Teasergrafik Altpapier vom 9. Februar 2022: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
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Das Altpapier am 9. Februar 2022 Die Frauen hinter "the Reichelt affair"

09. Februar 2022, 09:58 Uhr

Die "Causa Reichelt" hat ein neues Kapitel. Was manche wie die Geschichte eines dramatischen Karriereknicks lesen, ist vor allem für die betroffenen Kolleginnen tragisch. Auf Instagram geht derweil die Medienkritik einer 17-Jährigen viral. Ein Altpapier von Annika Schneider.

Compliance à la carte?

"Empörend, dass die FT jetzt nach Wirecard ein zweites aufstrebendes Digitalunternehmen aus Deutschland mit haltlosen Gerüchten in die Knie zwingen will."

Das twitterte gestern Tobias Dünow, Brandenburger SPD-Staatssekretär in Elternzeit. Das "aufstrebende Digitalunternehmen" meint natürlich Axel Springer und der Tweet bezieht sich auf einen gestern in der "Financial Times" erschienenen und vielfach geteilten Artikel (zu finden hinter dieser Paywall). Der Text präsentiert Ergebnisse einer dreimonatigen Recherche und zieht in Zweifel, ob die Springer-Führung mit den Machtmissbrauchsvorwürfen gegen den ehemaligen "Bild"-Chef Julian Reichelt richtig umgegangen ist – das nächste Kapitel in einer Medienstory, die schon im vergangenen Jahr genug Stoff für einen Altpapier-Jahresrückblick lieferte.

Die zukünftige "Spiegel"-Journalistin Juliane Löffler, die für Ippen Investigativ die Vorwürfe gegen Reichelt recherchiert hatte, hatte im Dezember im Interview mit dem DJV-Magazin "Journalist" ein paar Fragen genannt, die aus ihrer Sicht noch offen sind:

"Welche Personen haben bei Springer dieses System von Machtmissbrauch wissentlich übersehen, es zugelassen oder sogar unterstützt? Was ist es für eine Unternehmenskultur, in der derartige Missstände über Jahre möglich sind? Welche Rolle spielt Angst, welche Rolle Sexismus, welche Rolle spielen andere mächtige Männer in dem Unternehmen?"

Einige Antworten liefert nun die FT-Recherche. Darin geht es vor allem um das Frühjahr letzten Jahres, als Reichelt wegen eines Compliance-Verfahrens für zwölf Tage suspendiert war, bevor er an seinen Arbeitsplatz zurückkehren durfte. Die vier Autorinnen und Autoren haben nach eigenen Angaben mit über 30 Menschen aus dem "Bild"-Umfeld gesprochen und zeichnen ein Bild, wonach die Leitungsebene bei Springer schon früh von konkreten Vorwürfen gegen Reichelt wusste, ihn aber zu schützen versuchte, auch mit zweifelhaften Methoden.

Nicht nur gegenüber der FT, sondern auch gegenüber anderen Medien hat Springer die Vorwürfe zurückgewiesen. In diversen Berichten ist das gleiche Statement zu lesen:

"Der Artikel zeichnet ein irreführendes Bild der Compliance-Untersuchung, der daraus gezogenen Konsequenzen, des gesamten Unternehmens und seiner Führung."

Unabhängig davon, wer wann was getan oder gewusst hat, gibt das Fazit des FT-Teams aber in jedem Fall zu denken:

"[T]he fallout from the Reichelt affair shows the inherent tension of compliance investigations – a system of corporate governance riddled with conflicts that is paid for, managed and communicated by a company itself.”

Sprich: Wenn Aufklärung von einem Unternehmen selbst beauftragt, organisiert und bezahlt wird, kann das die Unabhängigkeit des Verfahrens gefährden. Ob das bei Axel Springer der Fall war, wird sich noch zeigen müssen.

"Elend schwere Zeit" für Betroffene

Gleichzeitig lese ich in dem FT-Artikel zwischen den Zeilen ein leises Staunen darüber, wie mild deutsche Gesetze und Unternehmensrichtlinien #MeToo-Fälle beurteilen. Das ist vielleicht ein guter Moment, um daran zu erinnern, dass es in der "Causa Reichelt" eben nicht in erster Linie um den tragischen Karriereknick eines Medienbosses geht, sondern um Erlebnisse von Frauen, die niemandem zu wünschen sind – vielleicht auch ein Grund, sich mit dem typischen, oben zitierten Twitter-Humor in diesem Fall zurückzuhalten. Im Gedächtnis bleibt nach dem Lesen des FT-Artikels die Aussage einer ehemaligen Springer-Angestellten:

"A couple of years back, I remember asking a lot of my colleagues, 'in theory, who would you go to, if you had a problem with Julian?' They would laugh.”

Eine andere Frau ließ der FT ihre Äußerungen über ihren Anwalt zukommen. Das lässt ahnen, welche Achterbahnfahrt betroffene Frauen inzwischen hinter sich haben. Wenn es stimmt, was die FT schreibt, wurde schon im Compliance-Verfahren die Anonymität der Befragten nicht wie versprochen gewahrt. Im vergangenen März war im "Spiegel"-Bericht zum Thema zu lesen, dass Anwälte von einzelnen Betroffenen ihre Mandantinnen zum Teil gewarnt haben sollen, "die Compliance-Profis mit Infos zu versorgen, solange Reichelt nicht mindestens beurlaubt oder freigestellt ist".

Dann folgte die Ippen-Recherche, in deren Rahmen sich einige Frauen entschlossen, zu reden – und die auf den letzten Metern vor der Veröffentlichung gestoppt wurde. Juliane Löffler sagte dazu im "Journalist":

"Für die Quellen war die Nachricht natürlich auch hart. Eine Person war am Telefon sehr verzweifelt und hat gesagt: Wie kann es sein, dass man uns jetzt schon wieder nicht zuhört?"

Aber es geht nicht nur darum, dass den Frauen nicht zugehört wurde. Der Korrespondent der FT in Frankfurt, Olaf Storbeck, der an der aktuellen Recherche beteiligt war, berichtet im Interview mit @mediasres, dass einer der Frauen von Springer rechtliche Schritte angedroht worden seien. Nils Minkmar schreibt in der "Süddeutschen Zeitung":

"Man stellt sich vor, was für eine lange, elend schwere Zeit jene Springer-Mitarbeiterinnen hatten, die von Reichelt angemacht wurden, sich beschwerten und dann zusehen mussten, dass die versprochene Aufklärung nur Show ist."

Mal wieder der Auslandsblick

Die mediale Aufklärung leistet jetzt nach der "New York Times" schon wieder eine Redaktion aus dem Ausland, obwohl sich alle Geschehnisse in Deutschland zugetragen haben. Olaf Storbeck erklärt das internationale Interesse bei @mediasres so:

"Es ist ein international tätiger Verlag mit prominenten Investoren und großen Ambitionen in den USA. Sie haben im letzten Jahr Politico gekauft für eine Milliarde Dollar, eins der größten und erfolgreichsten US-Politik-Onlinemedien."

Den deutschen Leitmedien bleibt es einmal mehr überlassen, die jüngsten Enthüllungen nachzuerzählen. Das tun sie in unterschiedlicher Ausführlichkeit. Die FAZ und die taz beschränken sich in der heutigen Print-Ausgabe auf eine kleine Meldung, der "Tagesspiegel" berichtet in einem längeren Bericht.

Die "Süddeutsche Zeitung" hingegen bringt einen Aufmacher zum Thema, der eigentlich als Kommentar überschrieben sein müsste (unter anderem wird der FT-Artikel als "erschütternd" bezeichnet). Auf der Medien-Übersichtsseite des Onlineportals ist der Text immerhin mit einem rosa Sticker als Meinungsbeitrag gekennzeichnet.

In den Springer-Blättern "Bild" und "Welt" habe ich wiederum – wenig überraschend – gar keine Meldungen zum Thema gefunden.

Pressekritik vom Krankenhausbett

Zu der Frage, wie und wann Stimmen von Betroffenen in der Medienberichterstattung gehört werden, passt ein Instagram-Video, das gestern viral ging. Zu sehen ist darin eine junge Frau auf einem Krankenhausbett, die ihre Sicht auf einen Vorfall am vergangenen Samstag schildert. Dilan Sözeri sagt, sie sei von mehreren Menschen rassistisch beleidigt, angegriffen und verletzt worden. Die 17-Jährige berichtet knapp zehn Minuten lang von Beleidigungen, Schlägen und untätigen Zeuginnen und Zeugen. Zu sehen sind auch kurze Videosequenzen, die sie während des Vorfalls gefilmt habe.

Ihre Schilderung deckt sich mit einer Polizeimeldung, die der Journalist Till Oppermann getwittert hat: "Nach rassistischer Beleidigung und Körperverletzung – Zeugen gesucht". Eine ganz andere Darstellung findet sich hingegen in einigen Zeitungsüberschriften, von denen die Lehrerin Bahar Aslan Screenshots gemacht hat. FAZ und "Welt" nannten demnach als Grund für die Attacke, dass die Jugendliche keinen Mund-Nasen-Schutz getragen habe (was sie selbst im Video bestreitet), die B.Z. deutet den Zusammenhang in der Überschrift zumindest an. Im Instagram-Video sind außerdem weitere Screenshots irreführender Schlagzeilen zu sehen.

Sie sei körperlich und psychisch am Ende, auch "weil ich nicht verstehe, warum die Presse, Social Media, die Polizei-Webseiten, die Zeitungen, etc. […] die Wahrheit verdrehen, denn es hätte auch anders ausgehen können", sagt Sözeri in ihrem Video. Die Presse verbreite Lügen und lasse ihr keine andere Wahl, als sich auf diesem Weg an die Öffentlichkeit zu wenden.

Wenn ihre Schilderung so stimmt, wäre es ein Tiefpunkt in der Berichterstattung der genannten Blätter: Eine Attacke auf eine 17-Jährige wird in der öffentlichen Debatte so verdreht und instrumentalisiert, dass sie keine andere Möglichkeit sieht, als auf Instagram das Erlebte detailreich zu schildern – zum Teil unter Tränen und während sie noch im Krankenhaus behandelt wird. Wenn die Polizeiermittlungen das Geschilderte bestätigen, wäre das wohl ein Fall für den Presserat.


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