Das Altpapier am 16. Mai 2022: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
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Das Altpapier am 16. Mai 2022 Jetzt schon legendär

16. Mai 2022, 10:25 Uhr

Es wurde viel gewählt: von Wahlberechtigten in Nordrhein-Westfalen, Poets, Essayists & Novelists sowie Anhängern nicht so guter, dafür aber europäischer Musik. Mit Käseigeln, Bratwurst und Weißwein ging es dabei hoch her, außer in der Politik. Außerdem: Schafft es das Thema Chatkontrolle raus aus der Nische? Ein Altpapier von Christian Bartels.

Medienminister gewinnt Landtagswahl

Die zahlreichen Wahlveranstaltungen des Wochenendes bestimmen die Inhalte der aktuellen Medien und auch Medienmedien. Am wenigsten spektakulär verlief die Ministerpräsidentenwahl in Nordrhein-Westfalen. Dort trat "Hendrik Wüst, männlich, mittelalt, Jurist gegen Thomas Kutschaty, männlich, mittelalt, Jurist" an, wie es der uebermedien.de-Newsletter formulierte. Immerhin hatte das Fernsehduell der beiden im WDR vergangene Woche außer "viel Langeweile" auch "die einzig offene Frage, warum Wüst eine rote und Kutschaty eine schwarze Krawatte trägt" aufgeworfen ("Kölner Stadt-Anzeiger").

Mehr oder weniger gewonnen hat nun der amtierende Ministerpräsident Wüst, der übrigens auch Medienminister seines großen Bundeslandes ist – oder es zumindest im Herbst (in Nachfolge seines prominenten Vorgängers Armin Laschet und des sehr kurzfristigen Medienministers Stephan Holthoff-Pförtner) noch war, wie sich die damals noch existente "Medienkorrespondenz" behördlich bestätigen ließ. Ob er es noch ist – unklar und gleichgültig, Medienpolitik ist ja Nische.

"Scholz zieht nicht" heißt heute der die Wahl analysierende Leitartikel der "Süddeutschen". Warum er hier Erwähnung verdient, obwohl so gut wie alle es ähnlich sehen? Weil ihn Nico Fried schrieb, der gerade neulich hier im Altpapier "Medienpolitik darf keine Nische (mehr) sein" erwähnt wurde. Die Vermutung, Fried ginge zum "Spiegel", bestätigte sich nicht. Vielmehr geht Fried zum "Stern", also zu RTL, das ihn als überschwänglich nicht allein als "einen der renommiertesten politischen Journalisten des Landes", sondern gar als "legendären Beobachter und Porträtist der gesamten deutschen Politik" begrüßte.

Bleibt "Chatkontrolle" ein Thema?

Da wir nun in der Nische Medienpolitik sind: Der "Spiegel" befasst sich im aktuellen Heft mit der von der EU geplanten Messengerdienste-Überwachung, für die sich der Begriff "Chatkontrolle" einbürgern (und -bürgerinnen) könnte. "Die Chatkontrolle hebt die Überwachung auf eine neue, noch nie dagewesene Stufe", und "Die EU-Kommission will Handys in Alarmanlagen für Darstellungen sexueller Gewalt verwandeln", formuliert netzpolitik.org in einer FAQ-Übersicht.

Der "Spiegel"- Bericht fasst weitgehend solche kritischen Stimmen zusammen, die via netzpolitik.org am Freitag hier im Korb verlinkt wurden. Darüber hinaus gehen nur diese Einschätzungen:

"Die Bundesregierung hat das Digitale zu einem ihrer zentralen Themen erkoren, bislang aber keine nennenswerten Fortschritte erzielt. Eine Konfrontation mit der Netzcommunity zu Beginn der Amtszeit wollen zumindest die Digitalpolitiker der Ampel vermeiden."

Dazu mischt der "Spiegel" etwas Kritik an der im Querschnitts-Rahmen zuständigen Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Sie sei "offensichtlich völlig überrascht" worden von den EU-Plänen, wird Anke Domscheit-Berg von der Linkspartei zitiert. Sie habe im Bundestags-Digitalausschuss "auf Nachfragen zur möglichen Ausgestaltung der Chatkontrolle weniger trittsicher als im restlichen Auftritt" agiert, werden "Teilnehmer" zitiert.

Nun ist Trittsicherheit für Bundesministerinnen mit SPD-Parteibuch derzeit sicher kein Top-Kriterium. Gut wäre, wenn es dem Politik-Journalismus gelänge, das konkrete, viele Anknüpfungspunkte bietende Thema Chatkontrolle aus der Nische herauszuholen und in die umfangreichen Diskussionen, ob nun Schwarz oder Rot im Aufwind ist und dann mit den Grünen regiert, einzubringen.

Besser scheuchen? Besser schnarchen? (Yücel/PEN)

Eine weitere Wahl zog viel Aufmerksamkeit auf Gotha in Thüringen (von wo demzufolge auch unser MDR berichtete, aber knapp und streng sendungsbezogen). Dort im Schloss tagte der PEN-Club, dessen Name für "Poets, Essayist, Novelists" steht.

Der Journalist Deniz Yücel, nach rund einem in den Kerkern des Erdogan-Regimes verbrachten Jahr zum deutschen Inbegriff der Medienfreiheit geworden, wurde als Präsident des PEN-Vereins zwar sehr knapp mehrheitlich wieder gewählt, trat dann aber dennoch zurück. Seinen Satz "Ich möchte nicht Präsident dieser Bratwurstbude sein, ich trete zurück!", nennt das "FAZ"-Feuilleton "jetzt schon legendär".

Der Verein hat Yücel beschädigt, und Yücel den Verein. Wer wen mehr und warum, ist nun Thema von allerhand Feuilletons. (Und dass Yücel diverse wiedergekehrte Begriffe, darunter die metaphorische "Bratwurst", schon im April per "Zeit"-Interview setzte, steht in diesem Altpapier).

"Die alten Herrschaften glaubten, dass sie mit Yücel, der wegen angeblicher Terrorpropaganda ein Jahr in türkischer Untersuchungshaft saß, größere Aufmerksamkeit erreichen würden. So kam es auch, aber anders, als sie gehofft hatten. Das Präsidium scheuchte den verschnarchten Haufen mehr auf, als ihm lieb war",

fasst in der "taz" Ralf Sotschek zusammen, der als Mitglied "peinlich berührt an der turbulenten Versammlung" teilnahm. "Da haben sich zwei Seiten komplett missverstanden", kommentiert Gerrit Bartels im "Tagesspiegel" (€). In den auch nicht wenigen Einlassungen Yücels selbst fällt auf, wie sich plausible Argumente mit schreiberisch gewiss pfiffigen, auf die Dauer (auch von circa acht bis sechzehn Tweets in diesem bzw. diesem Twitter-Thread/Strang) dennoch rasch ermüdenden Beschimpfungen abwechseln.

Da wirkt fast schon wieder luzide, wie PEN-Mitglied Petra Reski ebenfalls auf Twitter erwähnt, dass Yücel einem wiederum anderen PEN-Mitglied nicht Rot-, aber Weißwein "ins Gesicht geschüttet haben soll". Vermutlich handelt es sich um den Vorfall, den Cornelius Pollmer im "SZ"-Feuilleton mit dem Satz "Ein weiteres PEN-Mitglied fotografiert Yücel dreiviertelheimlich vom Rand, Yücel läuft zum Gegenangriff über – Flüssigkeit spritzt auf Latz, Glas birst auf Boden, Handbesen kommt blitzartig zum Einsatz" zusammenfasst, bevor er zum großen Interview (€) ansetzt, das Yücel ihm gab, obwohl er im tags zuvor veröffentlichten Tagungsbericht auch diesem "eine gewisse Bratwursthaftigkeit" attestiert hatte. Im Interview sagt Yücel dann:

"... Es war nicht einfach, bei alledem Contenance zu wahren."

"Das war Contenance?"

"Ja, jedenfalls für meine Verhältnisse. Ich bin kein Grüßaugust und kein Verwaltungsbeamter. Was ich mache, mache ich mit Leidenschaft ..."

Was bleibt? Vielleicht der Begriff "Diskursschaffende", mit dem wiederum Pollmer Sascha Lobo bezeichnet, den auch fernseh-populären Internet-Erklärer, den Yücel offenbar in den PEN-Verein und zu einer Gothaer eingeladen hatte. (Wozu es jeweils wohl nicht mehr kam). Herauszufinden, wann genau es Mehrwert entfaltet, Diskurs zu schaffen – vor dem Hintergrund, dass ja längst überwiegend sog. soz. Medien 24/7 Diskurs generieren –, könnte eine schöne Aufgabe für aufgeweckte Künstliche Intelligenzen darstellen.

NDR blickt unbeirrt in die Zukunft (ESC)

Umso schöneres Zeichen: Den europäischen Schlager-Grand Prix "Eurovision Song Contest" gewann ebenfalls per Wahl/Voting die gerade vom russischen Aggressor in einen mörderischen Krieg verstrickte Ukraine. Und keines der übrigen 24 teilnehmenden Länder stand dem moralischem berechtigten Sieger noch weniger im Weg als Deutschland, das erstmals seit 2016 wieder den letzten Platz belegte.

Zum Fernsehereignis gibt es die übliche Berichterstattung. In den ersten vierzehn Zeilen des Berichts der "SZ"-Medienseite taucht viermal der Begriff "Käseigel" auf. Kein Vorwurf, für diese überall außerhalb der zyklischen Schlager-Grand Prix-Berichterstattung längst ausgestorbene Lebensmittel-Metapher gibt es eben keine Synonyme. Und sie zeigt schön, wieviel Traditions-Ballast die Veranstaltung mit sich herum schleppt, ob es noch jemand goutiert oder nicht. Die meist sehr schlechten, dabei im internationalen Vergleich ähnlich oft verdienten Platzierungen der deutschen Beiträge zählen auch dazu und werden am Rande gelassen mitprotokolliert.

Die Idee, ob Deutschland, dessen Teilnahme wegen der Finanzkraft der ARD stets gesichert ist, "sich diese stetig wiederkehrende Schmach nicht ersparen sollte, in dem man sich schon im Halbfinale ins ... Aus punkten lässt", hat die "Welt". Ein weiteres "Indiz, dass Deutschland Pop international einfach nicht kann – und der NDR dies weder zu sehen bereit noch durch mutige Vorentscheidungsverfahren zu ändern fähig ist", sieht Jan Feddersen in der "taz". Die "Bild"-Zeitung isst im Kleingedruckten auch nicht so heiß, wie ihre Überschrift "Nehmt dem NDR endlich den Eurovision Song Contest weg!" kochte, sondern würde die Veranstaltung auch anderen ARD-Anstalten anvertrauen (denen am ehesten zuzutrauen wäre, so was zu bewerkstelligen). Am härtesten ledert in der "Berliner Zeitung" Elmar Kraushaar gegen den NDR:

"Das, so scheint es, ist seit Jahren die einzig verbliebene Aufgabe für den Kommentator [Peter] Urban: den deutschen Beitrag zu loben, selbst dann, wenn alle anderen schon abgewunken haben. Aber der in der ARD für den ESC verantwortliche Sender NDR hält stur an Urban fest. Sture Arroganz, so lässt sich überhaupt das Handeln des NDR umschreiben, wenn es um den ESC geht. Aus den Niederlagen wurde nichts gelernt, gar nichts. Da wird jedes Jahr lediglich ein bisschen am Auswahlverfahren geschraubt, kaum transparent, dafür erfolglos. In diesem Jahr waren sechs Solisten und Gruppen in den Vorentscheid gekommen, nominiert von wem auch immer. Die letzten Entscheider, vor dem Publikumsvoting, waren Vertreter von ARD-Hörfunkstationen. Und denen war nur eine Aufgabe mitgegeben worden: Findet einen radiotauglichen Titel! Radiotauglich, das ist das Zauberwort, und meint, einen Song zu finden für die Dauerschleife, der so belanglos ist, dass er niemanden stört."

Das ist natürlich ungerecht. Belanglose, vor allem schlechte, vorzugsweise englischsprachige Popmusik abzuspielen, ist schließlich, falls es nicht gar in alten Rundfunkänderungsstaatsverträgen festgeschrieben wurde, ein über Jahrzehnte eingespieltes Gewohnheitsrecht des öffentlich-rechtlichen Radios. Bemerkenswert jedenfalls, dass der vielfach angesprochene NDR bereits am Sonntagmorgen reagierte und im Rahmen der üblichen Marktanteil-Erfolgsmeldung die "Leiterin der deutschen ESC-Delegation", Alexandra Wolfslast, mit der Aussage "Für den ESC 2023 sind wir bereits in Planung, wie wir das Auswahlverfahren gestalten" zitierte.

Wenn es darum geht, langjährig verkrustete Gewohnheiten für die Zukunft festzuzurren, kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk zügig und entschlossen handeln.


Altpapierkorb (ARD-Lob, "Tatort"-Mediathek-News, "Nawalny" auf RTL, "Friedensjournalismus", Leistungsschutzrechte "verramscht")

+++ Wow. "Die ARD hat etwas richtig gemacht", schreibt der "Tagesspiegel" in einer Überschrift. Das bezieht sich auf Einschaltquoten-/ Marktanteils-"Angaben der ARD-Medienforschung" und betrifft die Wegverlegung des "Weltspiegels" vom Sonntagabend und seine Ersetzung durch Fußball-"Sportschau"-Sendungen. Kritik daran gab es hier im Altpapier.

+++ "Fernsehen ist viel toleranter und offener für neue Formate, als wir manchmal annehmen", sagt die neue "Channel Managerin" der ARD-Mediathek, Sophie Burkhardt, die die "SZ" heute vorstellt. Neu in der Mediathek sei: dass sich "Tatort"-Folgen "inzwischen auch tagsüber abrufen" lassen "(früher ging das nur nach 20 Uhr)".

+++ Der lange Dokumentarfilm "Nawalny", bekannt etwa aus einem Bericht des ZDF-"heute journals" und auf dem Münchener "Dok.fest" "ständig ausverkauft", wird weder im ZDF noch in der ARD laufen, sondern "am 1. Juni auf RTL+ und am 6. Juni bei ntv", schreibt die "FAZ" in ihrem Festivalbericht.

+++ "Friedensjournalismus ist ein Schnittstellenkonzept, das drei Grundbedingungen erfüllen sollte: Um aus der nötigen Distanz heraus konfliktsensitiv berichten zu können, müssen Journalisten die Eskalations- und Deeskalationsdynamik von Konflikten einschließlich der dabei häufigen Fehlwahrnehmungen erfassen. Sie müssen den konkreten Konflikt kennen. Und sie benötigen ein vernünftiges Misstrauen gegenüber dem ihnen selbst allzu Plausiblen", argumentiert die Kölner Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing im "MEDIA Lab" des "Tagesspiegels".

+++ Und noch ein paar (große) Zahlen: Statt 420 Millionen Euro, die die (natürlich parteiliche) Verwertungsgesellschaft Corint Media aus dem Leistungsschutzrecht von Google fordert, bot bzw. bietet der Suchmaschinen-Konzern "3,2 Millionen und jetzt ... zehn Millionen" Euro. Ergo "verramschen die Pressehäuser ihre Rechte" und erhalten dafür wesentlich weniger Google-Geld als Presseverlage in Australien, Frankreich und Kanada, kommentierte Michael Hanfeld am Wochenende in der "FAZ".

+++ "Als der französische Staatspräsident François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl 1990 den Sender aus der Taufe hoben, ging mir ein Schauer über den Rücken": Da gratuliert Joachim Huber Arte zum 30. Geburtstag. Den im gedruckten "Arte-Magazin" (aus dem Hause Axel Springer Corporate Solutions) erschienenen Text bringt nun auch Hubers "Tagesspiegel".

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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