Teasergrafik Altpapier vom 31. Juli 2020: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 31. Juli 2020 Hund beißt verlässlich Mann

31. Juli 2020, 08:53 Uhr

Über Social Media-Sucht und wie schwer sie zu beschreiben ist, und wieso Journalismus argumentativ sein muss. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Erschreckend: Jugendliche am Handy

Manchmal bezweifele ich, dass “Mann beißt Hund“ tatsächlich die bessere Schlagzeile als “Hund beißt Mann“ ist – schließlich hat “Hund beißt Mann“ auch etwas Vertrautes: Dass der blöde Pitbull sich nicht beherrschen konnte, ist erwartbar. Ähnlich, zumindest in dieser Beziehung, verhält es sich mit der Schlagzeile “Experten warnen vor Suchtpotenzial für Jugendliche“, wie der Tagesspiegel seinen Text zur “erschreckenden Zunahme des Medienkonsums von Kinder und Jugendlichen“ betitelt. Beides, Hundebiss und steigende kindliche Mediensucht, müssen berichtet werden und sind furchtbar – aber nicht überraschend (in diese Kategorie fallen für mich übrigens auch Schlagzeilen über Sexismus in Männerdomänen wie der Bundeswehr, oder über die Zunahme von gesellschaftlicher Zukunftsangst in Coronazeiten).

Schlimm: Mediennutzung als Emotionsbewältigung

Der Tagesspiegel zitiert dazu eine umfassende, aber auch dementsprechend komplexe DAK-Studie, in die man sich hier selbst hineinwühlen kann, und die in der in der Zeitung wiedergegebenen, verkürzten Form dem vielschichtigen Thema nicht gerecht wird: Die Frage nach der “Nutzung sozialer Medien als Emotionsbewältigungsstrategie“, also quasi nach der Motivation, impliziert ja schon, dass es keinen einzigen neutralen oder positiven Grund geben kann, soziale Medien zu nutzen – etwa, weil man erstaunt erleben will, wie George Harrison und Eric Clapton 1990 ganz entspannt zusammen Gitarre spielen, als ob die Sache mit Pattie Boyd nie gewesen wäre. Oder weil man Sam Heughan ohne seinen schrecklichen 18. Jahrhundert-Zopf sehen möchte, weil man sich ihn sonst nicht als James Bond vorstellen kann (nützt allerdings leider nicht viel, er ist auch ohne Zopf nicht geeignet).
Laut der DAK-Studie würde man jedenfalls das alles nur tun, um entweder “die sozialen Kontakte aufrecht zu erhalten“, “Informationen über Corona zu erhalten“, “die Sorgen zu vergessen“, “Stress abzubauen“,“Wut loszuwerden“, “die Langeweile zu bekämpfen“ oder “der Realität zu entfliehen“ – ganz genau, manche Menschen entfliehen ausnehmend gern der Realität, einige werden darum sogar Filmjournalistinnen. Und auch die meisten anderen genannten sind hehre Gründe - ob man nun mit einer Flasche Rum und einer gebundenen Ausgabe von “Der Seewolf“, oder mit einer Nacht voller YouTube-Clips mit alten Cream-Live-Konzerten seine Sorgen vergisst. Das hätte der Tagesspiegel vielleicht anmerken können (bei aller berechtigter Sorge um pathologisches Verhalten und Kontrollverlust – ich sehe ja das Problem und finde die “zunehmenden Glücksspielelemente“ bei Onlinespielen ebenfalls erschreckend. Aber das Ganze ist kompliziert – Onlinespielesucht wurde erst 2018 in den Diagnosekatalog der WHO aufgenommen, und es kursiert die Ansicht, sie sei eh weder eine echte Sucht, noch eine eigenständige Erkrankung. Hier eine etwas vage Erklärung des Bundesgesundheitsministeriums dazu.

Igitt: Mütter hassen Porno

Aber ohne weitere Abschweifungen -  oder ach nö, vielleicht doch noch kurz zum auch gar nicht so weit entfernten Thema “Onlinepornosucht“: Die Welt kommentiert hier den Dokumentarfilm “Mütter machen Porno“, der an zwei Terminen auf Sat1 ausgestrahlt wurde, und in dem fünf Frauen sich aufmachen, um einen Pornofilm produzieren, den sie auch ihren eigenen Kindern zeigen würden. Und erwähnt in der recht gutmütigen Kritik mit dem Fazit:

“Nur der Zuschauer blieb ein wenig ratlos zurück – vielleicht gerade wegen der eigentlich recht sympathischen Darsteller und der ehrenwerten Motive“

mit keiner Silbe das Hauptproblem des Films: Die durch die Bank nach dem Klischee der sex- und masturbationsfeindlichen, verklemmten Mutter ausgesuchten Frauen, die sich anscheinend ganz allein um die sexuelle Aufklärung ihrer Kinder kümmern. Vielleicht weil die Väter vor lauter Pornokonsum nicht dazu kommen. So sind se, die Männer und die Frauen, und so werden se nach dieser Prämisse auch immer bleiben. Oder wie die Kinks einst in ihrem unter dem Stichwort Transphobie durchaus zumindest diskutablen Song “Lola“ ein wenig furchtsam unkten: “Girls will be boys, and boys will be girls / It's a mixed up, muddled up, shook up world.“

Erhellend: Vernehmungsvideo

Jetzt aber das nächste Thema: Übermedien hat hier mit dem Redaktionsleiter von “Strg_F“ über deren YouTube-Veröffentlichung und redaktionelle Bearbeitung (durch tendenziöse Musik, Schnitt und Schrifttafeln) vom Vernehmungsvideo des mutmaßlichen Walter Lübcke-Mörders während eines laufenden Verfahrens gesprochen (Altpapier von Mittwoch und Donnerstag). Und jener Redaktionsleiter sagt:

“Wir haben das Video veröffentlicht, weil es erhellend ist. Weil es Befunde liefert, um die Tat einordnen zu können. Und darum geht es ja. Ein öffentliches Gerichtsverfahren ist nicht nur dazu da, juristisch die Schuld zu klären. Es ist auch für die Reflexion über Taten wichtig. Die Gesellschaft muss über diese Tat diskutieren. In diesem Fall ist das besonders relevant, weil es in der Bundesrepublik wahrscheinlich der erste rechtsextremistisch motivierte Mord an einem Politiker ist – das ist von überragendem Interesse. Diese Vernehmungsvideos bieten noch einen Baustein, noch eine Perspektive auf diesen Fall.“

Das ist tatsächlich erstaunlich – ein Gerichtsverfahren ist also nach Ansicht von "Strg_F" für die Reflexion über eine Tat wichtig, und nicht “nur für die juristische Klärung“? Aber sollte die juristische Klärung nicht genau durch die Reflexion von Juristen und Juristinnen erfolgen, die sämtliche Beweise, Aussagen und Plädoyers evaluieren, und dann nach gültigen Gesetzen urteilen? Und urteilt die Judikative nicht ohnehin im Sinne der Gesellschaft, nämlich “im Namen des Volkes“?

Neu: Nicht mehr argumentativ führen

Weiterhin erklärt der Redaktionsleiter, dass der Journalismus auf YouTube und für junge Menschen unter 30 anders als die klassische Vermittlung durch Dokumentationen oder politische Magazine funktioniere,

“weil wir die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht so stark argumentativ führen wie früher. Wir legen Befunde vor, die aus einer Recherche und einer gründlichen Befassung mit dem Thema kommen. Wir erleben, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer schlau genug sind, sich ein eigenes Bild zu machen und das auch einordnen können.“

Hoppla, es solle also weniger stark um Argumente gehen, als bei einem politischen Magazin? Worum denn dann – um Instinkt? Gefühl? Um Mitzuraten, wer schuld ist? Um Interaktivität? (Hier passt ganz kurz ein Satz aus einer Rezension in der “Zeit“ zu Lars Kraumes interaktivem Fernsehfilm “Terror“ nach einem Ferdinand von Schirach-Theaterstück: “Wer Unrecht und Schuld in eins setzt, fällt um Jahrhunderte hinter unsere Rechtskultur zurück und benutzt seine Zuschauer als Gaudi-Gäste für eine Rechtsshow der billigen Sorte.“)

Das Befremdlichste ist jedoch die Antwort von "Strg_F" zu der Frage nach dem Opferschutz und der Überlegung, wie belastend es für die Angehörigen des Opfers sein kann, wenn die Bilder des mutmaßlichen Mörders, seine Argumentation und Tatbeschreibung öffentlich verfügbar sind:

“Wir haben darüber nachgedacht und stark damit gerungen. Ich glaube, am Ende ist die gesamte Situation, das gesamte Verfahren unendlich belastend.“

Und dennoch haben sie’s veröffentlicht. Tja.

Altpapierkorb (Netflix-Rekord, Arbeitbedingungen bei "Ellen", Michelle Obamas neuer Podcast)

+++ Viele merken an, dass der Streamingdienst Netflix den Sender HBO bei den diesjährigen Emmy-Nominierungen überholt hat, und dass mit “Unorthodox“ eine deutsche Produktion dabei ist – die taz, die Süddeutsche, die Deutsche Welle. Letztere berichtet auch kurz davon, das noch nie so viele PoC in den Schauspielkategorien nominiert waren – ein Thema, das die US-Berichterstattung, wie hier in Harpers Bazaar, dominiert.

+++ Und ist es nicht zum Piepen, wie sehr die Geschichte um das “toxische Arbeitsklima“ bei Ellen DeGeneres (hier in der FAZ) sich der Story des Films “Late Night“ annähert?!

+++ Ansonsten hat man den Michelle Obama-Podcast gehört, und findet ihn “wohlig“ (taz), registriert ein “Nagellackfläschchen“, das auf dem Foto auf einem Tisch nebenan steht (Zeit), und dass der Name Trump nicht fällt (FAZ). Klingt generell nicht wirklich nach “must-hear“.

+++ Und die Meldungen zum Tod des Journalisten und Stoiber-Berater Michael Spreng dürfen auch nicht fehlen – hier im Tagesspiegel, hier im Stern. Die Süddeutsche hat schon einen ganzen Nachruf hingekriegt, und ihn mit den Worten “Verschmitzt, frech, leidenschaftlich“ überschrieben.

Neues Altpapier gibt es am Montag. Ein schönes Sommerwochenende!

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