Teasergrafik Altpapier vom 22. Juli 2020: Porträt Autor Ralf Heimann
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Das Altpapier am 22. Juli 2020 Die Tat und die Bühne

22. Juli 2020, 10:15 Uhr

Mit dem Beginn des Prozesses um das Attentat auf die Synagoge in Halle wird deutlich: Der mutmaßliche Attentäter will die Inszenierung seiner Tat fortsetzen. Stefan Niggemeier zeigt: Von der Geschichte des SZ-Autors, der sich von seiner Zeitung entfremdete, gibt’s noch eine zweite Version. Und: Warum es für Verlage schlecht ist, wenn die Flugzeuge am Boden bleiben. Ein Altpapier von Ralf Heimann.

Die große Verantwortung der Medien

In Magdeburg hat am Dienstag der Prozess gegen Stephan B. begonnen, den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Dass Journalisten sich dafür interessieren würden, kam für das Gericht offenbar reichlich überraschend. SZ-Redakteurin Annette Ramelsberger twitterte:

"Aus der kleinen Reihe 'Überforderte Justiz': Anstehen vor dem Prozess gegen Stephan B. In Magdeburg. 1,5 Stunden für zehn Meter Weiterrücken in der Schlange. Eine einzige Kontrollstelle für 150 Journalisten, 21 Anwälte, 43 Nebenkläger. Der Prozess muss später beginnen."

Welche wichtige Rolle die mediale Darstellung in diesem Prozess spielt, wurde schon in den ersten Minuten sehr deutlich. Roland Jäger schreibt in seinem Text für den MDR.

"Der Angeklagte im Prozess ist ein sehr berechnender Mensch. Noch bevor er im Saal ist, wird über seinen Anwalt mitgeteilt: Er möchte mit vollem Namen genannt werden, kann gern unverpixelt gezeigt werden."

Hier geht es nicht nur um die Aufarbeitung eines Verbrechens, sondern weiterhin um die Inszenierung der Tat. Der Angeklagte möchte den Anschlag nun auf die große Medienbühne bringen, um seine Botschaften zu verbreiten. Das gilt es zu reflektieren. Damit gilt es umzugehen. Sehr hilfreich ist dabei das, was eine junge Amerikanerin sagt, die im Prozess als Nebenklägerin auftritt in einem sechs Minuten langen Video ihre Wahrnehmung von der Tat und den nun beginnenden Prozesses schildert.

Ihrem Eindruck nach begann das Problem schon mit der Berichterstattung direkt nach dem Attentat:

"Die Medien ließen es aussehen, als wenn wir passive Opfer wären. Ich erinnere mich an einen Artikel und an das Trauma durch das bloße Lesen des Artikels, dadurch dass man diesen Opfer-Status bekommt. Die Leute sagen: 'Oh, die Juden. Noch ein schrecklicher antisemitischer Angriff auf die Juden.' Abgesehen von dieser Passivität und dieser Viktimisierung, dieser unmittelbaren Viktimisierung konzentrierte man sich auch sehr auf die jüdischen Gemeinden. Das lässt außer Acht, dass der Anschlag in Halle nicht nur ein antisemitischer Anschlag war, sondern auch ein antifeministischer und ein rassistischer Angriff."

Natürlich bietet der Prozess auch aus der anderen Perspektive die Möglichkeit, eine Botschaft zu transportieren. Aus diesem Blickwinkel geht es darum, deutlich zu machen, dass hier nicht nur ein Attentat verhandelt wird, sondern ein gesellschaftliches Problem. Die junge Frau sagt:

"Worauf wir uns im Prozess wirklich konzentrieren, ist dafür zu sorgen, dass dies als größeres Thema betrachtet wird, das Bild vom Einzeltäter zu durchbrechen und auf ein strukturelles Problem des Rassismus und des Antisemitismus in der Gesellschaft hinweisen."

Im Grunde ist die Frage damit, welche Erzählung sich am Ende durchsetzen wird. Die von dem einsamen Wolf, der sich in seiner Bude alleine im Internet radikalisiert. Oder die von rechten Netzwerken und einer Gesellschaft, die für die Radikalisierung sehr gute Voraussetzungen bietet. Am Ende liegt es auch daran, welches Bild die Medien transportieren. Zur Ankündigung von Stephan B., man möge gern seinen vollständigen Namen nennen und ihn auch gern unverpixelt zeigen, schreibt Roland Jäger in seinem Text:

"Spätestens in diesem Moment, vor dem Beginn des Prozesses wurde klar: Der Angeklagte verspricht sich vom Verfahren eine Bühne. Speziell dieser Moment hat dazu geführt, dass der MDR den Namen des Angeklagten ab sofort nicht mehr nennt."

Geschichte einer großen Enttäuschung

Welche Botschaft eine Geschichte transportiert, hängt mitunter von kleinen Details ab. Im Falle des Buch "Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch" des langjährigen SZ-Reporters Birk Meinhardt (Altpapier) ging die ursprüngliche Geschichte in etwa so: Reporter entfremdet sich immer mehr von seiner Zeitung, weil in der Redaktion die Haltung eine immer größere Rolle spielt, die Wirklichkeit eine immer kleine. Schließlich kommt es nach 20 Jahren zum Bruch, als die Zeitung eine Geschichte nicht veröffentlichen will, weil sie, so findet man, der falschen Seite, den Rechten, in die Hände spielen würde.

Das ist Birk Meinhardts Version. Sie entspricht offenbar dem Gefühl von Menschen, die den Eindruck haben: Die Medien berichten doch ehr nur noch das, was in ihr linkes Weltbild passt. Als das Buch Ende Juni erschien, teilten einige die Hinweise auf die Veröffentlichung bei Twitter oder Facebook wie den endgültigen Beweis dafür, dass der "linke Haltungsjournalismus" die Redaktionen erobert hat. Der Mechanismus dahinter war dabei sehr ähnlich. Das Buch passte ja wunderbar ins Bild. Stefan Niggemeier hat sich Meinhardts Geschichte für Übermedien angesehen (€), er hat auch die andere Seite gefragt, die Redaktion, und er hat sich die Darstellung in anderen Medien angesehen. Dabei ist er auf Details gestoßen, die die Erzählung etwas verändern.

Im Wesentlichen geht es um zwei Fälle, also zwei Seite-Drei-Geschichten, die nicht in der Süddeutschen erschienen sind. Im ersten wird ein für seine Agressionen bekanntes Nazi-Skinhead-Trio nach einem Brandanschlag verurteilt. Später stellt sich heraus, einer der drei war gar nicht an der Tat beteiligt. Er wird freigesprochen. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre er unschuldig und unbeteiligt verurteilt worden. So geht diese Geschichte nach Meinhardt.

Stefan Niggemeier hat recherchiert, dass der unschuldige Dritte vor Gericht geschwiegen hatte, um die anderen beiden zu decken. Er schreibt:

"Das verkompliziert natürlich die scheinbar einfache Geschichte vom Neonazi, der zu Unrecht verurteilt wird, weil ein Richter im Zweifel gegen Neonazis entscheidet. Nun könnte man sagen, dass auch eine lange Seite-Drei-Geschichte nicht jedes Detail erzählen kann. Aber wäre dieses Detail nicht wichtig? Und: Diese Komplizierung fehlt ausgerechnet in einem Stück, das sich als Plädoyer für Komplizierung gibt."

Der zweite Fall handelt von einem Deutsch-Äthiopier, der 2006 in Potsdam auf der Straße zusammengeschlagen wurde. Erst sah alles nach einem rassistischen Überfall aus, später war das alles nicht mehr so klar. Die beiden Verdächtigen wurden freigesprochen. Doch mehrere Prominente, unter anderem Günther Jauch, hatten da längst Partei für den Deutsch-Äthiopier ergriffen. Meinhardt rechnet in seinem Text mit diesen Prominenten ab. Die Redaktion nimmt Änderungen vor, Meinhardt ist nicht zufrieden und teilt schließlich mit, man möge den Text in den Müll werfen.

Stefan Niggemeier schildert das alles sehr ausführlich, und das ist vor allem deshalb sehr aufschlussreich, weil sich in Kombination mit den Stimmen aus der Redaktion und weiteren Informationen die Geschichte im Verlauf langsam dreht. Es kann so gewesen sein oder so. Inhalte, von denen Meinhardt behauptet, die Redaktion wolle sie unterdrücken, hatten längst in der Zeitung gestanden. Die Redaktion nennt Artikel mit Inhalten, die, so Meinhardts Eindruck, in der Zeitung nicht vorkommen sollen. Und Redakteure berichten, Meinhardt habe "ein grundsätzliches Problem damit, dass nicht jedes Wort so gedruckt werden sollte, wie er es geschrieben hatte".

Stefan Niggemeier schreibt:

"Man kann größere Teile von Meinhardts Buch als langen, enttäuschten Bericht eines Journalisten lesen, der eigentlich immer schon lieber und besser Schriftsteller geworden wäre."

Sein Urteil über das Buch: Es plädiere dafür, die "die Wirklichkeit in all ihren Farben zu zeigen, und reduziert sie selbst auf ein sehr monochromes Bild".

Der große Schwund an Bord

Welche Bedeutung der Flugverkehr für die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage hat, ist in dieser Woche in den IVW-Zahlen zur Auflagenentwicklung fürs zweite Quartal des Jahres sehr deutlich zu erkennen. Der Focus zum Beispiel hat, wie Uwe Mantel für DWDL berichtet, 30,5 Prozent seiner Auflage verloren, und das liegt allein daran, dass während der Corona-Krise die Bord-Exemplare weggefallen sind, die vorher die wegbröckelnde Auflage immer noch halbwegs passabel aussehen lassen hatten. Weil zwischen Anfang April und Ende Juni aber niemand geflogen ist, fehlen dem Focus jetzt 65.000 Exemplare in der Statistik, die man der Werbekundschaft in den Preisverhandlungen auf den Tisch legt. Bei Magazinen, die etwas häufiger gekauft als in Flugzeugen verteilt werden, fällt der Rückgang prozentual nicht ganz so dramatisch aus, aber immer noch deutlich. Der Spiegel verliert ebenfalls etwa 50.000 Exemplare, aber dort sind das nur 9 Prozent der Gesamtauflage.

Bemerkenswert auch: Die "Bild"-Zeitung hat durch den Bordexemplar-Schwund 58.000 Zeitungen weniger unter die Leute gebracht. Im Vergleich zum Gesamtverlust von 250.000 Zeitungen, die in den Auflagenzahlen nun fehlen, ist der Anteil aber doch recht überschaubar. Im Falle der "Bild"-Zeitung sind die Zahlen vor allem dadurch zu erklären, dass der Großteil am Kiosk verkauft wird, aber in den vergangenen drei Monaten sehr viel weniger Menschen unterwegs waren.

Die Zahlen aus dem Digitalgeschäft sehen besser aus. "Bild+" zum Beispiel hatte im Juni 484.000 zahlende Abonnenten, 50.000 mehr als im Jahr zuvor. Und was auch noch erwähnenswert wäre: Die Auflage der Bravo hat um ein Fünftel zugelegt. Corona-Zeit ist eben Starschnitt-Zeit.

Neben den neuen Auflagenzahlen ist in dieser Woche auch ein neuer Branchenbericht des Bundesverbands der Zeitungsverleger und crazy Digitalpublisher erschienen. Das Papier ist für Menschen, die an der Zeitungsbranche hängen, kein enorm großes Lesevergnügen, aber ein paar hoffnungsvolle Dinge stehen dann doch drin. In März, April und Mai hat der Verband zum Beispiel eine Umfrage unter seinen Mitgliedern gemacht. Etwa ein Viertel der Befragten Häuser berichtete, die die Auflage sei stabil bis steigend. Das ist doch immerhin etwas.

Allerdings ist da eben auch noch die andere Seite: Mehr als die Hälfte meldeten Einbußen von bis zu fünf Prozent, ungefähr jeder zehnte Verlag verlor mehr. Kleine Häuser behaupten sich laut dem Verband etwas besser als große. Und bevor wir kurz übers Anzeigengeschäft sprechen, noch eine weitere gute Nachricht: Zwei Drittel der Verlage melden bei Bezahlinhalten (Paid Content) ein Plus von 20 Prozent, teilweise auch darüber.

Nun zu den Anzeigen. Es ist keine große Überraschung: Fast alle Verlage haben in den vergangenen drei Monaten mehr als ein Fünftel ihrer Anzeigenerlöse verloren, fast jeder zweite sogar mehr als 40 Prozent. Auch hier sind die kleineren Verlage laut dem Verband etwas besser durch die Krise gekommen als die größeren.

Und noch schnell ein Blick aufs vergangene Jahr: Da steht vor der Wachstumsrate des Werbegeschäfts selbstverständlich ebenfalls ein Minus. Der Umsatz aus Anzeigenverkäufen ist um sieben Prozent auf 2,2 Milliarden Euro eingebrochen. Gut merken kann man sich: Die Anzeigen machen damit ungefähr ein Drittel am Gesamtumsatz aus (7,2 Milliarden Euro), natürlich immer noch ein Batzen, aber gar nicht mehr so viel im Vergleich zu früheren Zeiten. Und eine Zahl, die ebenfalls ganz gut in Erinnerung bleibt: Ein knappes Viertel der Auflage von überregionalen Zeitungen sind E-Paper. Die Regionalzeitungen hinken noch etwas zurück. Bei ihnen sind es nur neun Prozent.

In seinem Ausblick bringt der Verband das zugrundeliegende Dilemma der Verlage sehr schön auf den Punkt: "Junge Leute und damit neue Käufer erreichen sie nicht mehr mit dem Printprodukt. Ältere ausschließlich damit."


Altpapierkorb (Sommerinterview, Gefängnis für Satire, Institut für Rundfunktechnik, Trump und Facebook)

+++ Das Bundeskriminalamt kann offenbar schon seit Jahren verschlüsselte Whatsapp-Nachrichten mitlesen. Das zeigt eine gemeinsame Recherche von BR und WDR. Und sie zeigt, dass die Ermittler diese Möglichkeit auch schon genutzt haben.

+++ Nach dem Sommerinterview mit Andreas Kalbitz ist jetzt auch noch das mit Jörg Meuthen schiefgegangen. Sebastian Friedrich erklärt in einem Kommentar für das NDR-Medienmagazin "Zapp", was nicht so gut war. Zum Beispiel: "Köhr spricht Meuthen auf die Einschätzung des Verfassungsschutzes an, wonach 7.000 AfD-Mitglieder Rechtsextreme seien. Meuthen wiegelt ab und behauptet allen Ernstes, es gebe in seiner Partei lediglich eine einstellige Zahl an Rechtsextremen. Köhr fasst hier nicht nach, sondern hält Meuthen vorbereitete Zitate von Parteikollegen vor, die allesamt bereits bekannt sind und zu denen sich der Politiker schon häufig verhalten musste." Der frühere Altpapier-Autor Matthias Dell hatte, nachdem er das Interview gesehen hatte, schon am Sonntag bei Zeit Online folgenden Vorschlag gemacht: "Die Form der Sommerinterviews wird bis zur nächsten Saison einmal gründlich überdacht. Und bis dahin verpflichten die Öffentlich-Rechtlichen kluge Dokumentarfilmer oder Medienkünstlerinnen, um aus den in diesem Jahr gesendeten Interviews etwa im Stile Andreas Goldsteins interessante Footage-Arbeiten zu machen." Ich wäre sofort dabei.

+++ In Tunesien ist die 27-jährige Bloggerin Emna Chargui zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil sie einen satirisches Facebook-Posting veröffentlicht hatte, berichtet Mirco Keilbert für die taz. Das Posting im Stil eines Koranverses hatte Corona-Ratschläge wie "Wasch dir die Hände" enthalten. Human Rights Watch sieht einen großen Schritt zurück für die Meinungsfreiheit in Tunesien.

+++ Peter Welchering erklärt im Interview mit dem Deutschlandfunk-Medienmagazin @mediasres, warum das Institut für Rundfunktechnik seiner Meinung nach weiterhin gebraucht wird. In dieser Woche soll die Entscheidung fallen, ob es das Institut weiterhin gibt, oder ob es aufgelöst wird (Altpapier).

+++ Facebook hat ein Posting von Donald Trump zur Briefwahl mit einem "kaum übersehbaren Link zu Wahl-Informationen versehen", berichtet der Spiegel. Als Twitter Ende Mai einen Aufruf zu Gewalt von Trump mit einem Warnhinweis versah, hatte Facebook-Chef Mark Zuckerberg das noch kritisiert.

Neues Altpapier gibt es am Donnerstag.

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