrößte öffentlich-rechtliche Medienunternehmen Europas - und ihr Intendant Tom Buhrow, also der seit gestern amtierende neue ARD-Vorsitzende - im Zusammenhang mit einer possierlich-klamaukigen Umdichtung des Liedes "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad" an den Tag gelegt hatte.

Der WDR hatte einen Kinderchor diese Version, die Anfang November bereits bei WDR 5 in einer nicht von einem Kinderchor gesungenen Fassung gelaufen war, performen lassen. In der umgedichteten Fassung wird heiter das nicht zwingend klimafreundliche Verhalten einer fiktiven Oma besungen ("Meine Oma ist ne alte Umweltsau").

Weil sich aber einige Rechtsextremisten als Verteidiger der fiktiven Oma und aller mutmaßlichen Nicht-Umweltsäue über 60 inszenierten, löschte der WDR das maximal harmlose Video - und distanzierte sich dann derart exzessiv davon, als habe man mit dem Lied eine Staatsaffäre ausgelöst.

"Das Video mit dem verunglückten Oma-Lied war ein Fehler. Ich entschuldige mich ohne Wenn und Aber dafür",

sagte Tom Buhrow zum Beispiel in einer Sondersendung (siehe auch u.a. Die Welt). Das war aber noch längst nicht alles. Im "Mittagsmagazin" von WDR 2 musste Buhrow aus welchem Grund auch immer die Ausländer-Karte spielen, warf jedenfalls die Frage auf, ob die zuständige Redaktion "einer Umdichtung des Lieds auch dann zugestimmt hätte, wenn anstelle von einer Oma von "Ali" die Rede gewesen wäre" (zitiert nach Frankfurter Rundschau).

Der frühere Titanic-Chefredakteur Tim Wolff ordnet das so ein:

"Nur jemand ohne Kenntnis von komischem Kontext kommt auf die Idee, dass sich in einem Lied, das eines über eine Oma parodiert, die Oma beliebig austauschen ließe. Wem dabei dann "Ali" einfällt, will entweder insgeheim rassistische Kinderlieder dichten oder hat zu viele gehört."

Buhrow wäre aber nicht Buhrow, wenn es ihm nicht gelungen wäre, die "wirre" (Margarete Stokowski, Spiegel Online) "Ali"-Nummer noch zu toppen. Das gelang ihm in einem Video,

mit dem der WDR auf Morddrohungen gegen Mitarbeiter reagieren wollte, die in Verbindung mit dem Video standen. De facto fällt das Ganze aber in die Kategorie Verschlimmbesserung. Buhrow sagt:

"Was ist in unserem Land los, dass ein missglücktes Video zu Morddrohungen führt? Wir müssen doch wieder zur Besinnung kommen."

Lamya Kaddor ordnet das bei t-online so ein:

"Die Causa Umweltsau besteht aus den seit langem bekannten klassischen Elementen eines rechten Shitstorms: Nichts. Daran. Ist. Neu. Tom Buhrow (…) ist in dem zentralen Zukunftsfeld seines Hauses gescheitert und hat einen Offenbarungseid geleistet."

Obwohl Buhrow vorher schon jede Gelegenheit genutzt hatte, sich von dem Chor-Video zu "distanzieren" und damit zumindest indirekt Mitarbeiter des Hauses anzugreifen (anstatt sie, falls es denn wirklich geboten wäre, intern zu kritisieren):  Auch hier muss er innerhalb von 61 Sekunden das Video unbedingt zweimal "missglückt" nennen und zwei weitere Male von einem "Fehler" sprechen. Zum Beispiel hier:

"Wir müssen Fehler eingestehen, aber dann auch wieder das Gemeinsame suchen und mit Respekt und Anstand aufeinander zugehen."

Als ob sich Rechtsextremisten "Anstand" beibringen ließe - und sie sich für die Qualität von Kinderlied-Umdichtungen interessieren würden. Buhrow wirkt so, als versuche er, jugendliche Delinquenten davon zu überzeugen, dass es nicht in Ordnung ist, Omas (um sozusagen beim Thema zu bleiben) die Handtasche zu klauen.

Die Blicke, der Tonfall, die Körpersprache - insgesamt erinnert Buhrow an den Protagonisten eines Spielfilms, der sich nach einer Zeitreise in einer ihm völlig fremden Welt zu orientieren versucht. Man fragt sich, ob niemand beim WDR in der Lage ist, Buhrow vor sich selbst zu schützen.

Dazu noch einmal Lamya Kaddor:

"Man steht da und staunt, wie unsouverän, unprofessionell und inkompetent ausgerechnet Medienprofis die Causa "Umweltsau" verbockt haben. Tom Buhrow bereitet mit seiner haarsträubenden Überreaktion den Gegnern von freier Presse, GEZ-Hassern, rechten Hetzern, Rechtspopulisten und Neonazis verlängerte Festtage, indem er sich vor ihnen in den Staub wirft und geradezu servil um Entschuldigung ohne Wenn und Aber bittet (…). Mit seinem Vorgehen gestattete und förderte Buhrow zudem, dass sein milliardenschwerer Sender von rechten Aktivisten vor sich getrieben wird."

Steven Geyer schreibt beim Redaktionsnetzwerk Deutschland:

"Die Reaktion illustriert leider, dass die Verantwortlichen in Medien und Politik die Dynamik heutiger Online- und Offline-Empörungswellen noch nicht durchschauen. Denn natürlich kommen die Morddrohungen nicht aus der Mitte der Gesellschaft oder von wütenden WDR-Zuschauern – sondern von Gruppen, für die öffentlich-rechtliche Sender aus politischen Gründen grundsätzlich ein Feindbild darstellen. Zugleich fühlen sich diese Rechtsaußen motiviert zum Handeln, wenn Teile des Establishments ihr Anliegen durch ihre Zustimmung adeln. All das ist im "Oma-Gate" geschehen."

Wenn "trolllastige Kommunikation für wahre Empörung gehalten" wird

Einen Thread zur Mechanik und Choreographierung der "Empörung" hat Martin Hoffmann erstellt. Los geht es demnach mit Tweets von sehr kleinen pseudonymen Accounts aus der rechten Szene, dann kommen die "Mikro-Influencer der rechts-konservativen Bubble" ins Spiel. Und dann schaffe

"die Mini-Kritik (…) es dann manchmal zu einem großen rechts-konservativen Multiplikator (…). Dieser gibt den anonymen Kritikern eine größere Bühne und trägt mit seinen Anmerkungen oft selbst zu einer Radikalisierung der Debatte bei. Daraufhin beteiligen sich weitere Anhänger der Multiplikatoren an dem aufkommenden Shitstorm. Spätestens jetzt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ganz gezielt rechtes Astroturfing über Telegram, Discord & Co. organisiert wird. Die Zahl der kritischen Tweets nimmt spürbar zu. Es folgt der entscheidende Moment, an dem viele Medien versagen: Die Kritik dieser Accounts wird in ersten Berichten aufgegriffen ("Shitstorm für...”, "Empörung über...”) und Pars pro Toto mit den eingebetteten Tweets aus der rechten Filterbubble scheinbar gestützt."

Diese "Diskursanalyse eines Mitarbeiters des Medienkonzerns Ströer" bringt den FAZ-Haudegen Michael Hanfeld - 55 Cent kostet sein Text bei Blendle - dazu, den in seinen Kreisen beliebten, wenn nicht gar überlebenswichtigen Zwischenruf "Aber die Linke!" anzubringen, und zwar so:

"(D)ass eine (extreme) Minderheit einen Debattenrahmen (Framing) setzt, der vorgaukelt, hier gehe es um eine Graswurzelvolksbewegung, wo in Wahrheit ganz andere mit anderen Absichten dahinterstehen, (…) ist eine Technik, die für "Debatten" in "sozialen" Medien typisch ist, auf die sich Linke wie Rechte verstehen."

Der Journalist und Autor Patrick Stegemann, Co-Autor des im Januar erscheinenden Buchs "Die rechte Mobilmachung", wird das eher nicht so sehen. Im Kontext einer Datenauswertung sagt er jedenfalls gegenüber Spiegel Online:

"Das 'Oma-Gate' ist ein ganz typisches Beispiel rechter Empörung und Mobilisierung - sowohl, was die Struktur, als auch, was die Themen und Argumente anbelangt."

Er spricht des Weiteren von einem

"'rechten Ökosystem', das die erfolgreichsten Memes oder auch die empörungswilligsten Narrative sehr schnell über verschiedene Plattformen hinweg transportiere, über YouTube oder Twitter, aber auch Messenger wie Telegram".

Zur Reaktion des WDR und sehr vieler Journalisten wird Stegemann wie folgt zitiert:

"'Hier wird eine sehr trolllastige Kommunikation für wahre Empörung gehalten, ohne zu verstehen, wie diese entstanden ist.' Auch die Feiertage hätten den Rechten in die Hände gespielt - eine empörungsbereite rechte Filterblase sei auf schlecht besetzte Redaktionen getroffen."

Das mit den "schlecht besetzten Redaktionen" mag ja stimmen. Instant-Texte, die aus recht willkürlich wirkenden Aggregationen von Tweets bestehen - und u.v.a. außer Acht lassen, dass in Deutschland nur zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland Twitter täglich nutzen (siehe Media Perspektiven 9/19, Seite 383) -, erscheinen aber auch jenseits von Feiertagen.

Der Verdi-Senderverband WDR kritisiert:

"Buhrow hat mit der Löschung in die innere Rundfunkfreiheit eingegriffen und damit den beteiligten Kolleg*innen die Rückendeckung genommen." 

Andrej Reisin schreibt in einem Kommentar für "Zapp":

"Wenn eine Kultur in den Sendern Einzug hält, die jede Kontroverse und jedes Fettnäpfchen vermeiden will - und auf dem Weg dorthin Kinderlieder depubliziert - läuft der öffentlich-rechtliche Rundfunk Gefahr, am Ende in glattgebügelter Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Sein Auftrag, 'Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung' zu sein, kann er dann nicht mehr erfüllen."

Einige Aspekte, die eigentlich mehr sind als Nebenstränge, lassen sich vorerst nur kurz streifen: eine Demonstration von Rechtsextremisten unterschiedlichster Art vor dem WDR-Funkhaus in Köln (RND). Und das Verhalten von Mitarbeitern der Redaktion der Sendung "Aktuelle Stunde" gegenüber einem freien Kollegen (taz).

Überraschend kommen die Umweltsau-Sache und Buhrows Irrlichterei allerdings nicht - wenn man sich mal einige Begebenheiten aus der jüngeren Vergangenheit anschaut:

Im Mai 2018 löschte der WDR kurzzeitig Bilder, die ein humoristisches (!) Antifa-T-Shirt zeigten, das ein Studiogast (!) getragen hatte - auch dies eine Reaktion auf Attacken von rechts.

Dazu schrieb ich im Altpapier seinerzeit:

"Was für ein journalistisches Selbstverständnis hat ein Redakteur, der so schnell zu Kreuze kriecht, weil ein paar Leute etwas ins Internet schreiben (die Frage stellt sich auch unabhängig vom konkreten Einzelfall)? Abgesehen davon, dass man sich ohnehin fragen muss, auf welchem Planeten der/die Verantwortliche(n) für den Eingriff die letzten Monate verbracht haben: Warum hat, nachdem die ersten Reaktionen kamen, niemand recherchiert, was es, erstens, mit dem T-Shirt auf sich hat? Warum hat, zweitens, niemand recherchiert, welche Gruppierung hinter den vermeintlichen Zuschauer-Protesten steht."

Und:

"Zu was sind solche Menschen denn fähig, wenn sie wirklich einmal jemand unter Druck setzt? Womöglich handelt es sich bei dieser Reaktion eher um ein systemisches Problem, als um individuelles Fehlverhalten. Dennoch: Ob Menschen, die sich in die Hose machen, wenn Nazis ein bisschen gegen eine Petitesse "protestieren", im Jahr 2018 für den Job als Redakteur*in bei einem öffentlich-rechtlichen Sender geeignet sind - diese Frage kann man auf grundsätzlicher Ebene schon mal stellen."

Im Prinzip kann man diese Passage als Kommentar zu den aktuellen Entwicklungen beinahe komplett stehen lassen, man muss nur ein paar Worte austauschen.

Als Außendarstellungsdesaster erwies sich auch das Verhalten des WDR in einem wesentlich gravierenden Fall aus dem Jahr 2017: Der Sender attackierte öffentlich die von ihm selbst beauftragten Macher eines Dokumentarfilms zum Thema Antisemitismus, den man, zunächst, nicht, zeigen wollte. Dann trieb der WDR die Desavouierung der Autoren auf die Spitze, indem man den Film bei der Ausstrahlung mit Texttafeln verunzierte, die angeblich "Faktenchecks" enthielten, die sich später als zu einem großen Teil nicht allzu faktenlastig erwiesen. Siehe dazu Altpapier, Altpapier und Medienkorrespondenz.

Mit einem Abstand von einem Jahr schrieb dann Carmen Molitor für die Zeitschrift des DJV-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) sowie die Medienkorrespondenz:

"Rückblickend gesehen war der Fall ein Kommunikations-GAU, den manche auf die starke Hierarchisierung im Sender zurückführten."

Auch das ist ein verblüffend aktueller Satz.

Im Mai 2018 schrieb Sabine Rollberg, eine kurz zuvor in Rente gegangene WDR-Redakteurin, die im Zusammenhang mit der Antisemitismus-Doku ins Visier ihres eigenen Senders geraten war, anlässlich der Aufarbeitung der Me-Too-Fälle beim WDR im Tagesspiegel (siehe Altpapier):

"Es geht um Hierarchien, die ihre Macht missbrauchen, und um Strukturen, die das zulassen. Metoo birgt die Chance zu einer grundlegenden Reform der zerstörerischen Hierarchisierung der Sender. Diese Machtfülle und die Ohnmacht der Kreativen sind für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gefährlicher als jede AfD-Kritik."

Vor allem letzterer Punkt verdient grundsätzlich Beachtung: Zumindest derzeit scheint für das öffentlich-rechtliche System die Bedrohung von innen größer als die von außen.

Heute, zumal im Angesicht des Umweltsau-Falls, lässt sich sagen, dass beim WDR die Chance, der "zerstörerischen Hierarchisierung" zu entkommen, vertan wurde. In diesen Kontext passt auch, was Lutz Hachmeister in einem Interview, das ich kürzlich für die Medienkorrespondenz mit ihm geführt habe und unter anderem in diesem Altpapier aufgegriffen wurde, gesagt hat. Er wies darauf hin, dass im

"Gutachten, das Monika Wulf-Matthies anhand der Metoo-Fälle zum WDR verantwortet hat, (…) ja sehr drastisch eine Unternehmenskultur beschrieben (wird), die von Kontrollfetischismus und Einschüchterungen bestimmt ist. Mich hat gewundert, dass daraus nicht mehr gefolgt ist. Das hat aber auch damit zu tun, dass der Rundfunkrat beim WDR äußerst schwach ist. Das Gutachten hätte man ja mal zum Anlass für so eine Generaldebatte nehmen können."

Das wirft natürlich die Frage auf, ob es Landesrundfunkanstalten der ARD gibt, bei denen die Rundfunkräte nicht so schwach sind wie beim WDR. Für den aktuellen Fall Buhrow allemal wichtig: Wenn "eine Unternehmenskultur (…) von (…) Einschüchterungen bestimmt ist", bringt es eben auch mit sich, dass nicht nur jene, die ganz oben sind, nach unten treten, sondern auch jene, die nicht ganz so weit oben stehen.

Als vorerst letzte Worte zur Umweltsau-Sache theoretisch geeignet: Was der Blog Medienstil am Silvestertag aus der deutschen Mediengeschichte hervorgeholt hat. Hier wird anlässlich des aktuellen Verhaltens des WDR Adolf Grimme zitiert, gewissermaßen ein Vorgänger Tom Buhrows. Grimme war der erste Generaldirektor des NWDR, der 1955 in NDR und WDR aufgespalten wurde, und der Posten des Generaldirektors entsprach ungefähr dem des heutigen Intendanten.

In seiner Rede zum Antritt als Generaldirektor sagte Grimme 1948:

"Der Rundfunk darf (…) nicht der verführerischen Jagd nach Popularität verfallen. Wer gewillt ist, das Beste im Menschen anzusprechen, muss nun einmal zugleich den Mut zur Unpopularität besitzen." 

Tja.

Adolf Grimme, den die Nazis ins Gefängnis gesteckt hatten, war zu seiner Zeit als Generaldirektor vielen Angriffen ausgesetzt, sie kamen von alten Nazis und Leuten, die kein Problem damit hatten, von Nazis in die Welt gesetzte Lügen zu nutzen (Ausführliches von mir dazu siehe hier). Die Attacken galten sowohl Grimme als auch dem Sender - und sie ähnelten übrigens jenen, die heute Seit an Seit braune und "bürgerlichen" Leutchen aus noch so nichtigem Anlass, etwa einem umgedichteten Kinderlied, reiten.

Hat Ulrich Wilhelm "wiederholt die Unwahrheit gesagt"?

So richtig zum Abschluss wird sich die Kinderlied-Sache vorerst aber eh nicht bringen lassen, weil sie eng verknüpft ist mit einer anderen Angelegenheit, die sich gerade erst in ihrem Anfangsstadium befindet: Der langjährige BR-Mitarbeiter Richard Gutjahr hat einen Offenen Brief an den BR-Intendanten Ulrich Wilhelm geschrieben, der bis zum 31. Dezember ARD-Vorsitzender war. Gutjahr wirft Wilhelm vor, ihn "im Kampf gegen meine Angreifer aus dem Netz, (g)egen Verschwörungstheoretiker, Neonazis und Reichsbürger, die meine Familie und mich bis zum heutigen Tag terrorisieren", nicht ausreichend geschützt und unterstützt zu haben. Gutjahr schreibt zum Beispiel:

"Als (…) uns die Prozesskosten über den Kopf wuchsen, wandte ich mich erneut an den BR. Dort ließen mir Ihre Referenten ausrichten, dass ich keine Unterstützung von Ihnen zu erwarten hätte. Erst als ich mich in der Folge an den Ombudsmann sowie an den Rundfunkratsvorsitzenden des BR wandte, ließen Sie mir finanzielle Beihilfe zukommen, eine einmalige Zahlung, weniger als ein Monatsgehalt."

Ans Eingemachte geht es in folgender Passage:

"Wie mir aus unterschiedlichen Quellen berichtet worden ist, haben Sie in den nicht-öffentlichen Sitzungen (des Rundfunkrats) wiederholt die Unwahrheit gesagt bzw. das Kontrollgremium des Bayerischen Rundfunks in die Irre geführt. Man habe meine 'Prozesskosten beglichen', soll da behauptet worden sein (…) Dass das in Wahrheit meine private Rechtsschutzversicherung getan hat, die mir nach einem Jahr kündigte, wurde verschwiegen."

Hintergründe zu den Angriffen auf Gutjahr und seine juristischen Maßnahmen stehen in diversen Altpapieren, etwa diesem, diesem und diesem, sowie einem aktuellen SZ-Artikel.

Die zentrale Botschaft in Gutjahrs Offenem Brief, die angesichts von Tom Buhrows Verhalten in der Umweltsau-Sache zusätzlich an Aktualität gewinnt, lautet:

"Was wir in disruptiven Zeiten wie diesen brauchen, ist kein öffentlich-rechtliches Google oder Facebook, sondern vor allem Führungskräfte mit Rückgrat, Herz und moralischem Kompass. Führungskräfte, die nicht nur auf Medienkongressen und in Interviews über Werte und Verantwortung reden, sondern diese Tag für Tag vorleben."

Der Tagesspiegel fasst den Brief zusammen und zitiert aus der Reaktion des Senders ("Der BR weist insbesondere den Vorwurf der Lüge und Täuschung durch den Intendanten strikt zurück"), die, um es mit Stefan Fries zu sagen, "nicht ins Detail geht und daher nicht umfassend geeignet ist, die Vorwürfe zu entkräften".

"Sprache als Beobachtungsstation von Gesellschaft" - aus den Nachrufen auf Hermann L. Gremliza

Der "vielleicht größte Journalist des Landes" (Jüdische Allgemeine) hätte an dieser Stelle wahrscheinlich sinngemäß eingeworfen, dass es naiv sei, von einem Intendanten einzufordern, Rückgrat zu zeigen, weil Rückgratlosigkeit eine Grundvoraussetzug dafür sei, um überhaupt zum Intendanten gewählt zu werden. Das hat bzw. wird Hermann L. Gremliza nun allerdings nicht mehr schreiben können, denn kurz vor Weihnachten ist der 79-Jährige Herausgeber der Monatszeitschrift konkret (Disclosure: Ich schreibe für konkret sehr sporadisch kurze Texte) in Hamburg gestorben.

Georg Fülberth stellt in der Jungen Welt anhand eines Vergleichs mit Karl Kraus, den Gremliza häufig zitiert hat, folgende Qualität des Verstorbenen heraus:

"Für Kraus war die innere Logik der Sprache das Kriterium, mit dem schadhafte Verhältnisse, die sich in Phrasen und verunglückten Metaphern versteckten, erkannt werden konnten. Hermann Gremliza ist, wie vor ihm Kraus, in seiner Zeit hierzulande der einzige gewesen, der die Sprache als Beobachtungsstation von Gesellschaft zu nutzen verstand."

Man findet in den Nachrufen diverse Anknüpfungspunkte fürs Aufgreifen wichtiger medienhistorischer Begebenheiten. In Willi Winklers Text fürs SZ-Feuilleton zum Beispiel. Er blickt zurück auf das Jahr 1971 und das Ende von Gremlizas Zeit beim "Spiegel":

"Als er mit anderen die von der sozialliberalen Koalition und im Spiegel propagierte Mitbestimmung auch für die Redaktion forderte, wurde er rausgeschmissen; lieber umging Augstein die Mitbestimmung und schenkte den Mitarbeitern die Hälfte seines Blattes."

Um es mal salopp zu formulieren. Die Redakteure (hier reicht vielleicht die männliche Form, denn zu viele Frauen dürfte es in der Redaktion damals nicht gegeben haben) ließen sich kaufen, sie entschieden sich für die Aussicht auf Dividende, statt für innerredaktionelle Demokratie. Reizvolle spekulative Frage: Was wäre gewesen, wenn sie damals Rückgrat (um mal einen in der heutigen Kolumne schon mehrmals verwendeten Begriff zu bemühen) gegenüber Augstein gezeigt hätten? Was für ein Signal hätte davon ausgehen können für den Rest der Branche, zumal angesichts des Status des "Spiegel"?

Zur Gegenwart der von Gremliza herausgegebenen Zeitschrift bemerkt Alexander Nabert in der taz, Gremliza habe "nie einen echten Shitstorm erleben" müssen – "dafür war 'konkret' einfach nie digital genug". Das österreichische Musikmagazin Skug interpretiert diese anti-digitale Haltung in seinem Nachruf eher positiv:

"Als Herausgeber von 'konkret' verweigerte Gremliza, das Heft den Standards der digitalen Transformation und entsprechenden Geschäftsmodellen anzupassen."

Einen Nachruf aus einer expliziten Fanperspektive hat die Musikjournalistin Kerstin Grether für den Blog "Ich brauche eine Genie" geschrieben:

"Was mich eigentlich in meiner Jugend, damit meine ich jetzt die Jahre von sagen wir mal 17 – 22,  so unausstehlich radikal gemacht hat, dass ich in meiner Schulklasse am Ende kaum noch mit jemand gesprochen habe, gehört die Lektüre der Zeitschrift 'konkret' in den 1990er Jahren."

Grether schreibt, ähnlich wie hier Elke Wittich, Gremliza eine Wirkung und einen Einfluss zu, die sonst eher Popmusikern (oder bestimmten Songs) zugeschrieben wird. Konkret:

"Genau genommen waren es nicht Kathleen Hanna und Courtney Love, die mich 'aus der Gesellschaft aus-geixt' haben (um es mit dem Michael-Ende-Song zu sagen); sondern Hermann L. Gremliza und Wolfgang Pohrt."

Ob heutige Journalistinnen und Journalisten für 17- bis 22-jährige Autorinnen und Autoren bzw. Autorinnen und Autoren in spe eine ähnliche Rolle spielen können wie einst Gremliza und Pohrt für Grether (Jahrgang 1975)? Vermutlich nicht. Vielleicht eine recht hübsche Pointe in diesem Zusammenhang: Hermann L. Gremliza hat Zeit seines Lebens die Namen Kathleen Hanna und Courtney Love mit ziemlicher Sicherheit niemals gehört.


Altpapierkorb (Mehr "Predictions For Journalism 2020", tendenziöse Pressearbeit der Polizei Sachsen in Sachen #Connewitz, mangelnde Diversität in öffentlich-rechtlichen Talkshows)

+++ Auch wenn wir es selbstverständlich für unwahrscheinlich halten, dass unsere Leser unsere Jahresrückblicke verpasst haben könnten: Rein prophylaktisch seien sie an dieser Stelle noch einmal gebündelt präsentiert. Um folgende Themen ging es: Relotius, Rezo, die ausufernde Handke-Debatte, das Wirken "der größten Medienkonzerne der Welt" in 2019 sowie die Auslandsmagazinberichterstattung der Öffentlich-Rechtlichen.

+++ Das Nieman Lab hat den nächsten Schwung an "Predictions For Journalism 2020" (siehe Altpapier vom 20. Dezember) veröffentlicht. Eine davon stammt von Victor Pickard (University of Pennsylvania): "More newspapers will follow the path of The Salt Lake Tribune and transition to nonprofit status", schreibt er unter anderem. Eine nicht unattraktive, wenn auch für den deutschen Markt derzeit wenig wahrscheinliche Option. Mindestens ambivalent: "More state governments will make public investments in local news." Auf für mich nicht nachvollziehbare Weise megaoptimistisch klingt schließlich folgende Prognose: "In 2020, we will return to fundamental debates about journalism’s normative role in a democratic society. No longer serving commercial imperatives, our news media will come to disavow clickbait, invasive and deceptive advertising, and sensationalistic, trivializing commentary."

+++ Während der Ereignisse in der Neujahrsnacht in Leipzig-Connewitz, in deren Verlauf ein Polizist schwer verletzt wurde, habe "die Pressestelle der Polizei #Leipzig und das Social-Media Team @polizeisachsen im besten Fall unprofessionell agiert, im schlimmsten Fall gezielt das öffentliche Bild der Ereignisse und die mediale Rezeption beeinflusst" - das rekapituliert Aiko Kempen, Redakteur des Stadtmagazins Kreuzer, in einem Thread. Der Leipziger Lokalpolitier Michael Neuhaus (Die Linke) kritisiert Ähnliches, insbesondere die Nennung einer Privatperson in einer offiziellen Pressemitteilung ("Sowas habe ich noch nie erlebt"). Diese Person hatte bei Twitter die Einsatzstrategie der Polizei kritisiert. Wie eine in der Pressemitteilung zu findende Verdrehung dieses kritischen Tweets ihren Niederschlag in der Bild-Zeitung fand, lässt sich wiederum in Kempens Thread nachlesen.

+++ Was ohne das Klamauklied des Kinderchors und Tom Buhrows Irrlichterei möglicherweise in größerem Ausmaß wahrgenommen worden wäre: Fabian Goldmanns beim Bliq-Journal veröffentlichte Studie zur mangelnden Diversität in Talkshows. "Die Gästeauswahl der öffentlich-rechtlichen Talkshows ist vor allem gegenüber 'nicht-weißen' Menschen stark diskriminierend", heißt es dort. Die Ippen-Digital-Zentralredaktion schreibt dazu (siehe etwa Münchener Merkur, Frankfurter Rundschau): "Tatsächlich finden sich einige kuriose Befunde: So habe CDU-Außenexperte Norbert Röttgen alleine mehr Auftritte als Menschen aus Afrika, Arabien und dem Iran insgesamt gehabt - neun an der Zahl. Insgesamt habe der Ausländeranteil bei 5,4 Prozent gelegen."

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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