Teasergrafik Altpapier vom 27. April 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 27. April 2021 Die Überzeugtheit der Überzeugten

27. April 2021, 10:27 Uhr

... ist durch #allesdichtmachen weiter gestiegen – vermutlich auf sämtlichen Seiten. Ein WDR-Rundfunkrat hat sich nachhaltig in die mittlere Medienzukunft eingeschrieben. Und die wichtigste grüne Medienpolitikerin plädiert für "Quality Flow" statt Format-Fernsehen. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Schauspieler wirken, Ironie wirkt nicht mehr

Die Kritik an #allesdichtmachen ebbt nun allmählich ab. Ebbt doch nicht ab? Sagt zumindest ein epd-Überblick, der u.a. Nico Hofmann und Günther Jauch enthält.

Jedenfalls hat die einhellige Empörung der Medien zweierlei deutlich gezeigt. Erstens: Schauspieler wirken –  vielleicht sogar mehr denn je, auch weil wegen des überall herrschenden Prominenz-Prinzips (Altpapier gestern) Schauspieler außer in fiktionalen Formen, Talk- und Quizshows gern auch als Presenter von sonst was gebucht werden. Dieser Trend könnte sich sogar noch verstärken. Schließlich haben prominente Schauspieler und die berichterstattenden Medien die Wirkungskraft eindrucksvoll unterstrichen. Und zweitens: Ironie wirkt nicht mehr, jedenfalls nicht positiv.

"Deser Sarkasmus allein, der sich durch die gesamte Aktion der Schauspieler zieht, wäre schon fast einen eigenen Text wert: Bereits seit einigen Jahren nutzen vor allem Rechte und Verschwörungstheoretiker gerne das Stilmittel der Ironie, um die freie Gesellschaft oder ihre Pfeiler zu diskreditieren",

schrieb Matthias Schwarzer am Wochenende in Madsacks RND. Sind Ironie und Sarkasmus damit generell diskreditiert? Na ja, außer auf Fernseh-Sendeplätzen, die über Jahre ins Publikumsbewusstsein eingebrannt wurden, geht's in langen schriftlichen Kolumnen vielleicht auch noch, hoffen wir mal. Grundsätzlich ist Schwarzers Text "Warum Liefers’ Medienbashing so gefährlich ist" lesenswert, auch weil er den Link zur Pressefreiheits-Rangliste (Altpapier) schlägt. Vorige Woche hatten die Reporter ohne Grenzen Deutschland wegen der sich häufenden Angriffen auf Journalisten, besonders (aber nicht nur) bei Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen, herabgestuft. Außerdem schreibt er mit sympathischem Pathos:

"Die Vielfalt der Medien, die in Deutschland aus dem gesamten politischen Spektrum von ganz links bis stark konservativ besteht, wird dabei komplett unter den Teppich gekehrt. Als stünden in der 'taz' und in der 'Welt' auch nur annähernd dieselben Texte."

Stimmt, zumindest oft. Beim Medienecho, das die "Allesdichtmachen"-Aktion so schnell so groß machte, zeigte sich das nicht auf Anhieb. Rüdiger Suchsland schrieb am Wochenende bei Telepolis:

"Was ist hier tatsächlich passiert? Die Süddeutsche Zeitung, das Redaktionsnetzwerk Deutschland, der sonst so kritische Medienbeobachtungs-Blog Übermedien, die taz, der Tagesspiegel, zusammen mit 3sat-Kulturzeit, dem heute journal, der ARD - sie alle sind sich einig, dass die Schauspieler das, was sie gemacht haben, nicht hätten machen sollen - um es mal vorsichtig auszudrücken. Wo gibt es die eine einzige Stimme in diesen Mainstream-Medien, die die andere Seite vertritt? Wo gibt es eine einzige Stimme, die wenigstens zu verstehen versucht, was hier passiert und warum die Schauspieler diesen Aufruf starten?"

Suchsland, der seinen Text mit dem Tocotronic-Zitat "Im Zweifel für den Zweifel" einleitet (das einem Altpapier auch schon mal den Titel gab; sonst hätte ich ihn heute genommen ...), nennt und verlinkt anschließend zwei bis drei Stimmen, aus der Welt und aus dem Freitag, dazu ein DLF-Interview. Für die Frankfurter Rundschau versucht der Bonner Philosophie-Professor Markus Gabriel, aktuell "diskursive Mechanismen" zu analysieren:

"Zu diesen Mechanismen gehört, dass die Online-Portale der allermeisten Qualitätsmedien unserer Republik in Windeseile die exakt selbe Meldung verbreitet haben, die darin bestand, unter Berufung auf Tweets den Zuspruch zur Aktion im Wesentlichen an Hans-Georg Maaßen festzumachen und die Kritik an ihr mit positiven Prädikaten eines Verdachts gegen rechte Unterwanderung des kulturellen Mainstreams zu verbinden. Der unaufhaltsame Zug der diskursiven Zerlegung der Aktion rollte los, ehe der Frage nachgegangen wurde, welche genaue Kunstform diese Videos darstellen."

Okay, das ist umständlich formuliert, und ob der Begriff "Kunstform" hilft, zweifelhaft. Gabriel überzeugt nicht immer (Altpapier). Wo er für meinen Geschmack einen Punkt hat: beim Umschreiben der 

"Defizite eines Medienbetriebs ..., der längst mit mehr als einem Auge auf die sozialen Netzwerke schielt, um darüber zu berichten, wie in diesen über etwas berichtet wird, was man eigentlich erst einmal analysieren und einordnen müsste".

Gewiss stärkt die Einhelligkeit der Empörung ihre Überzeugungskraft. Allerdings verstärkt es zugleich die Überzeugtheit derer, die die Vielfalt der Medien bezweifeln, wenn davon ausgerechnet bei Themen, die die Trendcharts anführen, kaum etwas zu sehen ist.

Deutschlandfunks "@mediasres" hat zum gleichen Themenfeld den Mainzer Publizistik-Professor und Erforscher des steigenden "Medienvertrauens", Christian Schemer, interviewt.

"Die Meinung einiger Teilnehmenden von #allesdichtmachen spiegelt nicht die Mehrheit der Bevölkerung wider",

wie der DLF per Tweet zusammenfasst, mag erst mal banal klingen. Wenn das Angela Merkel, Hansi Flick und ihren Organisationen kaum mehr gelingt, gibt es noch Personen oder Gruppen, die Mehrheitsmeinungen spiegeln? Was Schemer dann im Einzelnen (Audio) sagt, hat aber Hand und Fuß, z.B., dass "Kritik und Vertrauen nicht unmittelbar wechselseitig von einander abhängen", man also Medien vertrauen und deren Gewichtung dennoch falsch finden kann. Schemer rät zu "vielfältigerem Medienkonsum" und dazu, sich an unterschiedlichen Stellen zu informieren.

Neues aus dem Rundfunkrat

Was wird aus den Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich für die missglückte Aktion aus dem Fenster lehnten? Darunter sind ja zahlreiche Fernsehkrimi-Helden unserer ARD, außer "Tatort"-Kommissaren war es etwa auch Pasquale Aleardi, der schweizerische Hauptdarsteller des Bretagne-Krimis "Kommissar Dupin". Sein Video ist inzwischen auch nicht mehr im Youtube-Kanal zu sehen (aber natürlich dennoch zu finden).

Er würde mit allen weiter arbeiten, sagt einer der, zumindest was den Umfang betrifft, größten Film-Produzenten, der schon erwähnte Ufa-Chef Nico Hofmann. Die eingangs erwähnte epd-Meldung zitiert aus der Bild am Sonntag, der Hofmann sagte:

"Ich war über viele Wochen auch involviert, weil mich viele Kolleginnen und Kollegen angerufen haben. Und ich habe immer davor gewarnt, dass diese Art von Ironie, von Satire ein ganz schmaler Grat ist, der wirklich von antidemokratischen und auch rechten Kräften ausgenutzt werden kann. Und das ist jetzt auch passiert. Das war für mich absehbar."

Der Beitrag trägt die Überschrift "Rundfunkräte, die Berufsverbote fordern – indiskutabel!". Das bezieht sich auf einen Tweet, der in den vergangenen Tagen relativ viral ging und an dieser Stelle unbedingt noch erwähnt gehört. Der ehemalige nordrhein-westfälische Wirtschaftminister Garrelt Duin hatte im Schwange der ersten Empörung als Mitglied des Rundfunkrats der größten ARD-Anstalt WDR  getwittert, dass "die  zuständigen Gremien" die Zusammenarbeit mit den ARD-"Aushängeschildern" Jan Josef Liefers und Ulrich Tukur "schnellstens beenden" sollte, und das gar noch mit der launigen Zeile "Viele Grüße, ein Rundfunkrat" unterschrieben, wie Michael Hanfeld gestern für die FAZ aufschrieb.

Klar, Duin hat den Tweet gelöscht und seine Aussage relativiert. Doch schafft Löschen umstrittener Beiträge erst recht Aufmerksamkeit, und falls es überhaupt Bonuspunkte fürs schnelle Revidieren vielfach kritisierter Meinungen einbringt, werden diese durch Maluspunkte für Opportunismus aufgewogen. Davon wird Richy Müller, der das wohl schlechteste "Allesdichtmachen"-Video drehte, wohl ein paar Jahre lang Lieder singen können. Und mit Garrelt Duin wird verbunden bleiben, dass die Rundfunkräte weiterhin ziemlich staats- und/oder parteinnah strukturiert sind, auch wo es nicht so scheint – er sitzt nicht etwa als SPD-Prominenter, sondern als Vertreter des Nordrhein-Westfälischen Handwerkstags e.V. im Gremium – und dass sie vor allem Misstrauen verdienen. Künftig auch, was eventuelles Canceln von Inhalten angeht.

Um es ins Positive zu wenden: Schwarze und rote Freundeskreise beherrschten die Rundfunkräte, einst übrigens als Gegner, weil CDU/CSU und SPD eben die größten Parteien waren, die ungefähr abwechselnd Wahlen gewannen. Diese Zeit neigt sich ihrem Ende zu, vor allem dank der Entwicklung von Duins Partei. Wie hält es es die kommende zweitstärkste oder noch stärkere Partei mit solchen Fragen?

Die Medienpolitik der Grünen

Der Zufall will, dass heute auf der FAZ-Medienseite Tabea Rößner, die wichtigste Medienpolitikerin der Grünen, mit einem großen Gastbeitrag vertreten ist (Blendle). Okay, die Überschrift "Mehr Mut und Kreativität" ist eine, die vermutlich sogar die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung widerspiegelt. Rößner lobt dann erst mal Pro Sieben, begrüßt aber auch Tom Buhrows "Denkanstöße" und gendert gründlich ("...Demokratieforscherinnen und -forscher, Kommunikationswissenschaftlerinnen, -wissenschaftler und Medienrechtlerinnen und Medienrechtler"). Die wohl am längsten konstant aktive deutsche Medienpolitikerin analysiert aber auch schärfer als es in langen Politiker-Gastbeiträgen üblich ist, Probleme der Öffentlich-Rechtlichen,

"auf denen Dokumentationen ins Nachtprogramm geschoben, Inhalte in feste Formate gepresst werden und die täglichen Krimis allmählich Langeweile aufkommen lassen. Das Klammern an Format-Fernsehen und Format-Radio ist Ausdruck einer großen Verunsicherung der Programmverantwortlichen."

Und kreiert später einen neuen oder zumindest hierzulande noch unverbrauchten attraktiven Anglizismus für die Mediatheken und Internetauftritte:

"Die Gewährleistung des Audience Flow wird im Netz nicht mehr funktionieren. An dessen Stelle muss ein Quality Flow treten, um Nutzerinnen und Nutzer auf Dauer für öffentlich-rechtliche Angebote zu gewinnen. Wenn die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verstärkt im Internet liegt, muss zum einen die Vielzahl der bisherigen Programme auf ihre publizistische Erforderlichkeit hin überprüft werden. Eine bloße Übertragung der Entscheidung über Ausspielwege an die Sender würde der politischen Verantwortung der Länder wohl nicht gerecht."

Auch das klingt überzeugend. Den Anstalten allein zu überlassen, was sie ins Internet auslagern, damit im linearen Fernsehen die Einschaltquoten stimmen, kann kaum eine Lösung sein. Was sich anschließen müsste: die Frage, wie es die Grünen mit dieser "politischen Verantwortung der Länder" einerseits, mit Staatsferne andererseits halten wollen. Wollten sie nicht einst, als vor allem Rößner das Brender-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und damit zumindest etwas Politikferne der Rundfunkgremien erstritt, ganz auf die parteipolitische Besetzung der Posten verzichten?

Schön wäre, wenn auch solche Fragen in den kommenden Wahlkämpfen gestellt würden, schon damit es darin nicht allein um Corona geht. Und klar, solche Rundfunkpolitik ist eher Länder- als Bundes-Sache. Aber dass die Grünen bereits in elf Bundesländern mitregieren (und in der Stadt, in der Richy Müller und Felix Klare für den "Tatort" zugange sind, den Ministerpräsidenten stellen!), betonen sie ja oft genug.


Altpapierkorb (Kritik an Stasi-Unterlagenbehörde und RBB, BBC-Kritik, Apple-Kritik, Springer-Chefetagen-Ummodelung, neue "Anne Will"-Debatte, Kuli)

+++ Skandal? Die Stasi-Unterlagenbehörde hat "sich benommen wie die Stasi 2.0"?? So zitiert Marcus Engert in einer uebermedien.de/Buzzfeed-Recherche einen Anwalt. Vorwürfe richten sich außer an die Bundesbehörde an den RBB und die Bild-Zeitung, die gemeinsam den freien Fotojournalisten und ehemaligen Vorsitzenden eines der früher mehreren Berliner DJV-Verbände, Bernd Lammel, sowie weitere Journalisten ausforschten. "Zusätzlich pikant macht die Sache, dass Lammel seit 2019 Mitglied im Rundfunkrat des rbb ist." Früher erschien ein großer Bericht der Berliner Zeitung zum selben Thema ("Ausforschung statt Aufarbeitung: Wie 164 Menschen unter Stasiverdacht gerieten"). Die Bild-Zeitung hat via Twitter reagiert.

+++ Noch ein Deutschlandfunk-Interview verdient Erwähnung: "Als ich meine ersten Schlussfolgerungen präsentierte, Ende Mai 2019, da gab ich zum Beispiel ein Live-Interview der BBC World über Skype, und das wurde natürlich ausgestrahlt, weil es live was, aber kurz danach wurde es aus dem Netz genommen, und es ist heute keine Spur davon zu finden. Ich habe die BBC dann kontaktiert und gefragt, was ist denn los? Entweder habe ich Recht, und dann muss man ja die Regierung damit konfrontieren und die Bevölkerung informieren als vierte Macht im Staat, oder ich habe nicht Recht. Aber dann ist das ja auch ein Skandal, dann muss ich ja zurücktreten, das ist auch etwas, was man dann berichten muss. Und die BBC hat einfach geantwortet, das sei im Moment nicht 'newsworthy', hätte also zur Zeit keinen Nachrichtenwert." Sagte Nils Melzer, der UN-Sonderberichterstatter für Folter, zu "@mediasres". Anlass ist sein neues Buch "Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung". Dass Assange seit Jahren im britischen Foltergefängnis eingesperrt ist, besitzt ja keinen Nachrichtenwert.

+++ "Julian Reichelt verliert seinen Posten als Geschäftsführer der Bild-Gruppe" macht die Süddeutsche aus der jüngsten Springer-Chefetagen-Ummodelung, durch die ein neuer "Chief Executive Officer"-Posten für "den gesamten Publishing-Bereich (Print, Digital, TV, Audio)" der Bild- und Welt-Medien geschaffen wurde. Tatsächlich sollen Reichelt und seine neue Chefredaktions-Kollegin Alexandra Würzbach nicht mehr zur Bild-Gruppen-Geschäftsführung gehören, wohingegen Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt weiterhin auch Geschäftsführer sein wird.

+++ Apple geriert sich gern als Sympath unter den Datenkraken, trackt Nutzer seiner Geräte aber natürlich auch. Wegen neuer Pläne hat eine Allianz acht deutscher Verbände, darunter Zeitungs- und Zeitschriftenverleger, Beschwerde beim Bundeskartellamt eingelegt (golem.de).

+++ "Aufgabe von Medienschaffenden ist es, kritische Fragen zu stellen – unabhängig vom Geschlecht der befragten Person. Warum sollte bei Annalena Baerbock eine Ausnahme gemacht werden? Weil sie sich als erste grüne Frau für dieses hohe Amt bewirbt und so wahnsinnig sympathisch ist? Mit Verlaub, das ist frauenfeindlich und sexistisch", wirft Simone Schmollack in der taz in die jüngste "Anne Will"-Debatte.

+++ "Das Mediengeschäft mag kein hervorragendes Geschäft mehr sein, wie früher, aber es ist immer noch ein gutes Geschäft", sagte Josef Trappel, Salzburger Kommunika­tionswissenschafts-Professor  und einer der Macher des "Media for Democracy Monitor", ebd. im Interview.

+++ Und daran, dass Hans-Joachim Kulenkampff, der einst Wahlkampf für Willy Brandt und 1988 mit einem Goebbels-Vergleich Schlagzeilen machte, heute hundert würde, erinnert Joachim Huber.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

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