Teasergrafik Altpapier vom 21. Juli 2021: Porträt Autor Christian Bartels
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Das Altpapier am 21. Juli 2021 Disconnect

21. Juli 2021, 10:46 Uhr

Waren Wetterberichte nicht alarmierend genug? Außer um Apps und Sirenen geht's in der Flutkatastrophen-Nachbereitung weiterhin um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wer hätte eigentlich die Möglichkeit, Aldi- und Lidl-"Markenchecks" im Programm zu reduzieren? Außerdem poppt die alte Internet-Presseänlichkeits-Frage wieder auf. Und Pegasus alarmiert jetzt aber wirklich die Spitzenpolitik. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Öffentlich-Rechtliche kritisieren Öffentlich-Rechtliche

"Ich finde es absolut empörend, Menschen dafür verantwortlich zu machen, dass sie nicht gut genug informiert worden sind",

sagt der Hydrometeorologe Jeff Da Costa, dessen Eltern in Luxemburg leben, also nahe an der Eifel, und zuvor:

"In Deutschland wird die Verantwortung so lange delegiert, bis niemand mehr zentral verantwortlich ist. Darüber müsste geredet werden. Stattdessen geht es in der Diskussion jetzt vor allem um die dramatischen Schicksale und den Klimawandel. Dahinter können sich Politiker verstecken, deren Aufgabe es wäre, funktionierende Strukturen mit klaren Verantwortlichkeiten zu schaffen."

Dieses Interview steht auf S. 2 der FAZ (€). Nach der Flutkatastrophe wird inzwischen über öffentliche Kommunikation gestritten, ob Warnhinweise schnell und präzise weitergegeben wurden – was längst nicht mehr allein den öffentlich-rechtlichen Rundfunk betrifft (wie in der Nacht zum vergangenen Donnerstag den WDR, vgl. Altpapier), sondern etwa auch Apps und Sirenen. Den Ton setzte der Vorwurf des "monumental failure of the system", mit dem erst die Times und dann etwa auch Tagesspiegel und ZDF die britische Hydrologin Hannah Cloke als Vertreterin des Europäischen Hochwasser-Warnsystems EFAS zitierte. Da Costa forscht ebenfalls in England.

Was öffentlich-rechtlicher Rundfunk leisten soll, bleibt aber ein Thema. Inzwischen zeigt sich etwas, das im öffentlich-rechtlichen Lager eher selten auftritt: Einzelne Anstalten oder deren Mitarbeiter werfen anderen, ebenfalls öffentlich-rechtlichen Anstalten konkret etwas vor. Der gestern hier erwähnte Maximilian Rieger arbeitet für den Deutschlandfunk und hat sich kritisch mit Sendungen des SWR befasst.

In der gestrigen "@mediasres"-Ausgabe erläuterte er seine Kritik. Moderatorin Mirjam Kid leitet das zehnminütige Gespräch (nicht identisch mit dem schriftlichen Text) mit dem Hinweis ein, dass der Deutschlandfunk die Katastrophe "nachts auch nicht auf dem Schirm" hatte. Dann sagt Rieger, dass einzelne Nachrichtensendungen-Wetterberichte des SWR-Fernsehens "einfach falsch" und zu sehr auf die großen Flüsse Rhein und Mosel bezogen gewesen seien. Zwar habe um 21.45 Uhr ein SWR-Reporter live "knöcheltief im Wasser" gestanden, doch dann seien "wieder die Camper am Rhein" mit ihren vergleichsweise kleinen Problemen gezeigt worden und sei im Wetterbericht von "leichtem Regen" die Rede gewesen. Es gab "eine Disconnect" zwischen den vom Reporter Geschilderten und dem Tonfall der Anmoderationen,

Moderatorin Kid meint, dass so das gern benutzte Argument, die Sender der ARD seien "gerade in der Region so wichtig", entwertet wird. Stefan Fries als weiterer Gesprächspartner schildert, dass die "Warnkette zwischen Behörden, Medien und Bevölkerung" suboptimal gestaltet ist. Ein Teil des Problems besteht offenbar darin, dass die genormten, stets gleich langen Nachrichtensendungen immer ähnlich aufgebaut sind, also meist ernst anfangen, wohingegen die Wetterberichte die überkommene Aufgabe haben, am Ende einen positiven Ausblick zu geben – mit Sonnenschein, oder wenn's regnet, das Publikum ermuntern, sich halt einen gemütlichen Fernsehabend machen.

Flächendeckende Versorgung mit internationaler Popmusik und einschaltquoten-optimierten Format-Fernsehsendungen auch in schwierigen Lagen gehört offenbar nicht zu dem, was öffentlich-rechtlicher Rundfunk unbedingt leisten muss. Und alles, was nicht in den Audience-Flow passt, im Internet zum Abruf anzubieten, kann auch keine Lösung sein. Womit wir wieder bei der grundsätzlichen ARD-Strategie und deren sowieso geplanten Reformen sind.

Flow, Flotte und "innovative Programmgestaltung"

Sind eigentlich alle in den Medien gegen die neue ARD-Programmdirektorin Christine Strobl? Immerhin ergreift in der FAZ heute Micha Hanfeld etwas Partei für sie, allerdings strategisch, weil er so den Berliner Grünen Misogynie (bzw. "den Jackpot für misogyne Politunterstellung") vorwerfen kann. Recht hat er zumidnest damit, dass Strobl die viel kritisierten Pläne nicht allein verfasst hat, sondern mit ihrem Stellvertreter Florian Hager und dem auch noch neuen ARD-Chefredakteur Oliver Köhr, und dass sie in der ARD erst recht nichts alleine wird durchsetzen können. 

Was Kritik an der "Flottenstrategie" der ARD betrifft, die tatsächlich vor Wassermetaphern trieft (bloß den Begriff "Krimiflut" nicht enthält ...), verdient noch Diemut Roethers epd medien-Artikel "Frau Strobls Gespür für Flow" Beachtung:

"Das Papier der ARD-Programmdirektion erweckt jedoch den Eindruck, als seien der Audience Flow und 'Endlich Freitag im Ersten' der Kernauftrag der Öffentlich-Rechtlichen. Das Widerständige wird noch weiter an den Rand geschoben",

schreibt sie mit Blick auf den "Weltspiegel"-Frage. Außerdem sei die ARD-Programmdirektion überraschend "wenig selbstbewusst, was die Stärken und etablierten Marken der ARD angeht", sondern "schielt ... eher zum ZDF rüber". Doch jenseits der repräsentativ ermittelten Einschaltquoten ist beim ZDF auch nicht alles golden, wie ebenfalls Roether zur Begrüßung des neugewählten Intendanten Norbert Himmler schrieb (epd medien)

"Als Programmdirektor hat er auch zu verantworten, dass der Fernsehfilm im ZDF mehr und mehr zur Krimi-Monokultur wurde. Selbst auf dem Montagssendeplatz finden sich inzwischen kaum noch Filme, in denen es nicht darum geht, ein Verbrechen aufzuklären. Wenn also Himmler die 'Vielfalt im Programm stärken' will, sollte er als Erstes mit der Genrevielfalt in der Fiktion anfangen. ... Auch die Mehrzahl der Dokumentationen im ZDF sind so durchformatiert, dass Autorenhandschriften kaum noch zu erkennen sind. ... Mit einem Anflug von Selbstkritik deutete Himmler im Fernsehrat an, dass er Sendungen wir 'Aldi oder Lidl' wohl selbst nicht für die Krone einer innovativen Programmgestaltung hält, doch wer wenn nicht er könnte diese Sendungen aus dem Programm nehmen?"

Wozu Himmlers Planungsstäbe vermutlich sagen würden, dass sie die schönen Aldi-Lidl-Einschaltquoten nicht allein der ARD und deren Markt-/Markencheck-Flugzeugträger "Tagesschau 24" überlassen wollen ...

Was war eigentlich mit der "Schlichtungsstelle"?

Nicht zu den Hardlinern der Öffentlich-Rechtlichen-Kritik, obwohl zu den FAZ-Herausgebern gehört, Carsten Knop. Gestern im Lokalteil seines Blattes (bzw. vor allem fürs Internet) nahm er den vom Hessischen Rundfunk verkündeten (und online schön Symolbild-illustrierten) "Gesamtfehlbetrag in Höhe von 90,3 Millionen Euro" im Geschäftsjahr 2020 zum Anlass, mal wieder ein älteres Fass aufzumachen. Über den weiter steigenden Anteil von Pensionsverpflichtungen in den Anstalten-Budgets, die der HR selbst "hoch" nennt, geht Knop fast nonchalant hinweg ("Daran lässt sich kurz- und mittelfristig wenig ändern – außer, dass es Pflicht gewesen wäre, bei den Zusagen viel früher korrigierend einzugreifen"), um dann der Online-Überschrift "Angriff auf die Zeitungen" gerecht zu werden:

"Mit seinen im Vergleich zu privaten Wettbewerbern auf dem Nachrichtenmarkt üppigsten Ressourcen hat der hr eine Internetredaktion für sein 'hessenschau.de'-Angebot samt zugehöriger App aufgebaut, die häufig nur einen rudimentären Sendungsbezug herstellt, dafür aber umso längere Texte schreibt und einen redaktionell aufwändigen Liveticker betreibt. Der Lohn der Mühe: Mehr als 600.000 Visits an einem Durchschnittstag, wenn man alle Infoprodukte einbezieht – einschließlich der Zulieferungen zur aus denselben Gründen fragwürdigen Tagesschau-App. Diese Zahlen erreicht der hr mit einem Konkurrenzprodukt zu den Online-Angeboten der Tageszeitungen in Hessen. Es unterminiert die Geschäftsgrundlage privater Medienhäuser, denn es wird auf ewig 'kostenlos' und – auch nett – werbefrei bleiben ..."

Undsoweiter. Das ist natürlich, auch, altbekannte Verlage-Strategie, aber ebenso trifft es zu. Im Internet konkurriert alles mit allem, und außer mit Google und Facebook (auf deren Plattformen fast alle ja auch ihre Angebote optimiert einspeisen, worüber im öffentlich-rechtlichen Fall mehr diskutiert werden müsste), nehmen auch die vergleichsweise kleinen deutschen Anbieter einander Aufmerksamkeit weg. Wobei die einen sehr sichere Rundfunkbeitrags-Einnahmen haben und dafür anderes leisten müssen als die anderen. War dieses über Jahre an der "Tagesschau"-App festgemachte Presseähnlichkeits-Problem aber nicht gelöst, durch "eine von Sender- und Zeitungsverlage-Seite paritätisch besetzte Schlichtungsstelle"?

War's wohl. Aber nachdem diese Stelle in der gespannt erwarteten Anfangszeit gar nicht in Anspruch und demzufolge nicht einmal besetzt worden war, scheinen alle sie vergessen haben. Außer dem umtriebigen Daniel Bouhs, der sie jetzt noch mal ins Spiel brachte.

Vielleicht wär's nicht schlecht, diese Schlichtungsstelle doch mal zu aktivieren. Es tummeln sich so viele Gremien, Kommissionen und weitere Institutionen in der Medienlandschaft, dass es auf noch eine mehr wirklich nicht ankommt. Und dieses könnte ja ein vergleichsweise sinnvolles Gremium sein.

Pegasus beim Präsidenten und eine Klage gegen das BKA

Die Pegasus-Affäre war gestern hier Topthema. Falls das mutmaßlich massenhafte Abhören und Ausspähen von Journalisten, die ja nicht mehr zu den angesehensten Berufsgruppen gehören, Öffentlichkeit und Politik doch nicht alarmierte: Nachdem die internationalen Rechercheure das Thema weiter drehten, dürften zumindest Politiker nun doch alarmiert sein. Die Süddeutsche macht auf ihrer gedruckten Titelseite mit "Spähangriff auf Staatsspitzen" (€) auf:

"Mehrere Geheimdienste nutzten offenbar die Spionage-Technik Pegasus, um 14 Staats- und Regierungschefs auszuforschen – darunter Frankreichs Emmanuel Macron",

der nicht nur dafür bekannt ist, "seine Mobiltelefone exzessiv zu nutzen" und so seine Regierung zu lenken, sondern diese Geräte sogar "auf den offiziellen Porträts französischer Präsidenten, die in allen Rathäusern hängen", mit ablichten ließ, wie es in einem weiteren SZ-Text heißt. Der ehemalige belgische Premierminister Charles Michel, der inzwischen als Präsident des Europäischen Rates einer der höchsten Funktionsträger der EU ist (und ja sogar von Präsident Erdogan einen Sessel angeboten bekam) zählt ebenfalls zu den mutmaßlich Betroffenen. Mutmaßlich heißt, dass die Rechercheure auf entsprechende Mobilfunknummern stießen. Ob die Geräte tatsächlich gehackt wurden, ist unklar und dürfte es bleiben: "Dieser Nachweis ließe sich nur durch eine forensische Untersuchung der Geräte führen, der bislang keiner der Politiker offiziell zugestimmt hat".

Weiteren detaillierten Überblick zur Lage, vor allem noch vor den eben erwähnten jüngsten Enthüllungen, gibt netzpolitik.org in einem großen Pegasus-FAQ mit zahlreichen weiterführenden Links. Und auch wenn die Deutschland-Bezüge aktuell gering zu sein scheinen:

"Das Bundeskriminalamt hat sich die Trojaner-Software Pegasus im Jahr 2017 von der NSO Group vorführen lassen. Dort waren die IT-Experten begeistert, berichtet Zeit Online. Im Jahr 2019 sprach die Überwachungsfirma dann beim Joachim Herrmann, dem bayerischen CSU-Innenminister, vor. In beiden Fällen führte die Präsentation nicht zum Kauf von Pegasus, sie zeigt aber, dass auch Deutschland offen für eine Nutzung der umstrittenen Software war",

schreiten die Leute von netzpolitik.org doch mal zu einer symbolischen Tat "und verklagen das BKA – zum zweiten Mal", weil vergleichbare Trojaner ja auch hierzulande entwickelt und exportiert wurden und vermutlich auch eingesetzt werden.

Altpapierkorb (EU-Kommission, Studien über Medienjournalismus und Flucht-/Migrations-Berichterstattung, Medien-Wahlkampf, Dennis Scheck, Idee für ein neues öffentlich-rechtliches Programm)

+++ Topthema der FAZ-Medienseite heute (€): der so scharfe wie überraschende Angriff der EU-Kommission auf den deutschen Medienstaatsvertrag, der vor acht Tagen Altpapier-Topthema war. "Damit ist es also raus: Die EU-Kommission plant ein paneuropäisches Mediengesetz, das die bisherigen Gesetze der Mitgliedstaaten ersetzt. Deswegen will sie aktuelle, nationale Gesetze erst gar nicht zulassen. Und sie plant eine paneuropäische Medienaufsichtsbehörde, die allein das Sagen hat", schreibt Michael Hanfeld und sieht vor allem Thierry Breton, den EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, am Werk. Das Antwortschreiben der Medienanstalten nach Brüssel kennt Hanfeld auch bereits.

+++ Kürzlich lobte ich in einer Kolumne die Studien der Otto-Brenner-Stiftung, sozusagen, weil sie (anders als Studien anderer Stiftungen) immer überraschen. Überraschungen können naturgemäß nicht immer positiver Art sein, dann wären sie ja keine mehr. Anders überraschte nun die OBS-Studie "Medienjournalismus in Deutschland/ Seine Leistungen und seine blinden Flecken", schon weil Hektor Haarkötter und Filiz Kalmuk darin ein arg enges Feld und rückwärtgewandtes Feld des Medienjournalismus beackern. Nämlich "Medienjournalismus in den gedruckten Ausgaben von Tageszeitungen", wie Stefan Niggemeier im uebermedien.de-Newsletter formulierte. Onlineformen des Medienjournalismus, darunter das Altpapier, kommen nur sehr am Rande vor (siehe S. 21 des 84-seitigen Hefts oder etwa diesen Twitter-Thread). Wer morgens, wenn die neue Zeitung endlich eingetroffen ist, immer als erstes die Medienseite aufschlägt, um zu erfahren, was jetzt wieder passiert ist, kann der Studie aber erfreut entnehmen, dass gedruckter Tageszeitungs-Medienjournalismus sich doch nicht so übel entwickelt hat, wie man in vergangenen Jahrzehnten annehmen konnte.

+++ Noch 'ne Studie, nun von der Mercator-Stiftung bzw. von gilt der "Berichterstattung über Flucht und Migration", und zwar in sechs ausgewähten deutschen Leitmedien zwischen 2016 und 2020. Hier ist sie, 32-seitig, runterladbar. Und hier fasst die natürlich als Leitmedium mit-analysierte Süddeutsche zusammen.

+++ Noch 'ne Kolumne von mir: Um den Medien-Wahlkampf, in dem, rein rechnerisch, mehr Kanzlerkandidaten denn je auf mehr Medieninteresse denn je stoßen, geht es in meinem aktuellen medienkorrespondenz.de-Beitrag "Die Spitze liegt in der Breite".

+++ "Nicht wenige Sender der ARD offenbaren gerade ein gestörtes Verhältnis zur Literatur, zur Literaturkritik. Sendungen werden gekürzt, überarbeitet, eingestellt, in Radio, Fernsehen, online. Das Buch, ob Fiktion oder Sachbuch, wird zum Problemfall", schreibt Joachim Huber zur Aufregung um ein inzwischen depubliziertes Video, in dem Denis Scheck Hitlers "Mein Kampf" ähnlich behandelte wie Christa Wolfs "Kassandra", oder so. Ungerecht vom Tagesspiegel allerdings, dass er per Foto auch noch Hanns-Joachim Friedrichs mit reinzieht, bloß weil Scheck mal mit einem Hanns-Joachim-Friedrich-Preis prämiert wurde.

+++ Und eine Idee für noch mehr öffentlich-rechtliche Programme, die lange nicht mehr ventiliert wurde, nun aber ("in den vergangenen Jahren wurde immer offensichtlicher, dass es eine Parallelgesellschaft gibt") womöglich Sinn ergibt, formuliert Fabian Riedner bei quotenmeter.de.

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

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