Teasergrafik Altpapier vom 11. September 2020: Porträt Autorin Nora Frerichmann
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Das Altpapier am 11. September 2020 Nachrichtenzyklus vs. "bigger picture"

11. September 2020, 11:37 Uhr

Die medienethische Debatte um das neue Buch des US-Journalisten Bob Woodward zeigt Konflikte zwischen tagesaktuellem Nachrichtengeschäft und dem Anspruch ans "bigger picture". RTL gesteht intern Fehler bei der Solingen-Berichterstattung ein, nach außen aber nicht. Und Jan Böhmermann zettelt ein Hickhack mit der FAS an. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Der richtige Zeitpunkt

Trump-Nachrichten finden ja oft und schnell ihren Weg aus den USA über den Atlantik. Dass es dabei aber nicht primär um Verfehlungen des Präsidenten, sondern um Streitfragen journalistischer Verantwortung geht, war in seiner Amtszeit bisher eher selten. Nun schwappt eine medienethische Debatte über dem Umgang mit Rechercheergebnissen aus den USA herüber.

Die Diskussion geht auf die Veröffentlichung von "Rage" bzw. "Wut" zurück, das neue Buch des Watergate-Journalisten Bob Woodward (gestern bereits hier im Altpapier ganz kurz angeschnitten). Inwiefern der ehemalige Washington-Post-Mann Trump mit seinen Recherchen in Bedrängnis bringt, soll uns in dieser Kolumne weniger interessieren. Die berufsethische Debatte dreht sich stattdessen um den zeitlichen Aspekt von Woodwards Recherchen und ihrer Veröffentlichung.

Von Woodward aufgezeichnete Interviews zeigen, dass der Präsident zugab, ihm sei bereits im Februar bewusst gewesen, dass Covid-19 tödlicher sei als eine Grippe, das Coronavirus aber herunter gespielt, um Panik zu vermeiden. Bei rund 200.000 Todesfällen in den USA werden nun Fragen nach der publizistischen Verantwortung laut: Hätte Woodward seine Informationen angesichts der Pandemie früher veröffentlichen müssen, um Menschen vor dem Virus zu schützen? War es ethisch vertretbar, sein Wissen bis zur Veröffentlichung des Buchs zück zu halten? Bei Poynter fasst Al Tompkins die Kritik in den USA so zusammen:

"Critics are already lining up to accuse Woodward of withholding vital information — information that might have stopped COVID-deniers in their tracks — in order to sell books in the weeks before the election. Critics essentially cite Woodward’s loyalty as being toward his book, not reporting news that the public needed to know at the moment."

Zwar wirft Christian Zaschke in der Süddeutschen mit Blick auf die Kritik an dem Journalisten ein:

"Es ist davon auszugehen, dass nicht wenige Journalisten in Washington neidisch sind darauf, dass ihr Kollege Bob Woodward mal wieder die Schlagzeilen beherrscht und mit seinem Buch zudem eine Menge Geld verdienen wird. Daher war abzusehen, dass dessen jüngste Veröffentlichung, ganz abgesehen vom Inhalt, nicht überall mit Wohlwollen aufgenommen werden würde."

Die Frage um den Zeitaspekt sieht er aber dennoch als gerechtfertigt. (Wer näheres Interesse am zeitlichen Ablauf von Trumps Aussagen hat: Die BBC hat übersichtlich zusammengestellt, was er wann Woodward sagte und was öffentlich.) Die Medienkolumnistin der Washington Post, Margaret Sullivan, betont nach einem Gespräch mit Woodward, dass dieser nun mal kein Player im tagesaktuellen Geschäft sei, sondern sich vor allem auf größere Zusammenhänge konzentriere:

"Woodward said he believes his highest purpose isn’t to write daily stories but to give his readers the big picture — one that may have a greater effect, especially with a consequential election looming. Woodward’s effort, he said, was to deliver in book form ‚the best obtainable version of the truth,‘ not to rush individual revelations into publication."

Wichtig sei ihm gewesen, die Informationen vor der Präsidentschaftswahl im November zu veröffentlichen. Woodward beruft sich außerdem auf seine journalistische Pflicht, die Aussagen Trumps vor Veröffentlichung zu prüfen. Dafür habe er bis Mai gebraucht, heißt es in einer AP-Meldung bei der Süddeutschen.

Und die Folgen?

Bei der Diskussion treffen vor allem zwei Betrachtungsweisen aufeinander: Ein deontologischer Ansatz, der weniger direkte Folgen der Berichterstattung im Auge hat, sondern in diesem Fall die Pflicht zur genauen Prüfung und Recherche mit Blick auf die Gesamtveröffentlichung aller Informationen als Buch.

Dem gegenüber steht Ansatz mit Schwerpunkt auf eine verantwortungsethische Herangehensweise, der sich stärker auf die direkten Konsequenzen der Berichterstattung - oder in diesem Fall auf die möglichen Konsequenzen einer zunächst ausgebliebenen Berichterstattung - konzentriert.

Entschieden für eine frühere Veröffentlichung spricht sich hierzulande Ulrich Wickert im Interview mit Deutschlandfunk Kultur aus: Spätestens im April hätte Woodward seine Ergebnisse veröffentlichen müssen, findet der ehemalige Tagesthemen-Moderator. Die verharmlosenden Äußerungen des US-Präsidenten hätten viele US-Staaten dazu bewogen, die Coronaregeln zum Schutz ihrer Bürger aufzuheben. Die Gouverneure seien "Trump-hörig" gewesen.

"‘Die wichtigste Arbeit eines Journalisten ist die Aufklärung', betont Wickert. (…) Der Journalist sei nicht Journalist für sich selbst, sondern ein Kommunikator. Wenn er etwas ganz Schreckliches erfahre, müsse er, wenn es politische Auswirkungen haben könnte, darüber sprechen."

Daneben stehen auch noch die Was-wäre-gewesen-wenn-Fragen nach realistischen Folgen einer früheren Berichterstattung im Raum. So schreibt Sullivan zum Beispiel:

"I don’t know if putting the book’s newsiest revelations out there in something closer to real time would have made a difference. They might very well have been denied and soon forgotten in the constant rush of new scandals and lies."

Interessant sind neben dieser Diskussion auch die Aussagen, die Woodward Trump rund um den Fall des in im saudischen Konsulat in Istanbul ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi entlocken konnte (siehe T-Online, Spiegel und Welt).

Altpapierkorb (RTL zu Solingen, Janni vs. FAZ, Buhrow zu Haltung im Journalismus, Rundfunkbeitrag, Schlesinger bleibt RBB-Intendantin)

+++ Laut Übermedien gesteht RTL intern Fehler bei der Solingen-Berichterstattung ein. Jürn Kruse und Boris Rosenkranz berichten über die Einsicht und interne "Konsequenzen".

+++ Auf der FAZ-Medienseite (€) gibt's ein großes Interview von Michael Hanfeld mit dem WDR-Intendant und turnusmäßigen ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow. Es geht um die Kennzeichnung der "Tagesthemen"-Kommentare als Meinung, um gefühlte Generationenkonflikte und – natürlich – den Rundfunkbeitrag.

+++ Patricia Schlesinger bleibt Intendantin beim RBB. Kurt Sagatz berichtet beim Tagesspiegel über anstehende Vorhaben – auch mit Blick auf den ARD-Vorsitz ab 2022.

+++ Jan Böhmermann beschwert sich bei Twitter darüber, dass ein FAS-Interview zu seinem neu erschienenen Twittertagebuch nicht gedruckt wurde und twittert das Gespräch nun in einem Thread aus 73 Tweets. Es geht – Überraschung – sehr viel um Twitter. Die FAZ will dazu offenbar nix sagen.

+++ Die ARD/ZDF-Langzeitstudie bestätigt nochmal, das Streaming bei den 14- bis 29-Jährigen die lineare TV-Nutzung überholt hat (dwdl.de) und eine Studie des Umweltbundesamts legt nahe, dass Streaming über einige Übertragungswege nicht so klimaschädlich ist, wie angenommen (Tagesschau).

+++ Gestern Abend wurden die Deutschen Radiopreise vergeben. In der Kategorie Podcast ging der Award an "180 Grad: Geschichten gegen den Hass" (siehe Altpapier). "Ich würd mich noch n kleinen Ticken mehr freuen, wenn die Branche diese aufwändige Art des Storytellings (...) nicht nur feiern würde an Abenden wie diesen, sondern auch noch n kleines Bisschen mehr mit in die Verantwortung gehen würde, wenn‘s um die Produktion geht", sagte Host Bastian Berbner, als er den Preis entgegennahm. Einen Überblick über die anderen Preisträgerinnen und Preisträger gibt‘s hier.

+++ Dass TikTok bei einigen Themen und Personengruppen Shadowbanning betrieben hat, ist eigentlich nichts neues. Netzpolitik berichtet nun über Recherchen des Australian Strategic Policy Institute, nach denen die Videoplattform des chinesischen Mutterkonzerns ByteDance weltweit Hashtags zu LGBTQ-Themen auf russisch und arabisch zensiert.

Neues Altpapier gibt's am Montag.

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