Teasergrafik Altpapier vom 29. Mai 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 29. Mai 2020 Corona-Diskurs sucht Bullshit-Resistenz

29. Mai 2020, 13:06 Uhr

Pre-Print-Server sind in der Pandemie zur Fundgrube für Journalist:innen geworden. Dabei zeigen sich oft diskursive Stolpersteine beim Umgang mit Unsicherheit und Vorläufigkeit. Unsere Gehirne stehen zwar evolutionär bedingt auf Eindeutigkeit, aber für die Wissenschaft ist das schädlich. Für eine differenzierte Diskussion brauchen wir mehr Bullshit-Resistenz. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Medial unerträgliche Vorläufigkeit

Leute, wir müssen über Wissenschaft reden: über Verfahren, Diskussion und Vermittlung. Denn die angesichts des Unsicherheitsgefühls in der Pandemie herbeigesehnte Eindeutigkeit und das Bedürfnis nach Sicherheit und Verlässlichkeit führen zu verschiedenen Überreaktionen und Missverständnissen. Das ließ sich diese Woche medial besonders gut beobachten. Um nur einige Stichworte zu droppen: Drosten, Bild, Twitter, Kekulé und überhaupt Corona in seiner ganzen Pracht.

Im öffentlichen Diskurs gebe es "ein Missverständnis, was Kritik in der Wissenschaft überhaupt bedeutet", diagnostiziert Rainer Bromme, Professor für Pädagogische Psychologie von der Universität Münster, im Tagesspiegel, auch mit Blick auf die facepalmwürdige Berichterstattung der Bild über die aktuelle Pre-Print-Studie des Charité-Virologen Christan Drostens (siehe Altpapier Donnerstag und Dienstag).

Erst einmal geht es beim wissenschaftlichen Arbeiten darum, Fragen zu stellen, Thesen formulieren und diese zu diskutieren. Diese Thesen gelten nach der Popper‘schen Denkschule des Kritischen Rationalismus solange als wahr, bis sie eventuell falsifiziert werden. Dieser Annahme nach wäre alles Wissen nur vorläufig.

In Coronazeiten haben sich große Teile dieses wissenschaftlichen Prozesses in die Öffentlichkeit verlagert. Journalist:innen und alle Menschen haben Zugriff auf die sogenannten Pre-Print-Server, auf denen vorläufige Ergebnisse zur Begutachtung unter Expert:innen (Peer-Review) hochgeladen werden. Brommer erklärt:

"Denn neben den Experimenten gehöre zum wissenschaftlichen Diskurs immer auch 'ein Konferenzraum, ziemlich viel Kaffee und ein gutes Emailsystem', sagt er, augenzwinkernd: 'Man muss beraten, was man im Labor herausgefunden hat.' Das gehöre zum 'originären Kernbestand der wissenschaftlichen Wissensproduktion' und es sei eben 'kein Indiz dafür, dass irgendetwas schief gegangen ist'. Oder etwa absichtlich verfälscht wurde. So etwas anzunehmen oder zu unterstellen, basiere 'auf Unwissen oder einem böswilligen Missverständnis' des Prozesses der Wissensentwicklung."

Bei der Bild habe man nicht verstanden, wie Wissenschaft funktioniere und wann eine Studie überhaupt als 'falsch' gelte, kritisiert Daniel Lingenhöhl, Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft bei Spektrum.de. Das Team um Drosten habe die Studie auf einem Preprint-Server hochgeladen, um

"angesichts der Pandemie Kolleginnen und Kollegen rasch Zugang zu den Auswertungen zu geben und darüber diskutieren zu können, um mögliche Schwachstellen der Studie zu erkennen und die Analyse im Nachgang zu verbessern – was seitdem reichlich geschieht. Wie es sich für gute wissenschaftliche Praxis gehören sollte, gehen Drosten und sein Team auf (...) fachliche Kritik ein und berücksichtigen sie. Einer der kritisierenden Statistiker wird mittlerweile als weiterer Koautor der Studie gelistet. Seine Ansätze hätten die Arbeit 'härter' und fundierter gemacht, berichtet Drosten in seinem NDR-Podcast."

Indem der Diskussionsprozess über die vorläufigen Ergebnisse unter Fachleuten mittlerweile in den massenmedialen Fokus gerückt ist, wächst natürlich der auch Druck, "Gewissheiten" zu produzieren, an denen Medien und Menschen sich bei aller sonstigen pandemiebedingten Unsicherheit orientieren können. Der Raum, Vorläufiges als vorläufig stehen zu lassen, schrumpft dabei.

Problematische Fundgrube für Corona-Berichterstattung

Boulevardmedien und auch andere Redaktionen haben die Pre-Print-Server (die erst seit Mitte der 2010er Jahre stark an Bedeutung gewinnen) als Fundgrube für die (Corona-)Berichterstattung entdeckt. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, erschwert durch aufmerksamkeitsökonomisch orientierte Berichterstattung und ungeprüfte Verbreitung über Social Media aber den Diskussionsprozess. Denn der aktuelle Umgang mit Publikationen von diesen Servern führt zu Problemen:

1. Annahmen aus Pre-Prints werden zu schnell als Fakten weiterverbreitet: Inhalte werden als Gewissheiten präsentiert, die dann in Falschinformationen und Verschwörungserzählungen münden. Das war z.B. im Februar der Fall, als ein fragwürdiges Pre-Print aus Indien über eine Ähnlichkeit zwischen HIV und SARS-CoV2 (Link zum Tagesspiegel) zu Behauptungen führte, das neue Coronavirus sein ein Mix alter Coronaviren und HIV. Das wiederum führte zu Spekulationen, das Virus sei in einem Labor gebaut worden.

2. Pre-Prints werden skandalisiert: Wie im jetzigen Fall Bild vs. Drosten bietet das Wühlen auf den Servern aber auch Ansatzpunkte, um einzelne Forschende für ihre vorläufigen Veröffentlichungen anzugreifen. Gegen sachliche Kritik ist nichts einzuwenden, aber wenn Wissenschaftler:innen der Schutzraum für die fachliche Diskussion durch medial evoziertes Skandalpotential abhanden kommt, ist dem öffentlichen Diskurs nicht geholfen. 

Beide Punkte offenbaren diskursive Mängel beim Umgang mit Unsicherheit und Vorläufigkeit. Journalist:innen müssen als Vermittler wischen Wissenschaft und Laien eine offene Kommunikation solche Ungewissheiten noch stärker lernen. Das stellt auch der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar im Interview mit dem Medium Magazin (hier ein Auszug bei Kress) fest:

"Für Wissenschaftler sind Irrtum und Korrektur Alltag und Basis jeder Forschung. Aber wir als Gesellschaft können mit Ungewissheit nur sehr schlecht umgehen, gefragt ist immer eine Schwarz-Weiß-Berichterstattung mit 100 Prozent Klarheit. Aber so funktioniert die Welt nun mal nicht - erst recht nicht in der Pandemie."

Bei Übermedien erklärt der Philosophie-Professor Philipp Huebl dieses Verlangen nach Eindeutigkeit mit der evolutionären Entwicklung des Gehirns. In steinzeitlichen Gesellschaften seien solche Denkmuster nützlich für das Überleben gewesen:

"Zur Identität einer Gruppe gehörten damals unüberprüfbare Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert, etwa dass Hexen Kinder entführen oder Götter Blitze schleudern. Die Handlungserkennung war hypersensibel: Passierte etwas Unerklärliches, wähnte man eine Person dahinter, einen Dämon oder einen Geist. Oder jemanden aus der Gruppe. Außerdem war die sicherste Annahme stets: Korrelation heißt Kausalität. Aß der Gefährte einen Fliegenpilz und starb, hatte der Pilz den Tod verursacht. (…) Solche archaischen Denkmuster tragen wir bis heute in uns. In der Wissenschaft jedoch sind sie schädlich."

Rezipienten müssten deshalb "Bullshit-Resistenz" erlernen (oder anders ausgedrückt: Ambiguitätstoleranz), schreibt der Philosoph. Dazu gehöre, mit Mehrdeutigkeit umzugehen, Denkfehler und Kurzschlüsse zu vermeiden, Statistiken zu verstehen, Argumente zu durchschauen:

"Wer diese Fähigkeiten hat, kann besser mit der dauerhaften Selbstkorrektur (der Wissenschaft) umgehen, ja sieht darin sogar einen Wert."

Gewürzter Wissenschaftsjournalismus

Was kann in der aktuellen Situation der Wissenschaftsjournalismus, dessen Akteure ja mit den angesprochenen Mechanismen vertraut sind, leisten? Darüber macht sich Annette Leßmöllmann, Wissenschaftsjournalistin und Professorin für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie, in einem Leitartikel für epd Medien (Hinweis: ich arbeite gelegentlich selbst für das Fachmagazin) Gedanken. In der Pandemie sei dieser Fachjournalismus gesellschaftsnäher geworden, beobachtet sie (leider am 29.5. noch nicht online):

"Plötzlich werden 'Fakten' erwartet. Ganz schnell ist man in der Rolle, nur noch berichten zu sollen 'was der Fall ist', oder was 'wissenschaftlich wahr' ist - dabei ist es die Aufgabe von Wissenschaftsjournalisten, nicht nur Antworten, sondern auch Fragen, Unsicherheiten und gerade die konfligierenden Einschätzungen aus der Wissenschaft zu berichten."

In der Pandemie sei eine besondere Art von Wissenschaftsjournalismus gefragt:

"Es ist eigentlich Gesundheitsjournalismus, 'gewürzt' mit Krisen- oder Risikojournalismus. Kennzeichen dieses Journalismus ist, dass er nicht nur informiert, sondern Entscheidungsgrundlagen legen kann oder sogar Ratschläge erteilt. Er berichtet nicht nur aus der Wissenschaft, sondern er kann mögliche Evidenzen für Entscheidungen liefern."

Wissenschaftsvermittlung bzw. -journalismus darf sich dabei aber nicht nur in der Komfortzone Print und Longread bzw. In-Depth-Recherche einigeln. Laut Leßmöllmann müssen die Redaktionen auch dafür sorgen, "Futter" für die Whatsapp-Gruppen und Familienchats zu liefern. Mit guten Videos könnten so evidenzbasierte Beiträg zu Debatten geliefert und so teilweise auch Verschwörungsmythen entgegengewirkt werden. Dass sich viele Wissenschaftsjournalist:innen auf Social-Media-Plattformen bewegen, sei Gold wert, schreibt Leßmöllmann. Sie empfiehlt:

"Kai Kupferschmidt mit seinen hochaktuellen Threads auf Twitter (@kakape), Mai-Thi Nguyen-Kim mit dem Mai-Lab auf Youtube, Lars Fischer (@fischblog, spektrum.de und "Wir werden alle sterben" auf Youtube) und das wissenschaftsjournalistisch hochinteressante Biotop der "Riffreporter" sind Beispiele für verlässlich, einordnend, kritisch und aktuell arbeitende Wissenschaftsjournalisten, die auch gute Beobachterinnen und -beobachter der Gesellschaft sind."

Am Mittwoch beschäftigte sich auch der Forschungsausschuss des Bundestages mit dem Thema Wissenschaftskommunikation und Verbesserungen im Austausch zwischen akademischer Community und der Laien. Aus der Debatte im Parlamentsausschuss sollen laut taz konkrete Fördermaßnahmen folgen. So sehe z.B. ein Antrag der Regierungsfraktionen die Einrichtung einer "Agentur für Wissenschaftskommunikation" vor.

"Ob davon auch der Wissenschaftsjournalismus profitieren wird, ist ungewiss. Den für Wissenschaft zuständigen Redakteuren und freien Mitarbeitern wird einerseits 'Systemrelevanz' bei der Information der Bevölkerung attestiert. Zugleich werden im Zuge des Medienwandels ihre Stellen und Publikationsplätze immer weiter reduziert."

Vor direkter staatlicher Förderung scheuen sich die meisten Akteure aus Politik und Medien.


Altpapierkorb (Trump vs. Twitter, Frauen in Corona-Berichterstattung, Presserat, Funke, Fernsehpreis)

+++ Trump hat Beef mit Twitter. Weil die Kurznachrichten-Plattform Tweets des US-Präsidenten mit Warnhinweisen auf ungesicherte Informationen versah, poltert Trump nun mal wieder was von angeblicher Zensur (siehe u.a. Tagesspiegel). Trump twitterte soziale Medien versuchten, konservative Stimmen zum Schweigen zu bringen. "‘Wir werden sie stark regulieren oder abschaffen, bevor wir zulassen, dass das passiert‘", schrieb Trump. Später ergänzte er, Twitter habe gezeigt, dass alles, was er über sie gesagt habe, korrekt sei. Nun würden 'große' Maßnahmen folgen, schrieb der Präsident", laut SpOn. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg distanzierte sich umgehend von Twitters Linie: "'I just believe strongly that Facebook shouldn’t be the arbiter of truth of everything that people say online', Mr. Zuckerberg said. 'Private companies probably shouldn’t be, especially these platform companies, shouldn’t be in the position of doing that'", zitiert die NYT Facebook-Gründer Mark Zuckerberg aus einem Fox-Interview.

+++ In der Corona-Berichterstattung setzt sich ein Trend fort: Frauen kommen selten als Expertinnen zu Wort, ergibt eine neue Studie im Auftrag der MaLisa-Stiftung: Im TV waren 22 Prozent der Expert:innen Frauen, in der Online-Berichterstattung wurden Frauen zu etwa 7 Prozent als Expertinnen erwähnt. Insgesamt wurden in allen TV- und Online Berichten mit Corona-Bezug pro Frau zwei Männer zitiert oder befragt. "'Seit unserer ersten großen Studie von 2017 hat sich nicht viel geändert', sagt die Leiterin der MaLisa Stiftung, Karin Heisecke. 'Der Anteil von Expertinnen in der TV-Berichterstattung war damals 21, heute ist er 22 Prozent.' Man sei ergebnisoffen an die Untersuchung herangegangen, sagt Heisecke, aber dass es immer noch ein so starkes Ungleichgewicht gebe, habe sie selbst überrascht. 'Für die Medienschaffenden stellt sich die Frage, ob sie mit dieser Situation zufrieden sind'", heißt es auf der SZ-Medienseite.

+++ Der Presserat hat wieder Rügen verteilt: Fünf davon gingen an Bild-Medien, berichtet dwdl.de.

+++ Die Funke Mediengruppe will große Teile der Redaktionen ihrer Programmzeitschriften entlassen, berichtet ebenfalls dwdl.de. Fast drei Viertel der Mitarbeiter:innen sollen gehen und die Arbeit an verschiedene andere Dienstleister ausgelagert werden.

+++ Nachrichten, die wegen Corona untergegangen sind, hat die Columbia Journalism Review gesammelt.

+++ Beim Deutschen Fernsehpreis werden nun auch Streaming-Angebote berücksichtigt. Über weitere Neuerungen berichtet Blickpunkt:Film.

Neues Altpapier gibt‘s wieder am Dienstag. Frohes Pfingstfest!

1 Kommentar

ceeschow am 29.05.2020

Alles wohlüberlegt und ausgewogen. Im Titel könnte sogar "Nonsens-Resistenz" stehen, aber dann würde ein Anglizismus fehlen.
Im Text wurde das Repertoire solcher oder ihre Neu-Installation noch nicht voll ausgeschöpft. Der Text könnte also noch wissenschaftlicher sein (zwecks `communication´ und so).
Die Grammatik des Textes ist manchmal allerdings an den Grenzen der (deutschen) Grammatik ("Austausch zwischen akademischer Community und der Laien"). Die Schreibung spart nicht mit Deppen-Apostroph ("nach der Popper’schen Denkschule" -- popperschen ist übrigens ein Adjektiv) und Deppen-Leerstellen (ja ja, das Deutsche hat Bindestrich-Komposita, sogar das Englische hat welche). Und schließlich "schief gegangen ist" ist nicht dasselbe wie "schiefgegangen ist", was nach der sog. Orthografiereform im neuesten Journalismus generell untergegangen ist. Deshalb am besten nur noch Hörtext (podcast), da kann auch den "Schriftferneren" nichts passieren: Mikro einschalten, und los geht es!