Das Altpapier am 20. Juli 2020 Der Vorteil von Sonntagszeitungen am Samstag
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20. Juli 2020, 10:59 Uhr
Ist Europäischer Plattform-Idealismus "mehr Öko als System"? Jedenfalls demonstriert die Süddeutsche Woke-heit mit einem "Wertepapier" und die FAZ kurz vor Baubeginn ihres "Towers" drolligen Digital-Optimismus. Das Thema Gesichtserkennung wird unterm Radar der großen Öffentlichkeit vorangetrieben – weniger im Silicon Valley oder in China als 300 km von Berlin entfernt. Außerdem: Mister Rundfunkbeitrag" über die "lineare Mediathek" der Dritten Programme. Ein Altpapier von Christian Bartels.
Inhalt des Artikels:
- "Drolliger" Idealismus gegen Plattformkapitalismus?
- "Wertepapier" von der SZ, Digital-Optimismus von der FAZ
- Europäer können Gesichtserkennung!
- Altpapierkorb ("Lineare Mediathek", Mediendienst Integration, Gruppendynamiken bei Whatsapp und Telegram, "Privacy Shield"-Urteil, Berliner Attacke auf die "heute-show", "Babylon Berlin" und die Pandemie)
"Drolliger" Idealismus gegen Plattformkapitalismus?
Als die Öffentlichkeit noch übersichtlich schien, entstanden Debatten häufig dadurch, dass eine der beiden täglichen überregionalen, äh, Qualitätszeitungen, auf die andere reagierte. Inzwischen ist die Öffentlichkeit viiiel breiter gefächert und es fällt kaum mehr auf, wenn auch noch die Frankfurter Allgemeine auf die Süddeutsche reagiert oder umgekehrt. Das PDF zur "Gestaltung der digitalen Souveränität Europas", das eine Projektgruppe unter der Leitung u.a. des BR-Intendanten Ulrich Wilhelm ersann, wurde vorige in der SZ groß als "Grundsatzpapier, das sich liest wie eine Kampfansage", vorgestellt und machte anderswo wenig Furore (Altpapier). Nun aber nahmen die FAZ-Medien Stellung.
Mit dem hübschen Retro-Adjektiv "ein wenig drollig" steigt Harald Staun im FAS-Feuilleton in den Artikel "Werteunion/ Braucht Europa ein eigenes Internet?" (55 Cent bei Blendle) ein. Einerseits sympathisiert der Zeitungsfeuilletonist mit Kritik am Plattformkapitalismus (wobei dieser Begriff in der FAZ natürlich nicht steht) und weiß, dass die von gewaltiger Dominanz US-amerikanischer Konzerne geprägte Internet-Infrastruktur auch in den USA vor allem durch "öffentliche Gelder" aufgebaut worden ist, wie sie nun auch in Europa gefordert werden. Andererseits fände er es daher
"hilfreich, wenn die Initiative ... mit mehr Überzeugungskraft daherkäme. Und mit weniger Hybris. Die Beschreibung des möglichen 'Mehrwerts' für die privaten Endverbraucher jedenfalls klingt kaum nach einer konkurrenzfähigen Alternative, eher wie ein biederes öffentlich-rechtliches Zusatzregal im globalen Mediensupermarkt, mehr nach Öko als nach System."
Und lässt vergleichbare deutsche Initiativen Revue passieren, bei denen prominente deutsche Politiker große Worte übers Internet, dann aber schnell das Interesse verloren. War das jüngste Beispiel der eher umtriebige als beständigen Sozialdemokrat Sigmar Gabriel, auf den Staun im FAZ-Archiv stieß?
"Ach, doch: Vergangenen Oktober hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Initiative einer souveränen europäischen Cloud-Infrastruktur mit dem esoterischen Namen 'GAIA-X' vorgestellt. Aber das haben sogar die Beteiligten selbst offensichtlich gleich wieder vergessen: Im Blog auf der Seite des Projekts gibt es bisher zwei Einträge."
"Wertepapier" von der SZ, Digital-Optimismus von der FAZ
Ein paar Seiten weiter hinten im FAS-Feuilleton, in der Rubrik "Die lieben Kollegen" (Blendle), macht sich Staun dann unmittelbar über die Süddeutsche lustig. Die hat sich nicht nur redaktionell neu aufgestellt (Berliner), sondern auch ein frisches Zehn-Punkte- oder gar, wie es in der URL heißt: "Wertepapier" ("Die SZ-Redaktion hat in ein Zehn-Punkte-Papier gefasst. Es soll in der digitalen Transformation als Kompass dienen") veröffentlicht.
Die FAS gibt, schon um zu zeigen, dass sie auch neumodische Trend-Adjektive beherrscht, Einschätzungen der "woke"-heit ehemaliger und künftiger InhaberInnen von Chefposten. Und wundert sich über SZ-Formulierungen wie "Die Redaktion will Agendasetter sein und möglichst oft Anderes, Überraschenderes bieten als die Konkurrenz". Dabei: Sollten Süddeutsche-Medien künftig wirklich anderes als die Konkurrenz bieten, womöglich gar Überraschendes, wäre das ein revolutionärer Kurswechsel, der auf die ganze deutsche Medienlandschaft ausstrahlen könnte. Eine Art Leitmedium ist die SZ ja immer noch.
Und sollte sie sich im Gegenzug über die FAZ belustigen wollen, böte der Beitrag "Die F.A.Z. treibt ihre Digitalstrategie voran" aus deren Samstagsausgabe Gelegenheit. Illustriert von einem Bild des noch ungebauten "FAZ-Towers", dessen 17 Stockwerke ab 2022 Verlag und Redaktion beherbergen sollen, verbreitet die FAZ wortreich drolligen Digital-Optimismus ("Auch in Deutschland erscheint eine Entwicklung wie in den Vereinigten Staaten plausibel, bei der die Leser zusätzlich zu ihrem gewohnten E-Paper und der mobilen Homepage ein besonderes Interesse auch an Podcasts, Videos und Newsletter weiter entwickeln werden") – ganz ohne die zur Verteilung anstehende Bundes-Presse-Subvention zu erwähnen, und die "Runde Lizenzen", die der Google-Konzern bei ausgewählten deutschen Verlagen, zu denen der der FAZ gehört, einkaufen möchte (siehe v.a. dieses Altpapier). Die nicht so guten Zahlen aus dem traditionellen Papierzeitungs-Geschäft werden zwar genannt, aber so tief unten, wie es die FAZ-Wirtschaftsredaktion in Artikeln, die nicht das eigene Haus treffen, nicht zulassen würde.
Einstweilen lässt die SZ die Gelegenheit verstreichen und meldet heute nur knapp, dass die Sonntags-FAS testweise in zwei Orten samstags erscheinen soll. Das hatte die FAZ mit Bezug auf die "zunehmend schwierige Situation der Zustellung der Zeitung am Sonntag" angekündigt, aber nicht ohne den positiven Spin "Mit dem Erscheinungstermin Samstag erhalten die Leser auch mehr Zeit für die Lektüre am Wochenende" dranzuhängen. Was absolut einleuchtet – außer für Abonnenten der Werktags-FAZ, um die die FAS besonders wirbt. Solche Leser würden dann ja von zwei ausgewachsenen Papierzeitungen an einem Tag erschlagen ... Aber vielleicht wirbt die FAS auch vor allem wegen der "spürbaren Einbußen", die "das Anzeigengeschäft" erlitten hat, um Werktags-FAZ-Abonnenten, also weil Eigenanzeigen wenn nicht finanziell, dann zumindest zeitungsgestalterisch helfen.
Europäer können Gesichtserkennung!
Aber zurück zum Wilhelm-"Impulspapier". Argumentativ überzeugend wirkte in der SZ-Aufbereitung die Interview-Antwort von Wilhelms Studien-Partner Thomas Hofmann, ob Europäer denn nicht auch könnten, was TikTok kann: schnell zur globalen Konkurrenz aufschließen.
Können sie! Also zumindest auf Augenhöhe mit US-Amerikanern und Chinesen Zukunftstechniken vorantreiben, ohne erst lange über bedenkliche Konsequenzen nachzudenken. Pimeyes.com/en ist der englischsprachige Internetauftritt des gleichnamigen Unternehmens. Alternativ stünden die Sprachen Chinesisch und Polnisch zur Auswahl. Denn PimEyes sp. z o.o. hat seinen Sitz in Wrocław/Breslau.
Allerdings, das digitale Gesellschaftsspiel, einfach Fotos von irgendwelchen Gesichtern raufzuladen, um so viele weitere Fotos mit weitgehend denselben Gesichtern angezeigt zu bekommen, funktioniert nicht mehr ganz so einfach wie am Anfang. Inzwischen lassen sich Fotos nur noch von der eigenen Webcam bzw. einer an den Computer angeschlossener Kamera hochladen. Okay, diese kleine Hürde besitzt die Wirksamkeit eines "Rasen betreten verboten"-Schildes und lässt sich wie das meiste im Internet überwinden. Es ist aber eine Reaktion auf den netzpolitik.org-Beitrag "Eine polnische Firma schafft gerade unsere Anonymität ab". Nun berichteten die Autoren Daniel Laufer und Sebastian Meineck im Podcast über solche Reaktionen auf den vor anderthalb Wochen erschienenen Artikel.
Das Thema Gesichtserkennung wird in Deutschland eher selten aufgeregt, und wenn mit Beispielen aus den USA wie der Firma Clearview AI diskutiert. Dass noch größere Plattformen Gesichtserkennung ebenfalls beherrschen, schon weil sie sog. Künstliche Intelligenz mit Abermilliarden Fotos trainieren können, aber einstweilen drauf verzichten, da sie Datenschutzrecht-Probleme in aller Welt befürchten, ist klar. Die polnischen Startupper haben, wie es so oft gefordert wird, "einfach mal was gemacht" im Internet, sagen die netzpolitik.org-Autoren, und technisch, in absoluten Zahlen (mit Gesichtern von rund 900 Millionen Menschen) und in punkto Nutzerfreundlichkeit relativ schnell Augenhöhe mit Services aus den USA und China erreicht. Sogar beim Geschäftsmodell, das eher noch Modell als bereits profitabel sein dürfte: Die Basisversion ist, vermeintlich, gratis, die kostenpflichtige Variante zupackend optimistisch kalkuliert ("Bei einer Million Suchanfragen pro Monat ist die Abfrage am günstigsten"). Die Sache selbst, Gesichtserkennung, ist hochgradig ambivalent, das kommt im Audio gut rüber.
Im Kampf gegen schlimme Verbrechen wie etwa Kinderpornografie – das Argument kennen alle Seiten – sind Techniken wie Gesichsterkennung natürlich wünschenswert. Ein völlig anderer Anwendungsfall sind Demonstrationen. Im Podcast verweisen die Autoren darauf, dass "Journalistinnen und Journalisten oft Interesse haben, wer an Demonstrationen teilgenommen hat", und das mit Pimeyes besser nachvollziehen könnten, schon weil Demos ja Aufmerksamkeit erzeugen sollen und Medien oft drüber berichten, natürlich illustriert. Auf Demonstrationen Fotos aufzunehmen, ist presserechtlich erlaubt, sich dagegen zu wehren, niemandem legal möglich. Das wurde in vergangenen Jahren immer mal wieder angezweifelt und durchgesetzt, am prominentesten 2018 unfreiwillig vom "Hutbürger", der ja bei einer Pegida-Demonstration nicht gefilmt werden wollte. Ist es also gut und richtig, wenn alle, die auf Demonstrationen dabei sind, online schnell gefunden werden können? Ganz im Gegenteil?
Ansonsten äußern sich die Autoren überrascht, dass sie ihren ausführlichen 40-Fragen-Fragenkatalog von Pimeyes zügig beantwortet bekamen, was Facebook und Co eher nicht tun würden (oder wenn, dann mit bewährt nichtssagenden Textbausteinen). Und einiges im Pimeyes-Internetauftritt, was offenkundig gegen EU-Recht verstieß (das in Polen im Prinzip ja ebenfalls gilt), ist entfernt worden. Zum Beispiel die Prominente enthaltenden Beispiele, nach welchen Prominenten man denn suchen könnte. Vor allem gehört zum geltenden EU-Recht bekanntlich das Herkunftsland-Prinzip. Demzufolge wären im Fall, dass polnische Angebote gegen europäisches Datenschutzrecht verstoßen sollten, Polens Medienbehörden zuständig. Und die reagierten auf die netzpolitik.org-Anfrage erst mal nicht, dann "20 Tage" nach der Anfrage doch – mit einer Eingangsbestätigung und der Auskunft, es sei "noch zu früh, um sich im Hinblick auf die Aktivitäten von PimEyes zu äußern" ....
Bedarf das noch der Erwähnung, dass der Zugriff auf Datenbanken durch Polizei und staatliche Behörden (die vielleicht, mittelbar, schon Pimeyes' Kunden sind und im behördenreichen Europa mittelfristig jedenfalls angepeilt werden dürften) ein großes Thema sind? Dazu gibt es frische Zahlen aus dem Land Berlin, wo Polizisten nach einem Login "in bis zu rund 130 lokalen, bundesweiten, europäischen und weltweiten Datenbanken recherchieren" könnten (siehe heise.de oder wiederum netzpolitik.org). Und natürlich die breit diskutierten Fälle der Drohschreiben an Idil Baydar, Janine Wissler sowie nun auch Hessens CDU-Innenminister Beuth und Deniz Yücel (vgl. SZ-Seite 3 heute/ €, welt.de oder BLZ).
Altpapierkorb ("Lineare Mediathek", Mediendienst Integration, Gruppendynamiken bei Whatsapp und Telegram, "Privacy Shield"-Urteil, Berliner Attacke auf die "heute-show", "Babylon Berlin" und die Pandemie)
+++ "Mister Rundfunkbeitrag" geht Ende August in den Ruhestand. Das große epd medien-Abschiedsinterview mit Hermann Eicher, dem (im Vergleich mit anderen Justiziaren) relativ bekannten SWR-Justiziar, steht nun frei online. Nicht überraschend, dass Eicher den von ihm mit entwickelten Rundfunkbeitrag wie ein Löwe (bzw. wie vier Löwen) verteidigt. Überraschender, wie deutlich er, obwohl Vertreter einer Landesrundfunkanstalt, die Sender-Politik der Anstalten kritisiert. Z.B. sagt er: "Für völlig unstreitig halte ich die eigenständigen regionalen Sendestrecken in den Dritten Programmen. Wenn man in die Programmzeitschriften schaut, sieht man aber, dass in den Randzeiten, also etwa am Vormittag bis in den frühen Nachmittag, fast überall das mehr oder minder gleiche Programm läuft. Da kann man in sieben Programmen Folgen von 'Wer weiß denn so was?' oder von 'In aller Freundschaft' sehen. Das kann man nur noch als "lineare Mediathek" bezeichnen, die so ganz sicher nicht zeitgemäß ist."
+++ Seit zehn Jahren im Ruhestand ist Norbert Schneider, der u.a. Medienwächter in Düsseldorf war. In der Medienkorrespondenz frei online: sein gedruckt acht DIN A 4-Seiten umfassender Artikel "zum Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" bzw. zu 70 Jahren ARD. Schneider unterteilt die Geschichte des ÖR in "drei Phasen (mit gleitenden Übergängen)... Die erste Phase endete in den frühen 1980er Jahren. Bis dahin entwickelte sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einer der Institutionen, die, wie die Volksparteien, die Kirchen, die Gewerkschaften oder die Universitäten, eine integrierte Gesellschaft erst mit aufgebaut und dann gestützt haben. In einer zweiten Phase – etwa von Mitte der 1980er Jahre bis um 2010 – verlor der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach und nach diese systemische Bedeutung", und zumindest die beiden ersten Phasen beschreibt er dann prägnant.
+++ "Überhaupt sei das ganzes Vorgehen sei falsch: 'Ich bin deutscher Staatsbürger und Sie müssen über den Ausländerbeirat an mich herantreten.'" Das sagt Armin Kurtovic, dessen Sohn im Februar beim Mordanschlag in Hanau ermordet worden ist. Der Tagesspiegel stellt das Projekt "#imgespräch" des Mediendienst Integration vor, bei dem nicht Journalistinnen und Journalisten fragen, sondern "sich den Fragen derer, von denen sie sich üblicherweise Informationen holen", stellen.
+++ Wenn das nicht online first ist! Heute steht auf der gedruckten SZ-Medienseite das Interview mit Ann Cathrin Riedel über ihre Kurzstudie "Desinformation auf Messengerdiensten", das vor anderthalb Wochen online erschien. Lesenswert ist es weiterhin. "Jeden Tag nutzen Milliarden Menschen Whatsapp, Telegram oder den Facebook-Messenger, aber was dort passiert, ist von außen kaum einsehbar. Dort kommt es zu anderen Gruppendynamiken als in öffentlichen Räumen wie Facebook oder Youtube. Messenger bieten einen gefährlichen Nährboden für Desinformation", sagt Riedel u.a..
+++ "Ich halte die DSGVO für den richtigen Weg und fände es großartig, wenn andere Länder ihrem Vorbild folgen würden. Ich bin allerdings skeptisch, ob der EuGH nicht überschätzt, wie lang der europäische Hebel wirklich ist. Andere Länder lassen sich ungern in ihre Gesetzgebung hineinreden, und wenn wir den Datenaustausch konsequent unterbinden, wäre der Schaden auch für uns massiv", sagt Stefan Brink, Baden-Württembergs Landesbeauftragter im FAZ-Interview (€) zum "Privacy Shield"-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Altpapier).
+++ Sozusagen ein Was-wir-wissen-und-was-wir-nicht-wissen zur Attacke auf ein ZDF-"heute-show"-Team am 1. Mai in Berlin mit vielen Links zwischen Springer-Medien und Indymedia hat Thomas Moser für Telepolis erstellt.
+++ "Unter den jetzigen Corona-Einschränkungen seien Dreharbeiten für eine neue Staffel der Serie 'Babylon Berlin' unmöglich", sagte Tom Tykwer nach einem öffentlichen Gespräch mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters, meldet der Tagesspiegel.
Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.