Teasergrafik Altpapier vom 8. Februar 2021: Porträt Autorin Jenni Zylka
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Das Altpapier am 8. Februar 2021 "Lars, 27, schwul."

08. Februar 2021, 12:04 Uhr

Das #ActOut-Manifest von 185 Schauspieler*innen trifft auf viel Zustimmung – die Kritik daran sagt aber viel mehr aus. Ein Altpapier von Jenni Zylka.

Mehr als Outing

So wie Hella von Sinnen kann man’s selbstredend auch machen. 1997 sang die Entertainerin auf die Musik vom Diana Ross-Hit "I’m coming out": "Mein Coming Out / das war ne heiße Show / denn ich lieb ne Frau". Und obwohl man sich besser nicht ausmalen sollte, wie sich die Komponisten des Songs die Ohren zuhalten, weil Hella (bei aller Liebe) nicht wirklich in die Nähe der drei Oktaven Stimmumfang von Diana Ross kommt, und auch die Gitarrenlicks der deutschen Fassung nicht so grooven wie Nile Rodgers, denn nichts auf der Welt groovt so wie Nile Rodgers, trotzdem: Der Song ist in beiden Versionen spitze. Und als Bonus zur gutgelaunten, queeren Selbstermächtigung kann man hervorragend zu ihm tanzen.

Was 185 deutsche Schauspieler*innen mit ihrem Manifest "#ActOut" gemacht haben, über das sie am Donnerstag hier im Magazin der Süddeutschen sprachen, geht jedoch noch einen Schritt weiter:

"185 lesbische, schwule, bisexuelle, queere, nicht-binäre und trans* Schauspieler*innen outen sich – und fordern mehr Anerkennung in Theater, Film und Fernsehen"

titelt die Zeitung, und stellt damit direkt klar, wo der Hammer hängt. Hier wird nicht mehr "nur" geoutet und getanzt, hier wird gefordert. Hier wird erklärt, kritisiert, angeprangert, zur Veränderung aufgerufen.

"Als ich den Tatort bereits hatte, wurde mir gesagt, ich soll mich nicht outen, bevor ich nicht den Fuß richtig in der Branche habe, und wir wissen ja alle, dass die Leute, die den Fuß so richtig drinnen haben und auch den ganzen Körper, es erst recht nicht tun sollen. Es gibt also nie den richtigen Zeitpunkt. Ständig wird mir gegenüber irgendeine Befürchtung geäußert. Das sind zum Beispiel Caster*innen, die einem Schauspieler sagen: Wenn du dich outest, kann ich dich nicht mehr besetzen."

sagt die Schauspielerin und Tatort-Kommissarin Karin Hanczewski.

Sieht schwul aus

Ihr Kollege Jonathan Berlin erzählt von durch Klischees geprägten Einschränkungen schon bei der Rollenbeschreibung:

"Ich habe bestimmt schon drei Mal in Drehbüchern homosexuelle Charaktere so eingeführt gesehen: »Lars, 27, schwul«. Das war’s. Als ob damit irgendwas gesagt wäre – außer dass die Figur im ersten Atemzug auf ihre Sexualität reduziert wird, als würde man sie ihr sofort ansehen."

Und Godehard Giese spricht darüber, was eine*n Schauspieler*in ausmacht – und wieso darum die sexuelle Orientierung und Identität wichtig sind, auch wenn, oder gerade weil man als Schauspieler*in in Rollen schlüpft:

"Es ist letztlich eine Sehgewohnheit, und diese Sehgewohnheit kannst du nur ändern, indem du sichtbar wirst. Wenn wir nicht sichtbar sind, wissen die Leute nicht, dass sie gerade einen homosexuellen Schauspieler sehen, der eine heterosexuelle Rolle spielt. Das heißt, niemand kann sich daran gewöhnen. Die Unterstellung ist aber heteronormativ. Das ist der Punkt. Und die These, ein Schwuler kann keinen Hetero spielen, oder eine Lesbe kann keine Frau spielen, die Männer begehrt, die ist ja sowieso schon widerlegt, dadurch, dass wir jetzt hier sitzen und alle schon eine Historie in unserem Beruf haben."

Strukturelle Diskriminierung

Was ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Punkt ist. "#ActOut" ist so enorm dringlich, weil die Diskriminierung von LGBTQ*-Personen, bei aller Selbstverständlichkeit im Jahr 2021, immer noch auch auf struktureller Ebene stattfindet, und darum teilweise schwer zu erkennen ist. Wenn jemand einen schwulen Charakter ins Drehbuch schreibt, weil er damit Normalität zeigen will, dann ist das prima.

Wenn ihm aber nicht auffällt, dass das Adjektiv "schwul", das nichts weiter beschreibt als eine sexuelle Präferenz, im gleichen Augenblick eine stereotype Zuschreibung wird, in dem es als völlig unerhebliche Zusatzinformation daher kommt, dann ist das schlecht. Und diskriminierend. Schließlich: Für welche Szene im Drehbuch bräuchte man die Info "schwul" tatsächlich? Wenn jemand beim konsensuellen Sex mit einem Mann gezeigt wird, ist sie überflüssig; wenn jemand einen schwulen Mann so portraitieren soll wie der tolle Nathan Lane seinen Charakter in "The Birdcage" (Mike Nichols’ US-Adaption des Theaterstücks ist tatsächlich besser als die französische, darum hier die großartige Szene, in der Armand, gespielt von Robin Williams, seinem Partner, gespielt von Lane, beibringt, wie man den Toast streicht wie ein Mann: "Men smear!!"), dann muss man eh eine ganze Menge mehr erklären. Und braucht das Adjektiv "schwul" ebenfalls nicht.

Die "#ActOut"-Initiative beziehungsweise ihre Präsentation in der SZ generierte jede Menge positive Reaktionen – in den klassischen Medien jedenfalls: Hier kommentiert der Tagesspiegel, und weist auf den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Realität hin:

"Es mag in Zeiten der Ehe für alle und der dritten Geschlechtsoption kaum zu glauben sein: Aber noch immer gibt es auch in Deutschland eine merkwürdige Diskrepanz zwischen rechtlicher Gleichstellung und gesellschaftlichem Bewusstsein. Klar mag es im Privaten für viele ein geringeres Problem sein, so zu leben und zu lieben wie sie wollen, zumal in den Großstädten, zumal in einem aufgeschlossenen Umfeld."

Die taz thematisiert hier nochmal die im SZ-Gespräch und dem Manifest selbst oft angesprochenen vorgeschobene Gründe:

"Allzu oft werden klare Heterogeschlechterrollen gefordert, immer unter dem Vorwand der Rücksichtnahme aufs Publikum, das nur sehen wolle, was es schon kenne. Doch es braucht mehr Breite: Die Gesellschaft ist so viel mehr als der heterosexuelle weiße Mittelstand. Das muss sich auch auf der Bühne, vor den Kameras widerspiegeln."

Und die Welt zitiert ein Vorstandsmitglied des Bundesverbands für Schauspiel, Antoine Monot Jr., mit den Worten:

"Wir unterstützen das und solidarisieren uns mit den 185, die sich geoutet haben".

"Sperrangelweitoffene" Türen?

Anders dagegen die FAZ. Deren Kommentatorin stellt gleich in der Unterzeile ihres Kommentar die Frage: "Ist die Klage berechtigt?", und hat danach einiges an dem Manifest auszusetzen. Zum Beispiel ginge es den Aktivist*innen ja gar nicht so schlecht, wie sie behaupteten:

"Natürlich lassen sich Gegenbeispiele von Hollywood bis "Soko" finden, und dass Unterzeichner wie Ulrich Matthes, der natürlich ungezählte Familienväter spielte, oder auch Udo Samel, Mavie Hörbiger oder Maren Kroymann an Unterbeschäftigung litten aufgrund verschlossener Türen, hat ihre Dauerpräsenz nicht vermuten lassen. Womöglich sind ja die Türen, die sie "aufmachen wollen", bereits sperrangelweit offen. Vielleicht aber quietschen sie auch noch gehörig."

Ganz schwieriges Argument – eines oder einer Fremden Jobsituation zu beurteilen, ist fast so ein Kardinalfehler wie das Lästern über anderer Menschen Erziehungsmaßnahmen. Vor allem als Branchenferne. Weiter kritisiert die FAZ die "Aufmachung" des genannten Artikels:

"Auch das SZ-Hochglanzmagazin schmückt sich mit Diversität. Was dort befremdet, ist die Aufmachung, die nicht nur im Layout der vielen kleinen Porträts, sondern auch in der Wortwahl – "Wir sind schon da" – auf den legendären "Stern"-Titel "Wir haben abgetrieben" anspielt. Da zeigt sich Kalkül im Ringen um Aufmerksamkeit bei Verkennung der Verhältnisse. Als sich am 6. Juni 1971 im "Stern" 374 Frauen öffentlich dazu bekannten, abgetrieben zu haben, verstießen sie damit gegen geltendes Recht und riskierten viel – nicht zuletzt mehrjährige Haftstrafen. Bei einer Rolle übergangen zu werden mag ärgerlich sein und sicherlich auch kränkend, aber lebensgefährlich ist das nicht."

"Kalkül im Ringen um Aufmerksamkeit bei Verkennung der Verhältnisse" – uiuiui. Das SZ-Magazin habe also verkannt, dass der genannte Stern-Titel sich mit einem (nach Ansicht der FAZ-Kommentatorin) viel relevanteren Thema beschäftigte – dem Recht auf Abtreibung. Noch so ein schwieriges Argument – wer kann beurteilen, ob dieses Recht schwerer oder leichter wiegt, als das Recht auf ein glückliches Leben in einer nicht-homophoben und nicht-transphoben Gesellschaft, die einen weder verfolgt, belästigt oder verprügelt, noch einem eine berufliche Karriere vorenthält, oder bei der Rollenwahl einschränkt?

Auch im Titel des FAZ-Artikels "Selbstbewusstsein und Kalkül" lauert der Vorwurf, jemand wolle einfach nur Aufmerksamkeit generieren. Alte Kamellen also, wie der Autor des queeren Nollendorfblog gestern knapp und weise feststellte:

"Das Doppelargument dieser Täter-Opfer-Umkehr ist immer das gleiche: Es gibt gar keine Diskriminierung mehr, gegen die man ankämpfen müsste. Wer trotzdem dagegen ankämpft, tut das nur, um sich in den Vordergrund zu schieben."

Diese vermaledeite Norm

Der Blog weist auf eine weitere Reaktion auf das Manifest und seine Forderungen hin. Dieter Hallervorden, Schauspieler und Theater-Intendant, schrieb in einer Facebook-Diskussion zum Thema nämlich Folgendes:

"Wo ist da der Sturm? Wowereit hat sich vor Jahren geoutet und ist dennoch zu Recht Regierender Bürgermeister geworden. Niemand ist einfach nur anders, sondern in meinen Augen besonders, ganz einfach und durchaus positiv gemeint: besonders!!!! Aber niemand sollte mit seiner Besonderheit meinen, es besonders in den publizitären Vordergrund zu rücken. Es gilt einfach: Jedem das Seine!"

Gruselig, vor allem der letzte Satz. Der fiel natürlich vielen auf, der Thread entwickelte sich dementsprechend weiter, Hallervorden gab zu, dass er das "anders hätte formulieren müssen", blieb aber bei seiner Haltung, dass man "bitte von keiner Seite aus ne Art Religion draus machen solle", denn:

"Nicht dass mich irgendwann das Gefühl beschleicht, ich müsse erklären, warum ich heterosexuell war, bin und bleibe....."

Huch, nicht dass tatsächlich so etwas passiert! Da sei der Mainstream vor! Dieses kurzes Szenario zeigt ganz gut das Dilemma, das Hallervorden anscheinend nicht sieht: Heteros und Heteras MÜSSEN schließlich auch nie erklären, warum sie hetero sind. Weil sie die Norm sind. Es geht jedoch um die vielen, vielen anderen, die angeblich nicht "die Norm" sind.

Diese vermaledeite Norm ist zudem der Grund dafür, dass (Film- und Fernseh-) Schauspieler*innen, die in einem Umfeld arbeiten, das sich an dem in Hollywood gewachsenen Starsystem-Vorbild orientiert (also alle), zusätzlich zu den genannten Problemen mit möglicher Diskriminierung auch etwas anderes in Kauf nehmen müssen.

Etwas, das in der Diskussion mit "das Publikum nimmt das nicht an" bezeichnet wird: In der irrealen Traumfabrik spielt, vor allem bei denjenigen, die als traumhaft und irreal schöne Held*innen für RomCom-Hauptrollen besetzt werden, tatsächlich eine Rolle, ob Fans sich in Tagträumen in ihre Arme sehnen, und sich trotz des gesunden Menschenverstands vorstellen, dass sie und ihr Star garantiert eine wunderbare Beziehung führen würden. Oder ob sie das eben nicht tun. Und dabei ist es tagtraumtypisch schnurz, dass die sexuelle Ausrichtung des oder der Angeschwärmten vermutlich das kleinste Hindernis bei dieser Fantasie ist. (Das ist übrigens auch der Grund dafür, wieso neben der verheimlichten Homosexualität im klassischen Showbusiness zuweilen auch feste Hetero-Beziehungen verheimlicht wurden.)

Die #ActOut-Unterzeichner*innen sprechen dieses Thema umfassend an – das Publikum muss lernen, besser zwischen Schauspieler*in und Rolle zu unterscheiden. Das ist nicht zu viel verlangt. Schließlich gibt es die Traumfabrik lang genug. Und dem darin wohnenden Eskapismus tut das keinen Abbruch.


Altpapierkorb (... mit "The Weeknd" beim Super Bowl und Schimpfen wie Ulf Poschardt)

+++ Dem Auftritt von The Weeknd in der Halbzeitpause des Super Bowl fieberte die Süddeutsche so gar nicht entgegen – "muss man den kennen? – Nein, nicht unbedingt", schreibt sie, und verortet den Musiker bei "klassischer, kaum kontroverser Unterhaltungsmusik". Der Spiegel dagegen schätzt die Lage anders ein: Der Auftritt könne "der Höhepunkt eines faszinierenden Horrorfilms" werden, dem Musiker wird "Lust an der Selbstmystifizierung" bescheinigt – wer sich die teilweise wirklich gruseligen Videos anschaut, wird diese Einschätzung teilen. Der Auftritt selbst in der Halbzeitpause des größten medialen und sportlichen US-Ereignis’ war dann übrigens vor allem enigmatisch – hier.

+++ BildBlog-Autor Lorenz Meyer hat mindestens den gesamten Samstag auf Twitter damit herumgebracht, Willige "im Ulf Poschardt-Style" zu beschimpfen, kicher. Meine Lieblingsbeleidigung ist diese hier: "Die Distinktionssehnsucht und der Freiheitsernst, mit dem Sie sich der Wirklichkeit anzunähern suchen, trägt das spätere Scheitern schon in sich. Leute wie Sie werden niemals begreifen, dass Karl Marx heute in der FDP wäre."

Neues Altpapier kommt am Dienstag.

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