Das Altpapier am 10. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
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Das Altpapier am 10. Juni 2022 "Betriebsunfall der Mediengeschichte"

10. Juni 2022, 10:20 Uhr

Sollen die Öffentlich-Rechtlichen auf jeder Plattform tanzen – und zwar deren Tänze? Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung stellt das infrage. Und: Angela Merkel gibt ein Interview, auch zu ihrer Russlandpolitik – und krönt sich dabei selbst: zur Deutungshoheit. Ein Altpapier von Klaus Raab.

Die Öffentlich-Rechtlichen und die Social Media

Das Verhältnis zwischen Öffentlich-Rechtlichem Rundfunk (ÖRR) und Social-Media-Plattformen ist kompliziert. Der ÖRR kann ohne sie nicht er selbst sein, weil er ohne sie nicht alle erreichen kann, die für ihn Beiträge leisten. Mit ihnen kann er aber auch nicht ganz er selbst sein, weil die Plattformen Interaktion belohnen – auch solche, auf die der ÖRR es eigentlich nicht abgesehen haben kann.

Was würde ein Paartherapeut sagen, wenn die beiden vor ihm auf der Couch säßen? Vielleicht: "Sie sollten den anderen so nehmen, wie er ist"? Das wird aber nicht geschehen, würde dann Henning Eichler erwidern, denn: "Insgesamt ist die Beziehung zwischen den öffentlich-rechtlichen Medien und den Plattformen von einem starken Machtgefälle zugunsten letzterer geprägt."

So steht es in Eichlers Studie, die er für die Otto-Brenner-Stiftung erarbeitet hat. "Journalismus in sozialen Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?", heißt sie. Das Erscheinen der Studie wurde an dieser Stelle kürzlich schon angekündigt, aber nun ist sie da und wird diskutiert (mit Eichler selbst etwa bei @mediasres im Deutschlandfunk). Wenn man sie liest, bekommt man nicht den Eindruck, dass es in den öffentlich-rechtlichen Häusern als pures Glück empfunden wird, dass man auf jeder Plattform tanzen soll – und dann auch noch deren Tänze. Vor allem der empirische Teil der Arbeit ist interessant. Es gibt darin zahlreiche Passagen aus Interviews mit Mitarbeitern der Öffentlich-Rechtlichen, die sich zwar nicht in allem einig sind. Aber, so Henning Eichler:

"In vielen Aussagen wird deutlich, dass sich die Befragten bewusst darüber sind, in einem permanenten Konflikt zu stehen, Inhalte entweder mehr auf Reichweite oder eher auf inhaltliche Qualitätskriterien hin umzusetzen."

Eichler schreibt auch:

  • "Schon in der Formatentwicklung orientieren sich Redaktionen an Plattform-Konventionen mit dem Ziel, journalistische Inhalte so darzustellen, dass sie durch die Algorithmen eine möglichst große Verbreitung erfahren." Und:
  • "Themenvorschläge werden zudem daraufhin diskutiert, ob sie Potential für hohe Interaktionsraten haben und inwiefern sie sich emotionalisierend umsetzen lassen."

Es zieht sich auch ein zweiter Strang durch die Studie, der sich mit diesem Zitat zusammenfassen lässt: "Zum anderen dienen journalistische Werte als Kompass in Redaktionskonferenzen. So werden auch regelmäßig Themen umgesetzt, die keine Aussicht auf besonders hohe Reichweiten haben."

Aber unter dem Strich wird sehr klar, dass die Bedeutung der Plattformen in der redaktionellen Arbeit ein Dilemma bedeutet, weil bestimmte Themen, Zugänge und Formen bevorzugt werden, allerdings nicht aus journalistischen Gründen. Die Debatte darüber, was die Öffentlich-Rechtlichen im Plattforminternet tun sollen und was nicht, könnte mit dieser Studie auf ein neues Level gerückt werden, schon deshalb, weil die Beobachtungen von öffentlich-rechtlichen Praktikern selbst kommen.

Auch die, die die sehr vielen und vielfältigen Ausritte der Öffentlich-Rechtlichen zu Instagram und Co. verteidigen, haben Argumente. ZDF-Verwaltungsratsmitglied Leonhard Dobusch weist in seiner netzpolitik.org-Kolumne darauf hin, dass das "Buhlen um die Massengunst" ARD und ZDF schon Jahrzehnte vor den Plattformen vorgeworfen wurde, und er schreibt: "So wichtig es (…) ist, die Gefahren einer unreflektierten und übermäßigen Orientierung an kommerziellen Plattformalgorithmen in den Blick zu nehmen, so wichtig ist es auch, die Potenziale der Nutzung von Drittplattformen nicht aus dem Blick zu verlieren."

Und WDR-Intendant Tom Buhrow hat der Deutschen Presse-Agentur ein Interview gegeben und sagt: "Wir entwickeln viele WDR-Angebote speziell für die Onlinewelt. Und wir sind auch auf Drittplattformen präsent. Wir machen Programm für alle. Deshalb müssen wir überall da sein, wo die Menschen sind, zuhause, unterwegs, um sie digital zu erreichen." 

Es geht also darum, möglichst alle zu erreichen, ohne dass die Plattformen indirekt mit bei der Redaktionskonferenz sitzen, um mitzuentscheiden, welche öffentlich-rechtlichen Inhalte umgesetzt werden (und welche nicht). Wie? "ARD, ZDF und Deutschlandradio müssen einer eigenen Digitalethik folgen, sie brauchen einen eigenen, einen öffentlich-rechtlichen Algorithmus", fordert Joachim Huber im "Tagesspiegel". Christoph Kappes, der die Otto-Brenner-Studie in einem Twitter-Thread kommentiert, schreibt dagegen, seiner Ansicht nach müsse man ein paar Gesichtspunkte noch radikaler durchdenken:

"Content-Anbieter mit Qualitätsanspruch sind auf Social Media schlecht vertreten. Etwa bestrafen Plattformen externe Links und bevorzugen plattforminterne Interaktion. Das ist broken by design. (…) Die Konzepte von Social Media zielen quantitativ auf (Micro-)Interaktion, um Irritation zugunsten von viel Werbung zu erzeugen. Das ist das Gegenteil von qualitativer Steuerung: Gute Tools würden Debatten strukturieren helfen und (echte) Moderation wäre ein Herzstück."

Die bestehenden Konzepte "zu veröffentlich-rechtlichen", helfe nichts. Er spricht von einem "Betriebsunfall der Mediengeschichte".

Merkels Medienstrategie: Deutungshoheit

Der Freitag ist kein schlechter Tag, um auf die Woche zurückzublicken. Am Dienstagabend fand ein Talk statt, der die Nachrichtenmagazine des späteren Abends dominierte und bis zum gestrigen Donnerstag allerhand Nachbetrachtungen generierte: Alexander Osang vom "Spiegel" sprach im Berliner Ensemble mit Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel. Zum ersten Mal nach ihrer Amtszeit äußerte sie sich öffentlich ausführlich über ihre neue Rolle und ihren Blick auf den russischen Angriffskrieg und seine Geschichte.

"(E)ine nicht funktionierende Bundeswehr, die autarken, also regenerativen Energien schwach ausgebaut, die Gas-Abhängigkeit von Russland nach der ersten Invasion der Ukraine dagegen noch gewachsen, an der geopolitisch brandgefährlichen Pipeline Nord Stream 2 festgehalten und schließlich sogar die deutschen Gasspeicher an Putin verkauft" – so umreißen Tina Hildebrandt und Bernd Ulrich in der "Zeit", worüber mit ihr zu reden wäre. Darüber aber wurde, wie viele fanden, nicht genug geredet. Und das lag – das fanden ebenfalls viele – am Interviewer.

Wer sind "viele"? Viele sind jedenfalls nicht nur Marc Felix Serrao, der in der "NZZ" andeutet, dass sein Medium aus einem medialen Konsens ausschere. Er schreibt:

"'Meine Kanzlerin wird sie sowieso immer bleiben', bekennt der in deutschen Journalistenkreisen sehr angesehene 'Spiegel'-Reporter Alexander Osang gleich zu Beginn und behält den Flötenton für den Rest des Abends bei. Merkel gefällt das."

Die "NZZ" produziert sich als widerspenstige Stimme in der deutschsprachigen Medienlandschaft, indem Serrao den von ihm kritisierten Osang als "in deutschen Journalistenkreisen sehr angesehen" charakterisiert. Denn was soll das in dem Zusammenhang aussagen? Schlagen wir nach unter "Syllogismus": Osang ist Merkel-Fan – deutsche Journalistenkreise finden Osang gut – also sind deutsche Journalisten Merkel-Fans? Was Serrao nicht schreibt, ist, dass Osang von vielen deutschen Journalistinnen und Journalisten für seine Interviewführung kritisiert wurde, mal subtiler, mal deutlicher. Einen kleinen Überblick über die kritischen Stimmen von Nils Minkmar ("Werden die beiden damit auf Tour durch Kurorte gehen?") über Stefan Schirmer ("Zeit") bis Paul Ronzheimer ("Bild") gibt es bei kress.de.

Es gibt noch weitere Stimmen:

  • Sabine am Orde in der "taz": "Auf Selbstkritik oder zumindest das öffentliche Hinterfragen alter Positionen wartet man trotz der dramatischen Lage in der Ukraine vergeblich, auf kritisches Nachhaken Osangs auch."
  • Eckart Lohse in der "FAZ": "Ein paar Fragen wären aber schon angebracht gewesen, auch ohne der Politikruheständlerin ungebührlich zu begegnen. Warum etwa hielt auch sie nach der Eroberung der Krim im Jahr 2014 noch so lange am Bau der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 fest?"
  • Joachim Käppner kommentiert Merkels Auftritt in der "Süddeutschen": "So leicht wie im Berliner Ensemble wird sie es künftig wohl selten haben."
  • Und auch Melanie Amann, Mitglied der "Spiegel"-Chefredaktion, kritisiert, das Ganze sei für Merkel ein "Wohlfühltermin" gewesen. Was, auch ohne explizite Kritik an ihrem eigenen Kollegen, auf ihn zurückfällt.

Die Frage ist: Wie kam es zu dieser Gesprächskonstellation? Der Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat in den "Tagesthemen" am späteren Dienstagabend das kurz zuvor zu Ende gegangene Podiumsgespräch analysiert. Merkel, die während ihrer Regierungszeit praktisch nur unter großem Druck und vor Wahlen ausführliche Interviews gegeben habe, versuche nun, da ihre Russlandpolitik kritisiert werde, die Deutungshoheit über ihre Kanzlerschaft zu behalten, so seine These. Und die ist alles andere als abwegig.

Angela Merkels Umgang mit der medialen Öffentlichkeit war in ihrer Regierungszeit bemerkenswert instrumentell. Sie erklärte sich nur, wenn sie musste, und so, wie sie es wollte. Von einem "urpragmatischen Vorgehen" sprach Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen dieser Tage in der "phoenix runde". Das setzte sich beim Gespräch im Berliner Ensemble fort, für das Merkel – wenngleich in einem für sie nicht völlig kontrollierbaren Rahmen – die Bedingungen mitgesetzt haben dürfte:

"Sie hat sich diesen Abend ausgesucht, ihn mit ihrem Team diskutiert, wie sie später sagen wird. Sich für diese Bühne entschieden, die zum Berliner Ensemble (BE) am Schiffbauerdamm gehört. Für den Mann auf der Bühne, den Reporter und Schriftsteller Alexander Osang, der aus einem Porträt vorliest, das er über sie für den Spiegel geschrieben hat",

schreibt Wiebke Hollersen in der "Berliner Zeitung". Ob es Merkel selbst war, die Osang ausgesucht hat oder, wie Osang in einem ergänzenden Interview mit der "Berliner Zeitung", für die er selbst lange gearbeitet hat, sagt, "eher der Aufbau-Verlag", der ein Buch mit Merkel-Reden veröffentlicht hat, sei dahingestellt. "Gab es vorher Tabus, Absprachen?", wird er gefragt. Er antwortet: "Nein, gar nichts." Dass Osang aber ein ostdeutsch sozialisierter Reporter ist, der sie auch persönlich befragen und mit ihr in einem "Ostberliner Idiom" "ostdeutsche Codes" austauschen würde, wie sich der ostdeutsche "Berliner Zeitung"-Verleger Holger Friedrich in einem Beitrag für cicero.de freut, und mit weniger großer Wahrscheinlichkeit unangenehm lang auf ihrem Festhalten an Nord Stream 2 herumreiten würde als andere, könnte sie geahnt haben. Dass sie es im Theater einfacher haben dürfte als bei "Markus Lanz", wohl auch.

Eine Szene, die nach der Fernsehübertragung des Gesprächs mehrfach prominent in Zusammenfassungen gezeigt (zum Beispiel bei "maischberger" gleich zu Beginn oder am Ende des "Tagesthemen"-Berichts) und anderswo sogar zur eigenen Nachricht wurde, war die Szene, in der Merkel über ihre Rolle als Bundeskanzlerin a.D. spricht und sagt: "Wenn ich lese, Merkel zieht sich zurück und macht jetzt nur noch Wohlfühltermine – dann sage ich: Ja!". Im Publikum, in dem laut Melanie Amann vom "Spiegel" auch "mehrere aktive und ehemalige Mitarbeiter der CDU-Zentrale" sitzen, sieht und hört man laut lachende Menschen. Falls Merkel die Wirkung ihres Auftritts vorher durchgerechnet hat, hat sie sich nicht verkalkuliert.


Altpapierkorb (Ukraine Fatigue, re:publica, Watergate, Barbara Salesch)

+++ Sehen wir Anzeichen einer "Ukraine Fatigue", einer Erschöpfung in der Aufmerksamkeit für den Krieg in der Ukraine? Samira El Ouassil hat ihre "Spiegel"-Kolumne darüber geschrieben. In Bloombergs "Opinion"-Newsletter wird die zusammensackende Aufmerksamkeit in den Google-Trends abgebildet. Und die Financial Times" schreibt (Original auf Englisch/€): "Ein Großteil der westlichen Medien hat sich dafür entschieden, alles zu ignorieren, was die Russen sagen, und sich weitgehend auf ukrainische Daten und Geschichten zu stützen. Angesichts der Dunkelheit der russischen Propaganda ist dies verständlich. Aber eine solche Selektivität hat zwei Nebenwirkungen. Die erste ist Selbstgefälligkeit. Das weit verbreitete Gefühl der russischen Unglückseligkeit hat die Erwartung einer Niederlage Russlands geschürt. Es ist nur eine Frage der Zeit."

+++ In Berlin ist re:publica. Sascha Lobos Rede zur Lage der Nation ist Thema im "Tagesspiegel"; etwas abstrakt blieb laut "FAZ" wohl Bundeskanzler Olaf Scholz.

+++ Willi Winkler hat sich für die "Süddeutsche Zeitung" einer historischen Begebenheit angenommen und schreibt über eine Whistleblowerin in der Watergate-Affäre: Martha Mitchell – die Frau von Präsident Nixons Justizminister.

+++ Ach du liebe Güte: RTL holt Richterin Barbara Salesch zurück. Oder wie die Fernsehfans von DWDL.de es formulieren: "Dass RTL die mittlerweile 72-Jährige zu einer Rückkehr bewegen konnte, ist ein echter Coup."

Neues Altpapier erscheint am Montag. Schönes Wochenende!

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