Teasergrafik Altpapier vom 11. August 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 11. August 2021 Mut zur Lücke

11. August 2021, 11:59 Uhr

Dient der Leitartikel-Gassenhauer, "es liege in der Eigenverantwortung, sich klima- und umweltfreundlicher zu verhalten", de facto der Verhinderung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen? Ist RTL schon ein Inforiese? Haben sich die Befürchtungen bestätigt, dass Sebastian Kurz versucht, den ORF "unter seine Kontrolle zu bekommen"? Ein Altpapier von René Martens.

Der Trick mit den Verzögerungsargumenten

Viele Medien haben in den letzten Tagen viele Texte über den Bericht des Weltklimarats geschrieben (siehe Altpapier von Dienstag). Doch welche Version haben die Journalistinnen und Journalisten gelesen, die die Beiträge verfasst haben? Nur die sechsseitige Pressemitteilung? Oder das 42-seitige "summary for policymakers"? Haben hochprofessionelle Querleser auch mal in die vollständige Fassung (1.300 Seiten) reingeschaut?

Diese Fragen bringt die Klimajournalistin Emily Atkin in ihrem Newsletter Heated ins Spiel. Es sei "wirklich nicht nötig", dass der Durchschnittsbürger 1.300 Seiten lese, schreibt sie. Journalistinnen und Journalisten sollten es aber vielleicht doch, denn:

"The term 'fossil fuels' is not included in the IPCC’s 42-page summary document, or the IPCC’s press release. So if you only read the summary for policymakers, you won’t actually learn the full role of human influence on the climate. You’ll find out that human 'activities' and 'influence' are 'unequivocally' causing climate disasters—but which activities and influences are the greatest will remain a mystery."

Für Riffreporter hat Christiane Schulzki-Haddouti mit Anita Habel und Dagmar Petermann, den Sprecherinnen von Psychologists for Future, darüber gesprochen, welche Argumentationsstrategien wirksame Klimaschutz-Maßnahmen verhindern. Unter anderem geht es um den "Umgang mit Fake-News", bei dem "sich ja gezeigt hat, dass es wenig hilfreich ist, das falsche Argument zu wiederholen, um es dann zu widerlegen" (Schulzki-Haddouti).

Dagmar Petermann sagt dazu:

"Ja, es hat sich als wirksam erwiesen, wenn Informationen über einen Mechanismus der Fehlinformation gegeben werden, ohne diese direkt zu nennen. Fehlinformationen zu wiederholen, führt dazu, dass sie eher hängen bleiben. Wenn man im Bestreben, etwas 'neutral' zu beleuchten, immer auch die Gegenseite einer Debatte einlädt – wie etwa Klimaleugner:innen, dann entsteht der Eindruck, dass es viel größere Uneinigkeit in der Wissenschaft gäbe, als dies tatsächlich der Fall ist. Dem Eindruck von Uneinigkeit unter Wissenschaftler:innen kann dadurch entgegengewirkt werden, dass man darüber informiert, dass Medien die Tendenz haben, immer auch eine Gegenseite einzuladen – oder gar fachfremde Quasiexpert:innen."

Wobei sich die von den lieben Kolleginnen und Kollegen so gern rekrutierten "fachfremden Quasiexpert:innen" in der Pandemie-Debatte ja noch als wesentlich gefährlicher erwiesen haben (was im Altpapier immer mal wieder mindestens angerissen wurde, in dieser Kolumne zum Jahresbeginn etwa).

Ihre Kollegin Habel meint dazu:

"Der False Balance-Effekt sollte medial sehr viel stärker berücksichtigt werden. Der Mut zur Lücke sollte auch öffentlich erklärt werden. Im Fall der Verzögerungsargumente könnte es außerdem sehr hilfreich sein, wenn die Formen dieser Argumente bekannter wären, damit wir Verzögerungen schneller erkennen und stattdessen wirklich wirksame Lösungen angehen können."

Was waren jetzt noch mal "Verzögerungsargumente"? Eine Antwort gibt es hier - und im Interview geht es in diesem Zusammenhang unter anderem um den Leitartikel-Gassenhauer, "es liege in der Eigenverantwortung, sich klima- und umweltfreundlicher zu verhalten. Das lenkt den Fokus weg von den strukturellen Veränderungen, die so dringend notwendig sind" (Habel).

Statt Verzögerungsargumenten kann man durchaus also auch von Verhinderungsargumenten sprechen.

RTL, der neue Infogigant?

Der Fernsehsender RTL hat in den vergangenen Monaten immer mal wieder verkündet, das Informationsangebot ausbauen zu wollen. Eine der wenigen Stellen, an denen das bisher im Programm sichtbar ist, ist das im Juli gestartete "Klima-Update" (womit das Thema Klima hier noch kurz als Überleitung genutzt sei). Im Altpapier fand diese Mini-Sendung bereits kurz Erwähnung.

Stefanie Menschner blickt für Übermedien auf andere Stellen, an denen der Eindruck einer Informationsoffensive vermittelt werden soll:

"Tagsüber werden jetzt schon größere Teile des Programms mit irgendwie Informativem austapeziert (…) Das Mittagsjournal 'Punkt 12' ist seit einiger Zeit statt zwei satte drei Stunden lang. Seit vergangener Woche läuft um 16:45 Uhr die neue Nachmittags-Ausgabe 'RTL aktuell.'"

Bei "Punkt 12" habe das "Strecken von sehr wenig Material Methode" - das Thema "Tinder für Tiere" laufe "sogar zwei Mal in einer Sendung" -, und in der 15-minütigen Nachmittags-Ausgabe von "RTL aktuell" gibt’s dann auch schon mal einen "Test übers Einkaufen per App oder einen Bericht über alte japanische Damen, die Cheerleading für sich entdeckt haben".

Die beredteste Passage des Übermedien-Textes lautet:

"Diese 15 Minuten Informationsdarreichungen sind meist vor allem ein Vorgeschmack auf die 18:45-Uhr-Ausgabe von 'RTL aktuell'. Ähnlich wie 'Explosiv Stories' nochmal zeigt, was bei 'Punkt 12' lief, läuft um 18:45 Uhr eine längere Version der Beiträge von 16:45 Uhr. Immer wieder heißt es in der Frühsendung: 'Alles zu diesem Thema nachher bei 'RTL aktuell' um 18:45 Uhr.' Eigentlich hatte RTL eine 'weitere, vollwertige Ausgabe unseres Nachrichten-Flaggschiffs' angekündigt. An manchen Tagen wirkt es eher wie eine ausführliche Vorschau. Besonders ausufernd: der Wetter-Bericht. Der nimmt von den 15 Minuten allein schon mehrere in Anspruch, dient aber auch als Teaser mit Cliffhanger für den Wetterbericht am Abend. 'An der Ostsee trocken. In Bayern Schauer. Ob der Sommer noch zu uns kommt, dazu später mehr bei 'RTL aktuell' um 18:45 Uhr. Nicht verpassen!'"

Mit einer gewissen Skepsis werden das vielleicht auch manche Mitarbeitende des Verlags Gruner + Jahr lesen, vor allem jene, die sich ohnehin gefragt haben, von was für einem Laden sie da eigentlich gerade übernommen wurden (siehe Altpapier von Montag). Und erst recht, falls sie dabei waren, als der G+J-CEO und RTL-Inhaltechef Stephan Schäfer Anfang dieser Woche bei einer digitalen Mitarbeiterversammlung des Verlags gesagt haben soll, der Tag der Übernahme-Verkündung sei "ein guter Tag für den Journalismus" gewesen.

Fidel siegt in Wien

Seit Dienstag steht fest, dass beim ORF Anfang 2022 ein neuer Generaldirektor amtieren wird. Roland Weißmann heißt er. Ob er sein Amt einem Vorgang zu verdanken hat, der mit dem Begriff "Wahl" in jeder Hinsicht treffend beschrieben wäre - darüber lässt sich streiten: 

"Formal wird der ORF-Generaldirektor zwar von Stiftungsräten gewählt, aber dieser Vorgang hat mit einer Wahl so viel zu tun, wie es die Bestellung von Fidel Castro zum Staatspräsidenten in Kuba hatte. Der Löwenanteil der 35 Stiftungsräte wird von Regierung, Parlamentsparteien und Bundesländern bestellt",

schrieb dazu am Wochenende Christian Rainer, der Herausgeber des Magazins Profil.

In einem Bericht über die Kürung schreibt auch Cathrin Kahlweit in der SZ nun, es sei "keine" Wahl gewesen. Ihr Augenmerk richtet sich vor allem auf die österreichischen Grünen, die bei dieser Nicht-Wahl bewiesen, dass sie keine Verwandten kennen. Die Österreich-Korrespondentin schreibt:

"Im Stiftungsrat, der von Regierung, Parteien, Ländern und bedingt unabhängigen Organisationen besetzt wird, hatte die ÖVP bei dieser Wahl ohnehin eine Mehrheit gehabt, Weißmann wäre also mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso gewählt worden. Weshalb der kleine Regierungspartner - trotz des zu erwartenden Shitstorms von Kulturszene, Opposition und enttäuschten Grün-Wählern - argumentierte, dann könne man den Mann ja auch gleich mitwählen."

Der ORF-Starjournalist Armin Wolf sagt dazu im Interview mit dem Tagesspiegel:

"Angeblich haben die Grünen für ihre Zustimmung ein Mitspracherecht bei den restlichen Direktor*innen (TV, Radio, Finanzen, Technik) bekommen, was für einen ORF-Journalisten natürlich ziemlich frustrierend ist. Man würde sich ja wünschen, dass diese wichtigen Jobs einfach die bestqualifizierten Kandidat*innen bekommen und Parteien da gar nichts mitzureden hätten",

Was müsste sich strukturell ändern beim ORF? Jörg Leichtfried, den Mediensprecher der SPÖ, zitiert die FAZ mit den Worten, es bräuchte ein "Redaktionsstatut, das den Journalisten bei der Personalbesetzung mehr Mitsprache einräumt" (FAZ). Dass sich "die Befürchtungen, dass Kurz versucht, den ORF unter seine Kontrolle zu bekommen", bestätigt hätten, sagt Leichtfried auch.

Wie sich mehr Staatsferne bzw. "die Rückbindung an Gesellschaft und demokratischen Auftrag" herstellen ließe - dazu hat sich vor der Pro-Weißmann-Entscheidung ZDF-Fernsehrat Leonhard Dobusch unter anderem im Standard Gedanken gemacht:

"Der Ausweg wären Rundfunkschöffen, per Los ausgewählte Beitragszahlende, die mindestens ein Drittel der Mitglieder in einem vergrößerten Stiftungsrat stellen. Alle anderen müssten sich um deren Stimmen bemühen."

"Rundfunkschöffen" könnten auch in Deutschland eine Option sein, wo (aus im Detail anderen Gründen) die Reformbedürftigkeit der Rundfunkgremien ja ebenfalls mit Händen zu greifen ist.

Für @mediasres geht Altpapier-Autorin Annika Schneider darauf ein, dass es in der österreichischen Medienlandschaft auch in anderer Hinsicht mit der Staatsferne nicht weit her ist:

"Auch private Medien sind teilweise von öffentlichen Geldern abhängig: Viele finanzieren sich unter anderem über Inserate der Regierung und Presseförderung. Davon profitiert besonders die (…) Kronen Zeitung, mit einer Auflage von 700.000 Stück ein Schwergewicht auf dem österreichischen Pressemarkt. Sie bekam 2020 für Inserate 8,4 Millionen Euro von der Regierung."

Dass es problematisch ist, dass Medien, die Sebastian Kurz freundlich gesonnen sind, von den Anzeigen in sehr viel größerem Maße profitieren als regierungskritische Zeitungen und Zeitschriften - das war vor rund zwei Monaten schon einmal Thema in einem anderen @mediasres-Beitrag gewesen.

Altpapierkorb (Nord-Süd-Gefälle auch in der Corona-Berichterstattung, ein Wahlkampfvideo und der Streisand-Effekt, uncharismatische Patriarchen, Writers of Color)

+++ Beim Europäischen Journalismus-Observatorium stellt Ladislaus Ludescher eine Untersuchung vor, der zufolge bei der Berichterstattung in der 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" im vergangenen Jahr der "globale Süden nur eine untergeordnete Rolle spielte": "Sie (…) berichtete (…) in etwa nur 5 % ihrer Sendezeit, in der sie sich mit der Pandemie beschäftigte, über den Globalen Süden (…), und hier v.a. über China. Etwa zwei Drittel der Pandemie-Sendezeit widmete sie den Entwicklungen in Deutschland, ca. 29 % dem zum Globalen Norden gehörenden Ausland (v.a. der EU bzw. den europäischen Staaten und den USA)."

+++  Dass "die Wut der CDU" über ein SPD-Wahlkampfvideo, in dem der "erzkatholische Laschet-Vertraute" Nathaniel Liminski Erwähnung findet, letztlich der SPD nützt, schreibt Tobias Singer in einem Kommentar für Meedia. Er argumentiert folgendermaßen: "Weder auf Facebook, noch auf YouTube und Twitter ist (der Spot) zu finden. Jedenfalls nicht auf den offiziellen Kanälen. Das viel diskutierte Video, der Aufreger – die SPD selbst teilt ihn nicht, verbreitet ihn nicht. Auch Raphael Brinkert von der Agentur Brinkert Lück, die für die Kreation verantwortlich ist, teilt das Video nicht, weder privat, noch über den Account der Firma. Ob man den Dreh mag oder nicht, man muss sagen, die SPD hat einen echten Coup gelandet. Sie hat es geschafft, die CDU aus der Reserve zu locken, mit einem Spot, den die Partei selbst gar nicht aktiv verbreitet, die CDU aber am liebsten wieder aus dem Verkehr ziehen würde. Das Ergebnis: Er ist im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Union fügt sich den Schaden selbst zu." Man könne hier mal wieder vom "Streisand-Effekt" sprechen, so Singer. Eher zu wenig gesprochen wird mMn aber über Liminskis Wirken als medienpolitischer Strippenzieher (siehe Altpapier und "Flimmern und Rauschen"/taz)

+++ Auch wenn es zwischen den beiden derzeit im Bund regierenden Parteien in der eben genannten Wahlkampfangelegenheit gerade Beef geben mag: Über Gemeinsamkeiten kann man natürlich auch reden, und Margarete Stokowski tut es in ihrer Spiegel-Kolumne. Es geht darum, dass die Kanzlerkandidaten beider Parteien, also Liminski-Buddy Laschet und Olaf Scholz, bei ihren Wahlkampfauftritten eine "Rolle nahezu perfektioniert" haben, nämlich folgende: "Während viele Menschen ein klischeehaftes Bild vom Patriarchat im Kopf haben und der Meinung sind, dass es so was hier nicht mehr gibt, übersehen sie, dass sich in Deutschland längst eine Variante des Patriarchats verbreitet hat, die vom Klischee weit entfernt und doch umso dominanter und hartnäckiger ist. Der bei uns dominante Typ ist: der betont uncharismatische, unkörperliche, mit seiner Gestrigkeit kokettierende Schmunzler, der sich prinzipiell nicht entschuldigt und jahrzehntelang trainiert hat, Fragen nur als Anregungen zu sehen, noch mal dasselbe zu sagen, was er immer sagt, denn offenbar haben es immer noch nicht alle verstanden, aber er hat Geduld."

+++ Bereits seit 2015 gibt es das US-amerikanische Projekt Writers of Color, das der Unwilligkeit von Medienhäusern, Redakteure und Autoren of color zu beschäftigen unter dem Motto "We don't want to hear *I can't find any* ever again, okay?" entgegen tritt - und es auch zum Thema macht, wenn Writers of Color schlechter bezahlt werden als andere. Das Nieman Lab stellt die Initiative vor.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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