Das Altpapier am 5. Mai 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 5. Mai 2023 Reform. Reform? Reform!

05. Mai 2023, 10:00 Uhr

Regen uns bald Pop-up-Fenster zum kritischen Denken an? Haben zu viele ARD-Volontärinnen zu viel Soziologie studiert? Laufen Funk die YouTuber weg? Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Reformdreiklang" in Leipzig

"Reform. Reform! Reform?" So hieß das prominent besetzte Abschlusspanel auf den Mitteldeutschen Medientagen, bei dem es gestern Mittag – Überraschung – um Reformen ging, nämlich konkret um die in den Öffentlich-Rechtlichen. Nur wenige Tage nach den KEF-Anmeldungen trafen hier die Senderverantwortlichen auf die Medienpolitik, aus der seit Wochen recht deutliche Forderungen nach (mehr) Einsparungen zu hören sind. Phoenix hat die ganze Debatte auf seinem YouTube-Kanal hochgeladen. Gleich hier nebenan hat Steffen Grimberg außerdem das Wichtigste zusammengefasst und bei @mediasres im Deutschlandfunk im Gespräch mit mir noch einmal erklärt.

So richtig konfrontativ scheint es nicht zugegangen zu sein. Auf der Bühne in Leipzig saßen unter anderem der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke und ZDF-Intendant Norbert Himmler, außerdem der sächsische Medienstaatsminister Oliver Schenk (CDU) und die saarländische Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD). Ein Thema war die Aufgabenteilung der Sender. Kai Gniffke treibt schon länger die Idee um, dass nicht mehr "alle Sender alles machen" (siehe auch Altpapier von gestern). Steffen Grimberg schreibt:

"Auch die Politik kann sich mit dieser Position anfreunden, machte Sachsens Medienminister und Staatskanzleichef Oliver Schenk klar. Er präsentierte in Leipzig einen Reformdreiklang, der alle Öffentlich-Rechtlichen einbezieht: 'Wir haben mit dem Deutschlandfunk ein sehr gutes nationales Radioangebot, das ZDF steht für das nationale Fernsehen und die ARD ist regional aufgestellt – vor allem im Hörfunk.' Neben dieser 'Aufgabenteilung' brauche es auch 'eine gemeinsame technische Plattform', sprich Mediathek, so Schenk […]."

Es naht das Datum, an dem die non-lineare Nutzung die lineare überrundet – also der Kipppunkt, ab dem mehr Menschen die Audiotheken und Mediatheken nutzen als die Radio- und Fernsehkanäle. 2030 war ein Jahr, das als möglicher Zeitpunkt in der ARD schon genannt wurde, es könnte aber auch schneller gehen. Und genau mit der Frage, wie sich die Medien bis dahin verändern, hat sich auch eine Expertise der Unternehmensberatung Deloitte beschäftigt.

Unternehmensberatung fordert kritisches Denken

In Sachen Medien verfasst Deloitte immer mal wieder Analysen, im Altpapier aufgetaucht ist das Unternehmen außerdem als Verfasserin des Prüfberichts zum NDR in Kiel. Im Paper "The Future of News" geht es nun um vier mögliche Szenarien zur Nachrichtennutzung im Jahr 2030, analysiert am Beispiel der Niederlande.

Zwei zentrale Funktionen von Nachrichtenmedien nennen die Autoren: Sie seien "Forum für Austausch und Debatte" und "Kontrollorgan". Wie sehr sie diese Aufgaben in Zukunft erfüllen können, hängt sehr davon ab, ob die Politik es hinbekommt, die großen Tech-Plattformen ausreichend zu regulieren – dieser Eindruck entsteht beim Lesen der Deloitte-Ergebnisse.

Es lohnt sich, in die vier Szenarien einmal reinzuschauen. Sie reichen von einer zersplitterten Medienlandschaft ohne einheitliche ethische Standards ("Multidimensional Tribes") bis hin zu einer Übernahme fast sämtlicher Medien durch Tech-Companies ("Benevolent Big Tech"). Mein Lieblingsszenario ist aber natürlich "The News Utopia": "Die Nachrichtenmedien sind vertrauenswürdig gestaltet, ihre Inhalte durch entsprechende Technologie überprüfbar."

Mögliche Handlungsfelder nennt das Paper auch, wobei vor allem der Punkt "Kritisches Denken" schmunzeln lässt (muss man selbst das jetzt auf eine To-Do-Liste setzen?). Dahinter verbirgt sich allerdings die Idee, dass Menschen beim Nachrichtenkonsum per Pop-up daran erinnert werden sollen, Inhalte kritisch zu hinterfragen. Das funktioniert vermutlich in der Praxis ähnlich schlecht wie bei den Cookie-Bannern.

Ein paar andere Vorschläge sind aber ganz interessant, zum Beispiel ein Herkunftsnachweis für Inhalte per Blockchain. In Sachen Öffentlich-Rechtliche sicherlich auch eine wichtige Aufgabe: ein "News-Aggregator", der seine Konsumentinnen mit vielfältigen Themen und Positionen konfrontiert und so aus ihren berüchtigten "Blasen" rausholt.

Soziologie und Politologie im Rundfunk

Um die wünschenswerte Vielfalt von Meinungen geht es auch auf der Medienseite der FAZ, wo zwei öffentlich-rechtliche Ex-Verantwortliche sich zum Thema austauschen. Schon am 29. April hat der ehemalige ZDF-Chefredakteur Peter Frey sich hier geäußert, um sich gegen die Forderung zu wehren, es bräuchte in den Sendern mehr konservative Stimmen.

"Mich verwundert diese Forderung, denn sie führt zurück zum Fernsehen der 70er- und 80er-Jahre, in dem die Zuschauer, sobald dieser oder jener Kopf auftauchte, auch genau wussten, wohin er (meistens handelte es sich um Männer) politisch gehörte: rot oder schwarz und sehr gelegentlich mal ein bisschen gelb. Das Fernsehen war berechenbar, langweilig – und es stand immer in der Gefahr, parteipolitisch instrumentalisiert zu werden."

Zu wenig Vielfalt sieht Frey vor allem bei der Ansprache von Menschen mit Migrationsgeschichte und beim Blick in die Regionen abseits der Medienmetropolen. Nun antwortet darauf auf der heutigen Medienseite der ehemalige SWR-Intendant Peter Voß (der auch mal in der ZDF-Chefredaktion saß, aber viel früher) und widerspricht in Teilen, weil er eben doch konservative Stimmen vermisst. Als er auf den journalistischen Nachwuchs zu sprechen kommt, hat man kurz Angst, dass jetzt wieder diese unsägliche Volo-Umfrage zitiert wird (Einordnung hier), aber es kommt anders:

"Wohlgemerkt, hinter solchen Einseitigkeiten steckt keine perfide Strategie und keine Verschwörung. Auch parteipolitisch motivierte Proteste dagegen greifen oft zu kurz. Eine Erklärung wäre eher darin zu suchen, dass sich der Nachwuchs, sprich die (erfreulicherweise mehrheitlich weiblichen) Volontäre, überwiegend aus gesellschaftswissenschaftlichen Studienfächern wie etwa Soziologie und Politologie rekrutiert, die sich bestimmten, emanzipatorisch verstanden Denktraditionen verbunden fühlen."

Peter Voß findet außerdem, dass schon die 68er damit angefangen haben, die Berichterstattung in eine Richtung zu verschieben. Er sieht Themen wie die Flüchtlingspolitik und die Energiewende bis heute einseitig dargestellt, schreibt aber auch, er lasse sich "gern widerlegen". Vielleicht antwortet ja noch einmal jemand auf diesen Text.

Funk häutet sich

Von dieser eher rückwärts gewandten Argumentation noch einmal ein Blick in die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen. Wenn es um neue, hippe Formate für Jüngere geht, verweisen Verantwortliche gerne auf das Digitalangebot Funk. Dort ist gerade einiges im Umbruch, bei Übermedien war zuletzt auch sehr konkrete Kritik zu lesen an Funk-Kopf Leeroy Matata. Matthias Schwarzer vom RND unkte schon vorletzte Woche, dem Content-Netzwerk würden die YouTuber weglaufen. Die Wissenschaftsjournalistin Mai-Thi Ngyuen ist eine von mehreren bekannten Größen, die Funk zuletzt verlassen haben.

Alexander Krei hat für DWDL nun mit den Verantwortlichen bei Funk gesprochen, die naturgemäß ein positiveres Bild zeichnen. Sie sehen die aktuelle Neuausrichtung eher als eine Art Häutung:

"Aus Management-Sicht ist es ein seltsames Gefühl, sich von erfolgreichen Formaten zu trennen. Auf der anderen Seite fühlt es sich auch gut an, weil wir nicht Gefahr laufen, etwas totzureiten."

Das sagt Funk-Programmgeschäftsführer Philip Schild. Per Auftrag soll Funk Menschen zwischen 14 und 29 Jahren erreichen. Da die Fans von Formaten aber meistens mitwachsen, braucht es immer mal wieder einen Schnitt, um Mittel für das jüngere Publikum freizuschaufeln. Sonst sieht es am Ende aus wie beim SWR, wo Intendant Gniffke zufolge drei Viertel des Budgets für das Publikum über 50 ausgegeben werden (siehe Altpapier von gestern). Um das zu verhindern, muss es wohl manchmal Einschnitte geben. Bei Funk heißt das auch, dass es bald wohl weniger Formate geben wird, weil die Mittel angesichts der Inflation sonst nicht reichen.

Noch etwas könnten einige behäbigere Rundfunksender von Funk lernen. Zur Formatentwicklung sagt Schild, man habe:

"unsere anfängliche Top-Down-Struktur komplett über Bord geworfen, weil wir uns die Flaschenhälse damit komplett blockiert haben. Wir haben als Chefs hier gesessen und Dinge entschieden, von denen wir komplett keine Ahnung hatten – und es hat alles ewig gebraucht, weil jeder aus dem Team alles nach oben weitergetragen hat."

Und dann sagt er noch einen sehr tollen Satz, der sich in so manchem Büro gut machen würde:

"Ältere Menschen treffen häufig schlechte Entscheidungen für junge Menschen."

Und damit schließt sich der heutige Altpapier-Themenkreis wie von langer Hand geplant: Ganz frisch ist die Meldung, dass Funk ein neues Wirtschaftsformat startet (Pressemeldung). "Was kostet die Welt?" wird es heißen und entwickelt und produziert wird es von der FAZ.


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Das nächste Altpapier kommt am Montag von Klaus Raab.

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