Kolumne: Das Altpapier am 22. Dezember 2022 "Reality is full of activity, but absent of action"
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22. Dezember 2022, 11:34 Uhr
Gibt es weiterhin eine "Medienklimakrise"? Wiederholen Journalistinnen und Journalisten in Sachen Elon Musk die Fehler, die sie bei der Berichterstattung über Donald Trump gemacht haben? Werden alle RTL-Zeitschriften außer dem "Stern" bald verkauft? Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
- "Wir haben nur noch eine kleine Chance"
- Das Muster "Republicans said, Democrats said” ist aus der Zeit gefallen
- "Shit Musk Said"
- Öffentlich-rechtliche Vergangenheit: Als es noch Arbeiterfilme gab
- Winterschlussverkauf bei RTL
- Altpapierkorb (Leistungsschutzrecht, Praktikantenbezahlung, Mastodon-Instanzen, Altpapier-Jahresrückblicke)
"Wir haben nur noch eine kleine Chance"
In den Timelines von Journalisten-Bubble-Bewohnern poppten am Mittwoch zahlreiche Freudensbekundungen und Glückwünsche auf - wie immer, wenn die Gewinner von branchenpopulären Journalistenpreisen bekannt gegeben werden. Das "Medium Magazin" (für das ich schreibe) hat gestern mitgeteilt, wen die dafür auserkorenen Jurorinnen und Juroren als "Journalistinnen und Journalisten des Jahres" ausgezeichnet haben. Der Klimajournalistin Sara Schurmann, die in der Kategorie Wissenschaft gewann, fiel der Jubel allerdings schwer:
In einem Twitter-Thread schrieb sie, sie sehe zwar, "dass sich etwas bewegt" bzw. "dass Kolleg*innen etwas bewegen", aber:
"Mir ist klar, dass wir nur noch eine kleine Chance haben, die Erderhitzung auf einem Level zu stoppen, an das wir uns idealerweise noch anpassen können und mir ist klar, dass wir das gerade nicht mal ernsthaft versuchen (…) Aber ich erlebe jeden Tag, dass diese Zusammenhänge in unserer Branche nicht ausreichend begriffen sind – ebenso wie ich erlebe, dass es möglich ist, sie zu erklären."
Dass "diese Zusammenhänge in unserer Branche nicht ausreichend begriffen sind", dass es also weiterhin eine "Medienklimakrise" gibt (was etwa Özden Terli und Lorenz Matzat oft betonen) - das klingt plausibel. Eine andere Erklärung: Wenn Schurmann konstatiert, dass "wir" "gerade nicht mal ernsthaft versuchen", die "nur noch kleine Chance" zu nutzen, dann kann es natürlich daran liegen, dass "wir" es gar nicht versuchen wollen.
Gewissermaßen Belege für beide Thesen gab es am Mittwoch in einem "Morgenmagazin"-Interview, in dem ein CDU-Politiker seine Haltung, die Klimakrise nicht aufhalten zu wollen, offenbarte, als er "die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannte wissenschaftliche Empfehlung zur Emissionsvermeidung" (Wolfgang Blau, in diesem Thread) ignorierte und stattdessen vermeintliche "Innovationen" vorschlug - während der mutmaßlich fachkenntnisfreie Moderator nicht eingriff.
Mit einer (allerdings nicht explizit auf Klimapolitik gemünzten) Beschreibung, die Sara Schurmanns Darstellung ähnelt, bewirbt das sehr empfehlenswerte Vierteljahresmagazin "Real Review" seine gerade erschienene 13. Ausgabe:
"We are living in time without time, because we are living through an era without any observable change. Reality is full of activity, but entirely absent of action (…) The people are running or societies appear unable to locate the fault, and incapable of imagining its resolution. They are gripped by a madness; a bizarre compulsion to convince us that the past is the future, and that the nightmares we spent a decade escaping are now the solutions to the crises of our present."
Das Muster "Republicans said, Democrats said” ist aus der Zeit gefallen
Auf eine der "Vorhersagen" für den "Journalismus 2023", die niemanlab.org seit einigen Tagen veröffentlicht, sind wir bereits vor zehn vor zehn Tagen an dieser Stelle eingegangen. Ein weiterer aufgreifenswerter Text aus diesem Schwerpunkt trägt nun die Überschrift "We’ll find out whether journalism can, indeed, save democracy." Andrew Donohue schreibt
"Einerseits haben sich viele Journalisten der Herausforderung gestellt: furchtlos die größten Gefahren für unsere Demokratie ins Rampenlicht zu rücken."
Andererseits sei das Muster "Republicans said, Democrats said” immer noch sehr weit verbreitet. Jedenfalls:
"A lot of stories over the last year that read the same way: The first paragraph would describe Republicans doing something that’s clearly undermining democracy. Then, the second paragraph would say: 'Democrats say Republicans are undermining democracy.'"
Das sei "ein gefährliches Framing", so Donohue. Denn:
"Nicht nur Demokraten sagen das. Ebenso Verfassungswissenschaftler, Historiker, Politikwissenschaftler, viele Republikaner und – get this – sogar die Leute, die die antidemokratische Bewegung orchestrieren."
Seine Forderung:
"News organizations, from local community organizations up to the big national outlets, are going to have to become explicitly pro-democracy."
"Shit Musk Said"
Einen anderen Vorschlag zum besseren journalistischen Umgang mit demokratiefeindlichen Positionen formuliert Jack Shafer bei Springers "Politico". Konkret geht es um die Berichterstattung über den "Elon-Musk-Zirkus":
"Vor vier Jahren schlug ich an dieser Stelle vor, dass die Presse ihre Besessenheit mit jeder Trump-Äußerung zähmen sollte, indem sie (…) eine tägliche Kolumne mit der Überschrift 'Shit Trump Said' veröffentlicht, um seine verschiedenen PR-Blitze kurz und knapp aufzuzeichnen - und nur dann ausführlich darüber zu berichten, wenn er tatsächlich etwas tut, anstatt nur darüber zu reden."
Dies fordert Shafer nun auch für den Umgang mit Trumps Gesinnungsgenossen Musk: Seine "Anstiftungen auf ein ähnliches 'Shit Musk Said' zu beschränken (und vielleicht neben den Comics zu platzieren)", würde "ihn davon abhalten, an einem Tag etwas zu sagen und es am nächsten umzukehren", nur damit über ihn berichtet wird. Und:
"Es würde Reporter von der kurzen Würgekette befreien, die sie sich von Musk haben anlegen lassen, und sich Zeit für sinnvollere Arbeit geben."
Unter der Überschrift "Elon Musk und die Gefahren für die Pressefreiheit" kritisiert Marina Weisband in ihrer Kolumne für "@mediasres" derweil das "Na ja, mal schauen"-Credo, das hier zu Lande nach der Twitter-Übernahme durch Musk zu lange vorgeherrscht habe:
"Die erste große Empörungswelle gab er erst, als Musk Journalisten sperrte (…) Das ist kein Zufall. Natürlich bekommen Medien vor allem das mit, was Medien betrifft. Das Problem ist: Wenn es Einschnitte in der Pressefreiheit gibt, gab es vorher schon viele andere gesellschaftliche Schritte. Redaktionen reagieren auf die Bedrohung von Freiheit oft zu spät. Und zwar weil in Redaktionen 2022 immer noch Menschen sitzen, die relativ weiß, ziemlich gut gebildet und aus studiertem Hause sind. Kurz, weil sie nicht die gleichen Alarmanlagen haben wie Menschen, die als allererstes von solchen Bewegungen getroffen werden."
Daraus leitet Weisband folgende Forderung ab:
"Wer mehr trans und queere Menschen, mehr People of Color, mehr Juden und mehr Menschen aus Armut einstellt, hat ein sehr viel besseres Frühwarnsystem für Entwicklungen, die später immer auch Pressefreiheit gefährden. Diversität ist nicht dafür da, auf Unternehmensfotos hübsch auszusehen."
Öffentlich-rechtliche Vergangenheit: Als es noch Arbeiterfilme gab
Der Begriff "Diversität" war in den späten 1960er und frühen 1970er Jahre noch nicht verbreitet, man kann aber sagen, dass zu der Zeit im Programm der ARD zumindest die Interessen gesellschaftlicher Gruppen präsent waren, die heute im Programm keine Rolle mehr spielen. Darauf geht Pujan Karambeigi in einem Artikel über sogenannte Arbeiterfilme ein, der in der Winter-Ausgabe des "Jacobin"-Magazins erschienen ist:
"Zwischen 1967 und 1976 wurde das Genre durch den WDR, NDR und HR gefördert (…) Das ganze Projekt nahm seinen Anfang Mitte der 1960er Jahre in der Fernsehspiel-Abteilung des NDR sowie der Abteilung Spiel und Unterhaltung des WDR. Die direkte Zusammenarbeit mit den Beschäftigten, Betriebsräten sowie Gewerkschaften war stilgebend für das Genre, das sich explizit gegen das sogenannte deutsche Autorenkino wendete, das seit dem Oberhausener Manifest von 1962 die individuelle Genialität des Regisseurs verklärte."
Der 2018 verstorbene Klaus Wildenhahn, der heute "als einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer und Regisseure Deutschlands der letzten Jahrzehnte gilt" (wie "sein" Sender es 2020 formulierte), sei eine der prägenden Personen dieses Genres gewesen, schreibt Karambeigi:
"Ihm ging es darum, ein Bild von Arbeitern zu zeichnen, 'mit denen viele Empfänger in der BRD nicht nur übereinstimmen, sondern an denen sie auch ihre eigenen Konflikte durchspielen können'. Das Publikum sollte 'vom 'Einzelfall' zum 'Klassenfall kommen', wie Wildenhahn 1972 in seinem Buch 'Über Synthetischen und Dokumentarischen Film' schreibt."
Dabei nahm Wildenhahn einen Missstand in den Blick, der auch heute noch existiert. Karambeigi schreibt:
"Die zentrale Herausforderung war für Wildenhahn, dass sich ein Großteil der Filmstudierenden aus den Rängen des Mittelstandes rekrutierte, und sich in der öffentlichen Welt des Rundfunks vor allem Geschichten aus eben dieser Schicht reproduzierten. Wildenhahn ging es jedoch nicht nur darum, eine Repräsentationslücke zu schließen und zu insistieren, dass das Milieu der Arbeit auch ein Recht auf ein Bild hatte. Vielmehr wollte er die arbeitende Klasse stärker am Produktionsprozess der Bilderwelten selbst beteiligen."
Würde jemand heute Vorschläge machen wie der legendäre Klaus Wildenhahn, würde ihm die Religionsgemeinschaft der leidenschaftlichen Hajo-Friedrichs-Missversteher wahrscheinlich "Aktivismus" vorwerfen.
Winterschlussverkauf bei RTL
"Es gibt in diesem Prozess nur Gewinner" - so äußerte sich Thomas Rabe, der CEO von Bertelsmann, im Sommer 2021, nachdem die mehrheitlich zu Bertelsmann gehörende Sendergruppe RTL das vollständig zu Bertelsmann gehörende Verlagshaus Gruner + Jahr übernommen hatte.
Wenn ein CEO betont, dass es "nur Gewinner gibt", ist natürlich jedem klar, dass es das Gegenteil bedeutet. Jetzt zeichnet sich immerhin ab, wie viele Verlierer es konkret geben wird: Es sind fast alle Mitarbeitenden der Zeitschriften des Hauses. Anna Ernst schreibt in der SZ:
"Die einzelnen Magazinmarken sind äußerst wertvoll - und auf dem Markt entsprechend begehrt. Nach SZ-Informationen bringen sich derzeit viele große deutsche Zeitschriftenverlage in Stellung, um sie zu kaufen. Die Rede ist von einem Bieterverfahren und harten Verhandlungen um nahezu alle Titel aus dem alten G+J-Portfolio. Mit dabei seien unter anderem: Brigitte, Gala, Barbara, Guidos Deko Queen, Beef, Schöner Wohnen und auch die bislang sicher geglaubte Geo. Nur der Stern sei noch niemandem angeboten worden, heißt es. Der Ausverkauf könnte schon im ersten Quartal des kommenden Jahres über die Bühne gehen, hofft der Vertreter eines mitbietenden Zeitschriftenverlags. Als mit Abstand teuerste aber auch begehrteste Marke nennt er die Brigitte mitsamt der ihr zugehörigen Ableger (Brigitte Woman, Brigitte Mom, Brigitte Leben und mehr). Die Gebote lägen demnach bei Summen zwischen 50 und 100 Millionen Euro."
Was haben die mutmaßlichen Käufer im Sinn? Ernst dazu:
"Wer bereits eine Reihe anderer Frauenzeitschriften besitzt, die von einem eigenen Redaktionspool und der verlagseigenen Anzeigenabteilung befüllt werden, der hofft, mit nur wenig zusätzlichem Personalaufwand auch noch ein bisschen Brigitte oder Gala stemmen zu können. Auf der Strecke bleiben dabei Qualität und Vielfalt - und die Angestellten."
Es ist ja nun gerade erst etwas mehr als ein halbes Jahr her, dass RTL eine neue redaktionelle Organisationsstruktur vorgestellt hat, in der man die Führungskräfte der frisch einverleibten Zeitschriften unterbrachte. Wenn jetzt fast alle Zeitschriften verkauft werden sollen, fragt man sich natürlich: Wozu der ganze Hustle? Naja, ein paar darbenden Unternehmensberatern wird’s was genützt haben.
Kommt es so, wie Ernst es prophezeit, wird es jedenfalls auf die größtmögliche Demütigung der Mitarbeitenden hinauslaufen, und das ist ja generell eines der nicht zu unterschätzenden Motive unternehmerischen Handelns.
Altpapierkorb (Leistungsschutzrecht, Praktikantenbezahlung, Mastodon-Instanzen, Altpapier-Jahresrückblicke)
+++ Dass "der 21. Dezember 2022 der Tag war, an dem das Leistungsschutzrecht in Deutschland zu Grabe getragen wurde", befürchtet Michael Hanfeld im FAZ-Feuilleton-Aufmacher-Text (Blendle-Link). Warum? Weil "das Bundeskartellamt das Aufsichtsverfahren gegen Google wegen dessen Nachrichtenangebot 'Google News Showcase' ohne Auflagen für den Konzern eingestellt hat". Beschwerde bei der Behörde eingereicht hatte die Verwertungsgesellschaft Corint Media (siehe zuletzt dieses Altpapier aus dem Mai). Die Sache habe "die Kartellwächter überfordert. Sie verlassen sich auf Zusagen des Monopolisten, deren Einhaltung sie kaum überprüfen können", meint Hanfeld außerdem.
+++ Warum Medienhäuser Praktikantinnen und Praktikanten schlecht bezahlen - oder, wie einige Landesrundfunkanstalten der ARD, gar nicht -, dazu hat Pia Penzlin für einen "Übermedien"-Artikel zahlreiche Verantwortliche befragt.
+++ Die "Washington Post" scheint die erste größere Zeitung zu sein, die eine eigene Mastodon-Instanz schafft. Die Mozilla Foundation plant auch eine.
+++ In eigener Sache (I): Die Mastodon-Instanz des Altpapiers ist newsie.social. Man findet uns dort seit Dienstag unter @altpapier@newsie.social.
+++ In eigener Sache (II): In dieser Woche sind bereits zwei Altpapier-Jahresrückblicke erschienen - einer von Klaus Raab zu Sportberichterstattung und einer von Ralf Heimann zu den ÖRR-Skandalen.
Das nächste reguläre Altpapier schreibt Christian Bartels am 3. Januar. Vorher erscheinen weitere der erwähnten Jahresrückblicke. Wir wünschen eine erholsame Zeit.