Das Altpapier am 16. Februar 2022 Verdruckste Chefredakteure
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16. Februar 2022, 11:56 Uhr
Der "Tagesspiegel" zieht eine Harald-Martenstein-Kolumne zurück, liefert für die unausweichliche Entscheidung aber nur eine maue Begründung. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen wirbt zu wenig dafür, dass sich Bürger in medienpolitische Grundsatzfragen einmischen. Und in der Pandemie hat es zu sehr auf die Wirkung von Worten vertraut. Ein Altpapier von René Martens.
Nie wieder Zynismus
Harald Martenstein hat Anfang Februar im "Tagesspiegel" eine Kolumne veröffentlicht, in der er das Tragen von "Judensternen" mit der Aufschrift "Ungeimpft" als "sicher nicht antisemitisch" bezeichnet. Ralf Balke schrieb daraufhin in der "Jüdischen Allgemeinen": "Offensichtlich gehört Martenstein genau zu den Personen, die keinen Begriff mehr vom Antisemitismus haben oder haben wollen und im postmodernen Nebel irrlichtern." Und Meredith Haaf kommentierte in der "Süddeutschen Zeitung" unter der Überschrift: "Die gefährliche Leichtfertigkeit im Umgang mit Judenhass": "Martensteins Beitrag wäre inhaltlich nicht der Rede wert, würde er nicht so offenkundig einem gewissen Zeitgeist entsprechen."
Am Dienstag hat nun die Chefredaktion des "Tagesspiegel" mitgeteilt, "dass wir diese Kolumne so nicht hätten veröffentlichen sollen", und man sie deshalb "zurückgezogen" habe. Nach dieser Information folgen die Sätze: "Wir haben grundsätzlich unsere redaktionellen Abläufe sowie unsere Qualitätskontrolle und unser Selbstverständnis überprüft. Dazu stellen wir klar: …"
Und dann? Kommt bloß eine "verdruckste Stellungnahme" (Stefan Niggemeier) - mit weirden Allgemeinplätzen à la "Wir nutzen Ironie, aber wir vermeiden Zynismus". Von einer konkreten Auseinandersetzung mit der nun zurückgezogenen Kolumne und ihrer Gefährlichkeit dagegen keine Spur.
Unter Krisenkommunikationskritikern spricht man in solchen Fällen von einer "Nonpology". Der Begriff steht für Stellungnahmen, die formal den Eindruck einer Entschuldigung wecken bzw. wecken sollen, aber um das, was eigentlich gesagt werden müsste, herumlavieren. Siehe dazu beispielsweise einen Beitrag im "Zeit"-Ressort "ze.tt" aus dem vergangenen Sommer. Gefühlt veröffentlichen Medienunternehmen öfter Nonpologies als tatsächliche Apologies, aber vielleicht ist das auch nur ein durch Social-Media-Dynamiken und -Verzerrungen entstehender Eindruck.
Putzig übrigens auch, dass in der "Klarstellung" der "Tagesspiegel"-Chefs steht: "Wir verzichten auf Provokationen um der Provokation Willen." Dabei ist genau das Martensteins Geschäftsmodell seit dem Dreißigjährigen Krieg, und es ist nicht anzunehmen, dass er sich ein anderes suchen wird.
Ehrliche Wut
Den "Fall" Prien, den ich hier am Montag aufzudröseln versucht habe, regt weiterhin zum Kommentieren an. Im "Krautreporter"-Newsletter "über Bildung, Kinder und Jugendliche" schreibt Bent Freiwald:
"Hinter dem Shitstorm um Karin Prien steht eine größere Frage: Welche Gefühle sind zu diesem Zeitpunkt der Pandemie noch legitim? Priens Tweet suggeriert: Sorgen um Kinder mit Vorerkrankungen gehören nicht dazu."
Marina Weisband sagt in ihrer @mediasres-Kolumne, sie verorte "den Großteil der Rückmeldungen, die jetzt kollektiv als 'enthemmter Mob' bezeichnet werden", als "ehrliche Wut betroffener Bürger*innen".
Und:
"Ich könnte einen Artikel über Shitstorms und Diskussionskultur auf Twitter schreiben. Aber darüber reden wir irgendwie die ganze Zeit. Über das Leben, die Gesundheit und die Würde von Kindern mit chronischen Krankheiten hingegen – kaum je."
Ohne den Fall Prien aufzugreifen, analysiert Johannes Franzen in seinem Newsletter "Kultur & Kontroverse", wie "Shitstorm" u.ä. Begriffe in Debatten verwendet werden:
"In der Diskussion darüber, ob das Internet ein Segen oder eher ein nicht enden wollender Fluch ist, spielen der 'Shitstorm', der 'Online-Pranger', der 'Pile-On', die 'Dunking-Kultur' etc. eine wichtige Rolle. Kaum irgendwo sonst verdichten sich die Ängste in Bezug auf den neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit stärker. Das liegt zum einen daran, dass diese Begriffe dazu dienen, die Panik vor einer Öffentlichkeit in Worte zu fassen, die nicht in den etablierten Medien stattfindet. Zum anderen liegt es aber natürlich auch daran, dass es sich um eine tatsächlich bedrohliche Alltagserfahrung handeln kann."
Unter Verweis auf Jon Ronsons "ohne dumpfe anti-digitale Kulturkritik" auskommendes Buch "So you've been Publicly Shamed" schreibt Franzen weiter:
"Nicht jede Kritik im Internet ist ein Shitstorm und nicht jede Form von öffentlicher Entrüstung ist schlecht. Es gibt allerdings eine Entwicklung hin zu einer spezifischen Form des individuellen Shaming, die vor allem nicht-öffentlich agierende Einzelpersonen betrifft (soweit man heutzutage überhaupt nicht-öffentlich sein kann) (…) Inzwischen geht das so weit, dass es ganze Internetseiten gibt, die Fälle von Impfgegnern sammeln, die an Covid gestorben sind, um sich über sie lustig zu machen. Die Mechanismen dieser Ereignisse sind einigermaßen ritualisiert, scheinen mir aber noch nicht ausreichend erforscht. Das mag daran liegen, das der Zusammenhang zwischen strukturellen und individuellen Faktoren nach wie vor ziemlich unüberschaubar wirkt."
Zu wenig Aufmerksamkeit für Mitsprache
Auf der meiner Wahrnehmung nach in Debatten nur noch selten präsenten Plattform "Carta" äußert sich Leonard Novy, der Direktor des Instituts für Medienpolitik, kritisch zum Verfahren zur Bürgerbeteiligung am Entwurf des Medienstaatsvertrages (FAZ, Altpapier). Gerade mal 2600 Eingaben standen nach Abschluss des Verfahrens zu Buche, was Novy folgendermaßen kommentiert:
"Mal ganz abgesehen davon, dass die Zahl der Eingaben eben noch nichts über deren Qualität aussagt: Groß beworben wurde das Ganze nicht. Mit welchen Initiativen haben die Staatskanzleien, aber auch die Sender, die es ja betrifft, in den vergangenen Monaten versucht, die nötige Aufmerksamkeit zu schaffen? Wo waren die Anzeigen, die Social Media-Kampagnen und, online wie offline, die Veranstaltungen, in denen der Entwurf und Mitsprachemöglichkeiten präsentiert worden wären?"
Anstatt zwischen den Sendungen noch einen und noch einen Werbetrailer fürs eigene Programm zu zeigen, hätte man ja tatsächlich mal in knackigen Clips fürs Sich-Einmischen in medienpolitische Grundsatzfragen trommeln können. Novy geht noch einen Schritt weiter:
"Wo waren die Prime-Time-Formate, in denen ARD und ZDF im Rahmen ihres Auftrags und aus Anlass des aktuellen Verfahrens ihr eigenes Tun heute und in Zukunft zur Debatte stellten?"
Dass das "Beteiligungsverfahren den technokratischen Appeal eines kommunalen Planfeststellungsverfahrens zum Bau einer Umgehungsstraße" hatte, regte möglicherweise auch nicht zur Einmischung an.
Novys Fazit:
"Die nun gelaufene Konsultation (kann) nur der Auftakt einer breiten gesellschaftlichen Aushandlung sein. Es geht um Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit."
Altpapierkorb (80 Jahre Breloer, Tagebücher eines Bankers, Lage der "Sächsischen Zeitung", bräsige Media Freedom Coalition)
+++ "Hat das Fernsehen in der Pandemie (…) keinen guten Job gemacht?", fragt Thomas Gehringer für den "Tagesspiegel" den Regisseur Heinrich Breloer. Dieser sagt: "Sie vertrauen zu sehr auf das Wort. Aber das Fernsehen ist ja ein Bildermedium, und die Menschen sind durch Bilder ganz anders zu erreichen. Wo sind die Clips, die in 40 Sekunden das tatsächliche Drama vor Augen führen bis ins Krematorium? Mit dem einen Satz: 'Besser einen Lappen vorm Mund als ein Zettel am Zeh.'" Das Interview wurde anlässlich Breloers 80. Geburtstag geführt. Auch im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" ist ein langes Gespräch mit ihm erschienen.
+++ Im Berufungsverfahren um die in Sachen Cum-Ex relevanten Tagebucheinträge des Hamburger Bankers Christian Olerarius, die die SZ veröffentlicht hatte, habe sich in der mündlichen Verhandlung am Dienstag vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht eine Niederlage für die Zeitung abgezeichnet. Das berichtet diese in eigener Sache - allerdings nur in Form einer langen dpa-Meldung (die FAZ bringt eine kürzere Version). Der SZ-Anwalt Martin Schippan habe darauf verwiesen, dass es ein "überragendes öffentliche Interesse" an diesen Tagebucheinträgen gebe.
+++ Zu jenen Teilen des alten Verlags Gruner + Jahr, die nicht mit RTL fusioniert wurden, gehört neben der Beteiligung am "Spiegel" u.a. auch der 60-Prozent-Anteil an der DDV-Mediengruppe, in der wiederum die "Sächsische Zeitung" erscheint. Carsten Dietmann, der DDV-Geschäftsführer, sagt im Interview mit "Flurfunk Dresden": "Wir alle sind nun in einer Medienholding von Bertelsmann geparkt. Vermutlich wird Bertelsmann im zweiten Schritt die Sinnhaftigkeit dieser Beteiligungen im Bertelsmann Portfolio überprüfen. Dabei liegt momentan der Fokus aber auf der Umsetzung der großen Fusion – meines Wissens nach gibt es zur Zeit weder Verkaufsbemühungen noch eine endgültige Entscheidung zum Verbleib der Beteiligungen."
+++ Was hat eigentlich die 2019 von 50 Staaten gebildete Media Freedom Coalition (MFC) bisher auf die Reihe bekommen? Eher nicht so viel, wie eine Auswertung von Martin Scott und Mel Bunce ergeben hat, auf die die beiden Autoren beim "Nieman Lab" eingehen: "Die Media Freedom Coalition hat bisher 24 gemeinsame Erklärungen veröffentlicht, in denen sie öffentlich diejenigen verurteilt, die die Medienfreiheit verletzen, wie die Behörden in Weißrussland, China, Ägypten, Myanmar, den Philippinen, Russland, Uganda und dem Jemen (…) Aber diese öffentlichen Äußerungen wurden oft sehr schlecht publik gemacht. Bis vor kurzem hatte die Koalition nicht einmal eine eigene Website oder Social-Media-Accounts." Aber auch die Kommunikation untereinander lief möglicherweise nicht optimal, denn: "Gemeinsame Erklärungen zur Verletzung der Medienfreiheit in bestimmten Ländern wurden im Durchschnitt nur von 57 Prozent der Mitgliedsländer unterzeichnet. Spanien (27 Prozent) und Belize (27 Prozent) seien dabei die schlimmsten Übeltäter, sogar Afghanistan steht mit 31 Prozent besser da - wobei sich andererseits natürlich die Frage stellt, warum es die Media Freedom Coalition bisher nicht geschafft hat, Afghanistan auszuschließen.
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.