Teasergrafik Altpapier vom 11. November 2020: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 11. November 2020 Riesige bunte Kugeln mit Spikes an der Oberfläche

11. November 2020, 10:36 Uhr

Ist es schon Zeit zu überlegen, wie die Corona-Pandemie in Erinnerung bleiben wird? Jens Spahns Gesundheitsministerium kooperiert nun mit "Deutschland populärster Suchmaschine". Die träge EU will auffällig flott Hintertüren in Messenger einbauen. Und im alten, aber funktionalen deutschen Kabelnetz tut sich auch etwas. Außerdem: Journalisten berichten, wie sie in Leipzig keinen Ausweg mehr sahen. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Corona als Medienereignis

Hurra, der Impfstoff! Hellt sich außer an den sog. Märkten, die die Kurse an den Börsen und indirekt vieles andere mit bestimmen, die Stimmung auch in weiteren Teilen der Gesellschaft auf? Jedenfalls könnte man, einerseits die Gefahr durchs Virus vor Augen (Tagesspiegel-Medienredakteur Joachim Huber deshalb beim Bundespräsidenten und daher gestern abend in den ARD-"Tagesthemen"), andererseits schon mal üben, wie genau die Namen Özlem Türeci und Uğur Şahin ausgesprochen und geschrieben werden. Eine Migrations-Erfolgsgeschichte steckt neben vielem anderen schließlich auch im Impfstoff.

Und als ob sie es geahnt hätte, spielte die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg über den Informationsdienst Wissenschaft just jetzt das selbst geführte Interview "Die Corona-Krise als Medienereignis" mit ihrer Medienwissenschaftlerin in die Diskurse, das ein bisschen bereits im Rückblick auf die Pandemie und darauf, wie sie in die "Geschichtsbücher" einziehen wird, schaut. Nicole Wiedenmann sagt u.a.:

"Die mediale Omnipräsenz der Aspekte, die ich angeführt habe, wird mutmaßlich dazu führen, dass wir das Virus als riesige bunte Kugeln mit Spikes an der Oberfläche in Erinnerung behalten werden und dass der Mund-Nasen-Schutz als Symbol für diese, aber wahrscheinlich auch für weitere Pandemien stehen wird. ... "

Einen trendigen Seit-dem-Zweiten-Weltkrieg-Vergleich gibt's dann auch noch ("... hat wohl kein Thema so ausschließlich über einen so langen Zeitraum die massenmediale Kommunikation beherrscht"), bei dem man gerne erführe, ob das empirisch ermittelt wurde oder ob das "wohl" eher für Gefühltheit steht. Hoffentlich lässt sich bald abschließend über so was urteilen.

Spahn-Google-win-win?

Falls jemand gerade keine bunten Kugeln mit Spikes vor Augen hat: hier wären welche. Entnommen haben wir das Hintergrundbild dem noch jungen Portal mit dem einprägsamen Namen gesund.bund.de, das jetzt richtig durchstartet.

"Dazu arbeitet das Bundesgesundheitsministerium mit Google zusammen. Bei einer medizinischen Stichwortsuche präsentiert die Suchmaschine künftig die Antworten des Nationalen Gesundheitsportals gesund.bund.de in einem prominent hervorgehobenen Info-Kasten",

teilt das Ministerium mit. Im via Googles Youtube auf derselben Seite eingebundenen Pressekonferenz-Video (das erstmal mit gut zehn Minuten Leerlauf beginnt und auch später technische Probleme aufweist) spricht Minister Spahn ausgiebig über "Deutschland populärste Suchmaschine" und bietet dem Google-Manager Philipp Justus eine schöne Bühne für großes Geblurbe. Auf Twitter hielt das Gesundheitsministerium dann gar noch für nötig, mitzuteilen:

"Inhaltlich und finanziell bleibt das Portal auch nach dem Einstieg von Google unabhängig ...",

obwohl Spahn im Video mitnichten von "Einstieg" spricht, sondern von "Zusammenarbeit". Aus dem freundlichen Blogpost von Google geht auch nicht hervor, ob im Rahmen der "Zusammenarbeit" Geld fließt. Vielleicht haben sich Google und Spahn ja einfach wegen ihrer großen Bedeutungen als Erfolgs-Suchmaschine bzw. Youngster der letzten Volkspartei, der noch längst nicht die letzte Karriereleiter-Stufe erklommen haben dürfte, zusammengetan. "Doch warum kooperiert das BMG nun exklusiv mit Google und macht damit Werbung für die ohnehin größte Suchmaschine?", fragt die Berliner Zeitung mit Recht, allerdings rhetorisch. In der PK ging es dann eher um Impfstoff-Fragen als um was mit Google.

Einerseits, angesichts der infrastrukturellen Bedeutung, die Google als Quasi-Monopolist auf (längst nicht nur, aber auch) dem Feld der Suchmaschinen innehat, mag so eine Ministeriums-Kooperation sinnvoll sein. Bloß eine Bundesregierung mit digitalpolitischen Ansprüchen hätte wenigstens pro forma zwei, drei weitere Suchmaschinen, darunter eine europäische, ins Boot geholt. Weiterhin wichtig bleibt zu beobachten, wer wie, mit welchen Argumenten und warum mit dem Datenkraken Google kooperiert. Für Bundesminister mit ihren Milliarden-Etats gilt das ganz besonders.

Zusammengeschlagen und eingekreist in Leipzig

Gestern Thema im Altpapier waren die Leipziger "Querdenker"- Demonstration und die Aggressionen gegen Journalisten. Dazu hat jetzt.de, das Junge-Leute-Portal der Süddeutschen (das einstmals eine Zeitschrift gewesen ist und als reines Online-Dings zwischenzeitliche Rivalen wie "Bento" locker überlebt hat), Erlebnisse protokolliert, und zwar des freien Journalisten Tim Mönch, der taz-Korrespondentin Sarah Ulrich und des Tagesspiegel-Reporter Julius Geiler. Dieser schildert, wie ein Fotograf "vor den Augen der Polizei zusammengeschlagen" worden sei. Ulrich berichtet:

"... Am Samstag, gab es einen Moment, in dem wir Journalist:innen keinen Ausweg gesehen haben: Vor dem Leipziger Hauptbahnhof ist eine große Kreuzung. Die Demo-Teilnehmenden sollten abreisen, aber das wollten sie natürlich nicht. Wir Medienvertreter:innen standen alle in der Mitte, um uns herum ein Kreis aus Polizist:innen. Um diesen Kreis herum eine sehr aggressive Masse an Leuten, die uns angefeindet haben. Wir wurden immer wieder heftig beschimpft, als 'Lügenpresse', als 'Medienf*tzen'. Und wir konnten nicht raus. Es war nicht möglich, uns sicher da rauszubringen. Das war Wahnsinn. Ich hatte Gewalt erwartet. Aber das war eine neue Dimension."

Ein Kommentar in der taz bezieht sich nicht auf den Teilaspekt der Gewalt gegen Journalisten, sondern auf die Kritik an der Polizei. Mit dem abschließenden Satz "Niemand will eine Polizei, die sofort zuschlägt, sogar dann nicht, wenn es um Wirrköpfe und Rechtsextreme geht", erregt Simone Schmollack allerhand Kritik in den Kommentaren unten drunter. Wieauchimmer: Solch ein Binnenpluralismus – dass in redaktionellen Medien auch mal andere Meinungen als die dort gewohnten geäußert werden – kann dem Journalismus nur gut tun.

Und womit Schmollack zumindest einen Punkt trifft: Unterschiedliche Milieus wünschen sich jeweils eine Polizei, die mit wirksamen Mitteln gegen die vorgeht, die es verdient haben, aber die anderen nicht. Womit wir bei einer neuen, bemerkenswert flotten EU-Initiative sind.

Die EU will Entschlüsselungs-Hintertüren

"Im EU-Ministerrat wurde binnen fünf Tagen eine Resolution beschlussfertig gemacht, die Plattformbetreiber wie WhatsApp, Signal und Co. künftig dazu verpflichtet, Generalschlüssel zur Überwachbarkeit von E2E-verschlüsselten Chats und Messages anzulegen",

meldete der öffentlich-rechtliche österreichische ORF. Aus ging die Initiative von der derzeitigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

Für den "Generalschlüssel" gibt es weitere unterschiedliche Umschreibungen aus dem Tür-/Schlüssel-Bildfeld: "eine Art 'Nachschlüssel', mit dem Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation lesbar gemacht würde", beschreibt es Constanze Kurz bei netzpolitik.org. Von "Generalschlüsseln, mit denen die Verschlüsselung umgangen werden kann", schreibt wiederum Matthias Schüssler im schweizerischen Tagesanzeiger. Von einer "Hintertür in den großen Messengern" schrieben Karoline Meta Beisel und Max Muth in der SZ.

Gemeinsam ist allen Berichten das Staunen darüber, dass als Anlass für diese flotte Initiative die islamistischen Mordanschläge dienen, die gerade Österreich und Frankreich erschütterten. Dabei ist zumindest im Wiener Fall klar, dass Geheimdienste den späteren Mörder schon lange auf dem Schirm hatten und dann (ähnlich wie die deutschen Dienste im Fall des noch immer geheimnisumwitterten Berliner Massenmörders Anis Amri) auf einmal wegschauten.

Die Kritik am Plan lautet, zusammengefasst, dass "nicht nur die Guten Schwachstellen ausnutzen" (SZ), sondern dass, wenn solche Entschlüsselungs-Tools einmal bestehen, es für die Anbieter unmöglich wäre, außer Hackern (die oft ja kompetenter sind als Behörden) überhaupt alle jeweiligen Machthabern in aller Welt den Zugang verwehren. Sollen die Messenger sich denn, fragt Constanze Kurz,

"aufschwingen zu Richtern darüber, ob dieser oder jene Geheimdienst gerade noch akzeptabel ist, während dieser oder jener Staatsanwalt ganz klar schon für eine Diktatur arbeitet?"

Es tut sich was im (Fernseh-)Kabelnetz

Jetzt wird's kompliziert! Es geht aber weiterhin um Massenwirksamkeit. Ziemlich viel Mediennutzung läuft über die Infrastruktur, die in der alten BRD  in der frühen Kohl-Ära unter dem Namen Kabelnetz verlegt wurde. Diese Leitungen bringen in ziemlich viele Wohnungen recht schnelles Internet, klassisches Fernsehen und die immer wichtiger werdenden Mischformen.

In dieser wichtigen Infrastruktur gibt es zwei neue Entwicklungen. Zum Einen öffnet Vodafone nun sein Kabelnetz, das größte in Deutschland, für zumindest einen Wettbewerber, wie golem.de berichtet. Das war Teil eines Zugständnisses, das der britische Konzern als Besitzer des größten deutschen Kabelnetzes dem Kartellamt machte, um auch das zweitgrößte deutsche Kabelnetz kaufen zu dürfen. Der deutlich kleinere Netzbetreiber Tele Columbus gehe in die gleiche Richtung.

Zum Anderen ist in einem 415 Seiten starken Gesetzentwurf des Bundeswirtschaftsministerium "ein medienpolitischen Sprengsatz versteckt". Das schreibt Michael Ridder im dreieinhalb Seiten starken, noch nicht online verfügbaren Beitrag "Zur Diskussion über das Nebenkostenprivileg" in der aktuellen epd medien-Ausgabe. Dieses Nebenkostenprivileg stammt aus dem Jahre 1984 und soll nur noch bis Ende 2025 gelten. Worum es geht?

"Derzeit können Wohnungsbaugesellschaften Pauschalverträge mit Breitbandanbietern abschließen und ihren Mietern einen TV-Zugang zu vergünstigten Preisen zur Verfügung stellen. Will der Mieter allerdings einen anderen Anbieter nutzen, muss er den Zugang selbst bezahlen - zuzüglich zu den Nebenkosten, die ihm durch den Mietvertrag entstehen."

Heißt: Ziemlich viele Menschen – zwischen "acht bis zwölf Millionen Mietern" schwanken die Schätzungen  – können ihren Anbieter für Kabelfernsehen und Internet nicht so frei wählen wie jeder ja zwischen zahllosen Mobilfunk-Anbietern, Stromanbietern und Streamingdienst-Anbietern wählen kann. Zu dem Thema lief bereits ein noch kaum beachteter Lobbystreit an, der schon wegen der Millionen-Bedeutung erheblich anschwellen dürfte. Gegen die Gesetzesänderung sind die Kabelbetreiber, auf deren Seite sich mit der rheinland-pfälzischen Medienstaatssekretärin Heike Raab (SPD) bereits eine der wichtigsten Medienpolitikerinnen stellte. Der mit Abstand größte Kabelnetzbetreiber Vodafone argumentiert etwa mit der Behauptung, dass dann "viele Rentner, alleinerziehende Mütter und Hartz VI Empfänger ... sich den TV-Zugang nicht mehr leisten" könnten. Dazu meint Ridder :

"Das klingt an der Oberfläche plausibel, ist aber leider nur die halbe Wahrheit. So gibt es die vermeintliche Wahlfreiheit der Vermieter in der Praxis nur dann, wenn große Wohnungsbaugesellschaften selbst ganze Wohnkomplexe vermieten. Private Eigentümer, die eine Wohnung nutzen oder vermieten, haben oft keine Einflussmöglichkeit auf die Auswahlentscheidung. Diese wird vorgelagert bei Bauträgern oder Verwaltern gefällt, die seit Jahrzehnten eng mit der Kabelbranche verbunden sind. Und dabei geht es auch um zusätzliche Einnahmen, zu deren Generierung raffinierte Konstruktionen erdacht wurden. Das funktioniert dann so: Große Immobilienunternehmen organisieren das Kabelgeschäft über Konzerntöchter, die zu Großhandelskonditionen bei Kabelbetreibern einkaufen, den Vorteil aber nur bedingt an die Konzernmütter und damit an die Verbraucher weitergeben. So blüht ein eigener Zweig in der sogenannten Value-add-Strategie der Unternehmen",

wozu er dann aus dem Geschäftsbericht der Vonovia S.E. zitiert. Ridder nennt die

"Abschaffung der Umlagefähigkeit aus Sicht der acht bis zwölf Millionen Mieter, die in unkündbaren Zwangsverträgen mit Kabelnetzbetreibern feststecken, durchaus wünschenswert."

Was ist sinnvolle Medien-Infrastruktur, deren Bedeutung im Corona-Jahr 2020 nochmals augenfällig großer wurde? Und was schafft eher "Werte" im Sinne von Profit für Konzerne wie Vonovia und Vodafone, ohne dass das noch mit Gemeinwohl zu tun hat? Auch darüber sollte auf möglichst breiter Basis diskutiert werden.


Altpapierkorb (Trumpismus, Anstalten-Hierarchien in der Wahlnacht, wie Amazon Märkte aufrollt, "Presseschikane" am Landgericht Münster? "Die Heimkehr")

+++ "Auch wenn man sich weitgehend einig ist, dass der Trumpismus wohl nicht einfach verschwindet, muss man sich doch einem Publikum gegenüber, das mehrheitlich für einen versöhnlichen Präsidentschaftskandidaten stimmte, neu aufstellen. Und so gab man sich sogar bei Fox News ungewohnt unparteiisch", berichtet Nina Rehfeld auf der FAZ-Medienseite aus der US-amerikanischen Medienlandschaft. +++ Schadet es New York Times, Washington Post und CNN, dass sie "das Böse ... , gegen das sie die Wahrheit verteidigt haben", nun verlieren? Das überlegt Florian Rötzer bei Telepolis.

+++ Die, wie man im Rückblick weiß, alles andere als eine Entscheidung bringende Wahlnacht im deutschen Fernsehen tat sich Dietrich Leder für die Medienkorrespondenz an. Und weil's ja nicht seehr spannend zuging, achtete er unter anderem auf "Hierarchie-Unterschiede" ("Schönenborn als WDR-Programmdirektor war dem Moderator der ARD-Wahlnacht, Andreas Cichowicz, der im Hauptberuf Fernsehchefredakteur und stellvertretender Programmdirektor des NDR ist, mehr als gleichgestellt. Bettina Schausten als stellvertretende Chefredakteurin des ZDF hingegen ist Christian Sievers’ Vorgesetzte ..."). +++ Thomas Gehringer wohnte für epd medien dem "endlosen Palaver und der zähen Zahlenschlacht" bei.

+++ "Amazon verfolgt seit seiner Gründung die erfolgreiche Strategie, alle Unternehmensgewinne erstmal wieder in das Aufrollen neuer Märkte zu investieren. Damit gelingt es dem Konzern seit Jahren, immer mehr Märkte dominant zu besetzen. Dazu zählt unter anderem der Markt für Cloud-Dienstleistungen, den man inzwischen mit den eigenen AWS-Produkten beherrscht. Oder der für Sprachassistenten, wo das eigene Produkt Alexa zahlreiche regulatorische Fragestellungen aufwirft und der Name zum Synonym für Sprachwanzen geworden ist ...": Da meint Markus Beckedahl von netzpolitik.org, dass das aktuelle EU-Vorgehen gegen Amazons Marktmacht noch längst nicht genug sei.

+++ Auf der FAZ-Medienseite beklagt Reiner Burger "Presseschikane" beim aktuellen Prozess wegen der Missbrauchs-Fälle in Münster, weil das Landgericht nur einen Platz für überregionale Tageszeitungen vorsah, den dann die Bild-Zeitung ergatterte. +++ Hannes Hintermeiers Nachruf auf Anneliese Friedmann ("Das Wort von der Ära, die mit ihr zu Ende geht, hat an dieser Stelle seine Berechtigung", siehe Altpapier gestern) steht auch frei online.

+++ Die ebenfalls gestern hier erwähnte Ankündigung des Nonlinearitäts-Pioniers Netflix, bzb. auch linear zu senden, nimmt Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite zum Anlass fürs Feuilleton "Das Fernsehen als Sehnsuchtsort". +++ Netflix' jüngster "Content Road Show", um neue deutsche Projekte anzukündigen, wohnte Markus Ehrenberg vom Tagesspiegel bei.

+++ Und die auf einmal "aktueller denn je" gewordene Doku "Die Heimkehr" über zurückgekehrte ISIS-Terroristen, die das Dritte Programm des NDR linear verdammt spät sendete, und die hier zeitsouverän nonlinear zu haben ist, empfiehlt René Martens in der taz.

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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