Das Altpapier am 5. April 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 5. April 2023 Transparenz-Defensive

05. April 2023, 12:33 Uhr

Das ZDF sendet einen pseudoselbstkritischen Beitrag zu seinem Jubiläum und gibt dabei eine freie Mitarbeiterin des Senders als externe Expertin aus. Die "Bild"-Zeitung beschäftigte als freien Mitarbeiter einen FDP-Multifunktionär, machte das unter dessen Artikeln aber nicht kenntlich. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Live-Berichterstattung in Sachen Trump

Ich trinke gern Rum-Cocktails, aber ich lege keinen sonderlichen Wert darauf, in der politischen Berichterstattung etwas über Cocktails zu lesen. Einige Kollegen gehen aber wohl davon aus, dass ihre Leser das anders sehen. Der "Spiegel" schrieb jedenfalls Dienstag um 20.23 Uhr im Rahmen eines Live-Tickers zur Anklage gegen Donald Trump auch darüber, wie "Bars und Restaurants in der US-Hauptstadt Washington die Anklageverlesung gegen (ihn) feiern": "So wurde in Bars etwa ein 'Dark N' Stormy Daniels' angeboten – eine Wortschöpfung aus dem bekannten Cocktail Dark N' Stormy und dem Namen der Pornodarstellerin Stormy Daniels, die im Zentrum der Trump-Affäre steht." Heute wiederholte die FAZ in ihrem Live-Blog um 7.33 Uhr die Cocktail-Anekdote.

Das soll jetzt aber kein generelles Argument gegen das Live-Tickern oder Live-Bloggen sein. Was die FAZ die Nacht über und auch noch etwas länger bot (der letzte Eintrag vor Abgabe dieser Kolumne erschien kurz nach 9.30 Uhr), ist auch aus vormittäglicher Sicht noch informativ. Zum Beispiel dieser Eintrag:

"Dieses Bild ist nicht echt: Trumps Sohn Eric hat über Instagram ein Bild verbreitet, das Donald Trump im Anzug und mit roter Krawatte durch New York schreiten zeigt. Über ihm amerikanische Flaggen im Sonnenschein, in der Straßenschlucht hinter ihm Anhänger so weit das Auge reicht. Sie halten ihre Handys in die Luft, um den historischen Moment zu dokumentieren. 'Einzigartig', schrieb Eric Trump dazu. Wer genau hinsieht, erkennt allerdings, dass das vermeintliche Foto KI-generiert ist und keine echte Szene zeigt."

Leichte Kritik an einem Konkurrenten ist an dieser Stelle zu erkennen:

"Der Sender CNN hat die Rede des früheren Präsidenten aus Mar-a-Lago fast die gesamte halbe Stunde lang live übertragen, alle Fehlinformationen und Beleidigungen inklusive. Davon waren die meisten amerikanischen Medien nach den Hochzeiten der Trump-Präsidentschaft wieder abgekommen." 

CNN hat sich, das muss man fairerweise auch sagen, in Textform dann aber später dem "Sperrfeuer falscher Behauptungen" gewidmet, das Trump in seiner Rede lieferte.

Ein fragwürdiger ZDF-Beitrag in eigener Sache

Wie sich das ZDF seinem 60. Geburtstag widmet, war hier bereits am Montag Thema anhand der "Show der Shows". Stefan Niggemeier befasst sich bei "Übermedien" nun mit einem Jubiläums-Beitrag in einer "Heute Journal"-Sendung und einem daran anschließenden Interview, das Moderatorin Anne Gelinek mit dem Intendanten Norbert Himmler geführt hat. Sie leitet es ein mit den Worten "60 Jahre ZDF: Grund zum Feiern, aber auch Gelegenheit zu selbstkritischer Bestandsaufnahme". Niggemeier schreibt:

"Ihre erste Frage an ihren Chef lautet: 'Die gute alte Tante ZDF wird 60. Sind wir nun junggebliebene Rentner oder altes Eisen? Können wir weg?’ Himmler ergriff routiniert die Chance der Vorlage, auf der Ebene der Anthropomorphisierung zu antworten: 'Ich finde, 60 ist doch ein tolles Alter! Man hat ne Menge Lebenserfahrung und man steht auch noch voll im Saft, und von daher ist das ein prima Alter.’"

Als ich die "60 ist doch ein tolles Alter!"-Passage gesehen habe, fielen mir gleich mehrere öffentlich-rechtliche Intendanten und Programmdirektoren ein, die das genauso - und mit einem mindestens ähnlichen Gestus und Tonfall - gesagt haben könnten und anlässlich anderer runder Jubiläen vielleicht auch so ähnlich gesagt haben. Niggemeiers Einschätzung dieser Passage:

"Man stelle sich vor, jemand, der wirklich ungern jeden Monat 18,36 Euro zahlt oder unzufrieden damit ist, wie dieses Geld ausgegeben wird – jawohl, solche Leute soll es geben! – sieht das und hat womöglich noch das Wort von der 'selbstkritischen Bestandsaufnahme' im Ohr. Er muss sich verarscht fühlen."

Einen kurzen Blick verdienen noch zwei der drei "Fans und Kritiker" (Gelinek), die in dem Beitrag vor dem Interview zu Wort kommen: Springers Großwesir Mathias Döpfner ("Warum man eine so umfassend diskreditierte Person wie Döpfner als Gesprächspartner wählt", fragt sich Niggemeier) und die Kolumnistin, Buchautorin und Podcasterin Jagoda Marinić. Sie finde "das ZDF irgendwie gut", heißt es in dem "Übermedien"-Text zusammenfassend. Dass Marinić das ZDF "irgendwie gut findet", könnte zumindest ein bisschen damit zu tun haben, dass sie selbst freie Mitarbeiterin des ZDF ist. Sie moderiert das Gesprächsformat "Das Buch meines Lebens", "eine Produktion von Westend Film & TV im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit mit arte", wie es im Abspann heißt.

Die Sendung, die in diesem Altpapier vorkam, ist übrigens nicht nur irgendwie gut, sondern mehr als irgendwie, sie war für den Grimme-Preis 2023 nominiert (Offenlegung: Ich war an der Nominierung beteiligt). Aber das ist hier ja nicht der Punkt. Sondern: Es ist, vorsichtig formuliert, fragwürdig, dass der "Heute Journal"-Beitrag Marinić als eine Art Expertin von außen verkauft, obwohl sie selbst für den Sender tätig ist. Im Insert wird sie lediglich als Macherin des Podcasts "Freiheit Deluxe" eingeführt. Für den Part, den Marinić in diesem Beitrag einnimmt, wären ja - ohne ihre Qualitäten in Frage stellen zu wollen - auch zwei, drei oder 23 andere Personen in Frage gekommen, es war also ein Regelverstoß ohne jede Not.

Die fragwürdige Buchvorstellungs-Moderation eines ZDF-Journalisten

Um beim ZDF zu bleiben: Ein Journalist des Senders hat gerade die "Tagesspiegel"-Kolumnistin Aline von Drateln "wütend" gemacht - wegen der Art, wie er die Vorstellung des von Sawsan Chebli und Miriam Stein verfassten Buchs "Laut. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können" moderierte. Von Drateln schreibt:

"Renate Künast ist gekommen, sie kennt die Situation. Auch Marie von den Benken weiß, was Hatespeech ist. Genau wie Dorothee Bär und Magdalena Rogl. Wie wahrscheinlich jede Frau, die sich regelmäßig im Netz äußert. Moderiert wird der Abend von einem, der Vergewaltigungsdrohungen im Netz ganz sicher nicht ständig erlebt: Ein langjähriger Journalist beim ZDF. Mit der Selbstsicherheit eines Festangestellten mit altem Vertrag sitzt er auf der Bühne. Vergisst, die Frauen dem Publikum ordentlich vorzustellen. Auch auf Moderationskarten hat er verzichtet. Selbstüberschätzung gibt es nicht nur in der Politik."

Was die Autorin "wütend" gemacht hat, ist vor allem Folgendes:

"Er eröffnet mit dem Satz: 'Provokation hat ja zwei Seiten: Die, die provozieren. Und die, die sich provozieren lassen.’ Klassische Täter-Opfer-Umkehr. Es ist ein absurdes Schauspiel hier im Pfefferbergtheater: Eine Frau hat ein Buch über Verharmlosung von Gewalt gegen Frauen im Netz geschrieben - und wird bei ihrer Präsentation nicht ernst genommen."

"Täter-Opfer-Umkehr" ist das eine. Der Moderator tut darüber hinaus so, als wären Hater gleichberechtigte Diskursteilnehmer. Und dass der Untertitel des Buchs "Warum Hate Speech echte Gewalt ist" lautet, könnte der Mann auch übersehen haben.

Vor zwei Wochen sagte Sawsan Chebli im FAZ-Interview:

"Es macht mich wirklich wütend, wenn mir vorgeworfen wird, ich sei selbst schuld an einem Shitstorm. Demnach tragen nicht jene, die haten, die Verantwortung, sondern wir, die wir für ein demokratisches Miteinander kämpfen."

"Tagesspiegel"-Kolumnistin von Drateln nennt den Namen des Moderators übrigens nicht. Vermutlich, weil sie der Ansicht ist, dass er in erster Linie einen Journalisten-Typus repräsentiert, und es zu viel der Ehre wäre, ihn als individuell agierenden Journalisten wahrzunehmen. Dass es der Redaktionsleiter des oben kritisierten "Heute Journals" war, steht hier.

Der Transparenz wegen hätte man unter der Kolumne aber durchaus erwähnen können, dass Sawsan Chebli für den "Tagesspiegel" schreibt.

Megaliberale "Bild"-Zeitung

Das ist allerdings ein lässlicher Verstoß, vergleicht man ihn mit einem in Springerhausen. Der frisch gebackene Grimme-Preisträger Silvio Duwe weist bei Twitter darauf hin, dass ein FDP-Multifunktionär für die "Bild"-Zeitung unter anderem über den Streik bei der Lufthansa und "nur milde Strafen" für eine "Klima-Chaotin" geschrieben sowie ein "Exklusiv-Interview" mit einem "AKW-Chef" geführt hat - und zwar ohne, dass die Tätigkeit für die Partei kenntlich gemacht wurde. Phil Hackemann heißt der Bursche, und er ist laut eigenen Angaben u.a. "stv. Bezirksvorsitzender der FDP Oberbayern, Mitglied im Landesvorstand, Vorsitzender des Landesfachausschusses für Außen- und Europapolitik und stv. Vorsitzender des Bundesfachausschusses Internationales".

Duwe meint:

"Wenn ein Parteipolitiker Artikel schreibt, wertende noch dazu, muss die Zeitung das transparent machen. Mindestens das."

In den Replys weist ein "Bild"-Mann darauf hin, dass Hackmann nicht "mehr für @BILD_Muenchen tätig" sei. Das klingt, als wäre das alles ein paar Jahre her, dabei ist Hackmanns Text über die "Klima-Chaotin" gerade mal knapp einen Monat alt.

Der, tja, schönste Satz, den der FDP-Politiker für "Bild" schrieb, und zwar Anfang 2022 in einem Text über ein umstrittenes Großbauprojekt in München, lautet wohl:

"Die FDP sprach sich derweil deutlich für das Projekt und gegen ein Bürgerentscheid aus."


Altpapierkorb ("Chronologie einer Radikalisierung", Evan Gershkovich, "Kielings wilde Welt", Lokal-TV-Förderung)

+++ "Wie Telegram zur wichtigsten Plattform für Verschwörungsideologien und Rechtsextremismus wurde", lautet der Titel eines Cemas-Reports zur Entwicklung des Messengerdienstes seit 2020. In dieser "Chronologie einer Radikalisierung" heißt es: "Der Messengerdienst wurde beispielsweise genutzt, um während der Coronapandemie die Proteste der sogenannten Querdenken-Bewegung zu organisieren und Verschwörungserzählungen über die Impfung zu verbreiten. Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und Einstellungen Einfluss zu nehmen. Putsch- und Terrorpläne wurden öffentlich diskutiert und antisemitische Inhalte massenhaft verbreitet."

+++ Zeit Online hat den letzten Artikel übersetzt, den Evan Gershkovich, der Russsland-Korrespondent des "Wall Street Journal", vor seiner Verhaftung in Moskau (Altpapier) geschrieben hat. In dem Text, verfasst gemeinsam mit und Georgi Kantchev, finden sich Passagen wie: "Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass Russlands Wachstumspotenzial – also das Wirtschaftswachstum, das ohne Anstieg der Inflation möglich ist – bis vor 2014 bei etwa 3,5 Prozent lag. In jenem Jahr ließ Putin die Krim besetzen. Einigen Wirtschaftsexperten zufolge ist diese Rate inzwischen auf etwa 1 Prozent gesunken. 'Für eine Volkswirtschaft wie Russland ist 1 Prozent nichts; es ist nicht einmal ein Level, das für die Instandhaltung ausreicht', sagt Alexandra Prokopenko, (eine) ehemalige Zentralbankbeamtin."

+++ Aufmacher im FAZ-Medienressort heute: die "Jubiläumsstaffel" von "Kielings wilde Welt", die jetzt online verfügbar ist und linear im ZDF-Feiertagsprogramm läuft. Worin besteht das Jubiläum? Kieling arbeitet seit 30 Jahren als Tierfilmer. FAZ-Redakteurin Petra Ahne ist nicht zufrieden: Die drei Folgen bewegten sich "etwas unentschieden zwischen Porträt und Tierdokumentation". Und: "Dreißig Jahre Tierfilme, das hätte Anlass sein können für eine Reflexion des sich verändernden Genres. Stattdessen gibt es in 'Kielings wilde Welt' nicht nur Tiere zu bestaunen, sondern auch eine von der Zeit fast überholte Spezies: den die Zwiesprache mit ungezähmter Natur suchenden Mann."

+++ Ergänzung zum am Dienstag hier abgehandelten Thema Medienförderung durch öffentliche Gelder: "Die Förderung des Lokaljournalismus in Sachsen kann starten." So beginnt eine Pressemitteilung der Sächsischen Landesmedienanstalt (SLM), auf die der "Flurfunk" unter anderem mit folgenden Worten eingeht: "Insgesamt stehen der SLM zwei Millionen Euro jährlich für Lokaljournalismus zur Verfügung. Soviel hat der Freistaat in den Haushalt 2023 und 2024 geschrieben." Etwas mehr als die Hälfte gehen an lokale Fernsehprogramme, aber auch, wie die SLM schreibt, 15 Prozent an "innovative Projekte zur Entwicklung nachhaltiger Geschäfts- und Kooperationsmodelle sowie neuer journalistischer Produktionsformen und digitaler Formate".

Das Altpapier am Gründonnerstag schreibt Ralf Heimann.

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