Kolumne: Das Altpapier am 22. Juni 2023 Das Dilemma der Nachrichten
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22. Juni 2023, 12:23 Uhr
Die Suche nach fünf Abenteurern in einem verschollenen U-Boot dominiert seit Tagen die Nachrichten. Als vor ein paar Tagen 700 flüchtende Menschen in einem Boot vor Griechenland starben, war das anders. Warum? Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Mediale Muster und Menschlichkeit
Die Suche nach dem verschwundenen Tauchboot "Titan" steht am Donnerstagmorgen um 6 Uhr auf den Nachrichtenseiten weit oder ganz oben. Der "Spiegel" titelt in seiner Top-Meldung: "Rettungsteams weiten Suchgebiet drastisch aus". Die "Bild"-Medien haben einen ganzen Themenblock oben auf die Seite gestellt. Headline: "Nun hilft nur Beten – Deutsche Ehefrau bangt in Kanada um Sohn und Mann im U-Boot". In einem kleinen Kasten: "Kälte, Panik, Luftnot: Das Leid der Abenteurer in der Kapsel". Die "Süddeutsche Zeitung" hat einen Themenkasten auf die Titelseite gehängt, die "Zeit" zwei Meldungen an Stelle vier und fünf in der Rangfolge, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" immerhin eine. Und ein Vergleich wird nun immer wieder gezogen: Warum war das nicht so, als in der vergangenen Woche über 700 Menschen auf der Flucht im Meer vor Griechenland starben?
Andrian Kreye schreibt in einem Kommentar in der "Süddeutschen Zeitung":
"Die Suche nach dem U-Boot deckt sich mit den Erzählmustern von Abenteuergeschichten und Hollywoodfilmen. Da schwingen 'Fitzcarraldo', 'Titanic' und 'Das Boot' im Subtext mit. Das Unglück vor Südgriechenland verschwindet in den Unrechtsstatistiken. Der Mangel an bekannten Einzelheiten und Beweisen schafft Distanz. So bleibt die Geschichte vom U-Boot in der Öffentlichkeit ein Real-Life-Thriller, die Berichte vom Untergang der Flüchtlinge eine schlimme Nachricht. Niemand kann die Wahrnehmungsmuster der Menschen verändern, die sich über Jahrtausende gebildet haben."
Niemand? Also wirklich niemand? Könnten Medien nicht Einfluss darauf nehmen, in welcher Weise so ein Unglück wahrgenommen wird?
Kreye schreibt:
"Der beste Umgang mit Katastrophen ist ein Blick der Menschlichkeit. Dazu gehört auch, nicht gleich zu werten, egal ob Expeditionen oder Flüchtlingsströme unterwegs sind. Hin und wieder kostet es allerdings Anstrengung, genauer hinzusehen."
Diese Anstrengung müssen Menschen, die professionell auf die Ereignisse in der Welt schauen, auf sich nehmen, um das Geschehen richtig einschätzen und darstellen zu können. Ihr Beruf ist es, zu bewerten und den Nachrichten so viel Aufmerksamkeit zu geben, dass sich ein möglichst relevanz- und wahrheitsgemäßes Bild ergibt. So stellt man sich das jedenfalls im Idealfall vor.
Tatsächlich nutzen Medien Unterhaltungselemente, Zuspitzungen und Vereinfachungen. Das erscheint auf den ersten Blick vor allem als Übel, aber es hat durchaus einen Sinn, um nicht das Wort Segen zu verwenden, denn nur so wird es möglich, einer großen Öffentlichkeit komplexe und komplizierte Themen überhaupt erst einmal zu vermitteln.
Es ist eine Abwägung, die Medien hier treffen. Mit einem zunehmenden Unterhaltungsanteil wächst die Chance, ein großes Publikum zu erreichen, aber es gehen Informationsgehalt, Details und Schärfe verloren.
Für private Medien ist es auch eine Finanzierungsfrage. Mit der Aufmerksamkeit steigen die Werbeerlöse, deswegen haben Aufrufzahlen, Quoten und Klicks eine so große Bedeutung. Und auch die Konkurrenzsituation spielt eine Rolle. Berichten Boulevard-Medien exzessiv, steigen oft irgendwann auch andere ein, denn mit einer großen medialen Aufmerksamkeit wächst auch der gefühlte Nachrichtenwert einer Geschichte – und in den Redaktionskonferenzen wird die Frage wahrscheinlicher: Warum haben wir das nicht?
Gute Nachrichten und das Steinzeithirn
Medien könnten anders vorgehen. Sie könnten schauen: Wo ist es am schlimmsten? Wo sterben die meisten Menschen? Wo sind die Zahlen am höchsten? Dann hätte die U-Boot-Suche vielleicht eine ähnliche mediale Bedeutung wie ein schwerer Autounfall in Südfrankreich. Ganz oben auf den Seiten stünden Meldungen über flüchtende Menschen aus dem Mittelmeer und den Krieg in der Ukraine, aber dann nähme auch die Hitzewelle in Indien mehr Raum ein, die in den vergangenen Tagen über hundert Menschen das Leben gekostet hat. Und wahrscheinlich hätte man auch etwas von dem Bootsunglück in Nigeria gehört, bei dem mehr als hundert Menschen starben.
Medien könnten natürlich auch schauen: Wo ist es am besten? Wo passieren die großartigsten Dinge? Was macht die meisten Menschen glücklich?
Dass das nicht passiert, liegt in der Logik von Nachrichtenmedien zum einen an ihrer Brennglas-Funktion. Sie schauen genauer hin, vergrößern und schaffen durch diesen Fokus die Möglichkeit, Probleme zu lösen. Es liegt allerdings auch daran, dass Menschen auf schlechte Nachrichten eher reagieren. Die Medienpsychologin Maren Urner spricht in diesem Zusammenhang vom "Steinzeithirn".
Sie hat mit Sebastian Wellendorf für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres" darüber gesprochen, warum das verschollene Tauchboot so viel Aufmerksamkeit bekommt. Und sie sagt:
"Weil es vor allem eine Abwechslung bietet zu den so häufig, die Sie auch gerade beschrieben haben, komplexen Themen dieser Tage, im Sinne von, dass es um eine ganz konkrete Geschichte geht, eine ganz konkrete Geschichte, die wir uns erzählen können."
Nach ihrer Einschätzung haben die fünf verschollenen Menschen in dieser für sie tragischen Situation immerhin das Glück, Teil einer gut erzählbaren Geschichte zu sein. Glück klingt angesichts der Situation etwas übertrieben, doch es könnte trotzdem zutreffen, denn die Hilfsbereitschaft und auch der Erfolgsdruck der Rettungsteams sind durch die weltweite Aufmerksamkeit enorm.
Aber was macht diese Geschichte aus? Maren Urner:
"Es sind fünf Menschen, die dort in dem U-Boot eingeschlossen sind. Das heißt, wir haben Gesichter dazu, wir können Lebensgeschichten dazu erzählen, wir haben ein klares Ende voraussichtlich in Sicht, entweder gut oder schlecht, aber es gibt auf jeden Fall die Aussicht darauf. Wir haben einen klaren Anfang und das Ganze liefert uns einen Zugang und eine Dramatik, die wir sonst bei den vielen großen anderen Themen, Klimakrise, Ukrainekrieg, Pandemie und so weiter, häufig gar nicht haben, und die uns ja auch dann erschlägt, wenn wir versuchen sie zu finden."
Hinzu kommt das Sommerloch, die Politik macht Pause, auch sonst ist nicht mehr so viel los. Auf den Nachrichtenseiten ist Platz. Die besten Chancen hat das, was die Wirklichkeit passend liefert.
Schauen wir noch einmal auf den Satz aus Andrian Kreyes Text:
"Niemand kann die Wahrnehmungsmuster der Menschen verändern, die sich über Jahrtausende gebildet haben."
Das stimmt, aber man kann daraus verschiedene Schlüsse ziehen. Im vorliegenden Fall bedeutet es: Wenn die Mehrzahl der Medien auf eine großflächige Berichterstattung über das Tauchboot verzichten würde, wäre die Folge in einem freien Wettbewerb lediglich: Es ergäbe sich eine Marktlücke, weil eine vorhandene Nachfrage nicht bedient wird, und im Wettbewerb finden sich dann in der Regel Akteure, die dieses Problem lösen.
Drei Arten von Nähe
Kann man am Ende also einfach nichts machen?
Doch, schon. Nach Einschätzung von Maren Urner allerdings nicht unbedingt dadurch, dass Medien Berichterstattung unterdrücken, sondern eher, indem sie sich an den Wahrnehmungsmustern von Menschen orientieren.
Urner:
"Identifikation ist an dieser Stelle das oder eines der wichtigen Stichwörter, denn wir funktionieren, also wir jetzt wieder aus Hirnebene, neurowissenschaftlicher Perspektive gesprochen, funktionieren vor allem über (…) drei Arten der Nähe."
Das seien eine zeitliche, eine räumliche und eine soziale Nähe. Das Ereignis dürfe nicht so lange zurückliegen, die gefühlte Relevanz steige mit der Nähe eines Ereignisses. Das habe man in der Corona-Pandemie gesehen, die aus China über Italien nach Deutschland kam und in dieser Reihenfolge medial immer wichtiger wurde.
Und Nähe – das als kleiner Einschub – lässt sich nicht nur in Kilometern bemessen. "Welt"-Investigativ-Chef Tim Röhn wies gestern bei Twitter auf ein in Seenot geratenes Boot mit 59 Menschen im Atlantik vor Afrika hin. Wahrscheinlich macht es hier schon einen Unterschied, ob man die Lage beschreibt mit "vor der Westküste Afrikas" oder mit "in der Nähe von Gran Canaria". Das kennen viele aus dem Sommerurlaub.
Die dritte Form von Nähe ist in diesem Fall ganz entscheidend, das ist die soziale Nähe. Die Frage sei, so Maren Urner:
"(…) welche Relevanz hat das für mich, mein Leben und die Menschen, die mir wichtig sind?"
Und daran schließt sich eine andere Frage an: Könnte auch ich in so eine Situation geraten?
Hier richtet sich der Blick dem Eindruck eher nach oben. Einem britischen Milliardär und dessen Angehörigen fühlen Menschen in Westeuropa sich näher als einer aus Afrika flüchtenden Person, auch wenn es für die meisten eher unwahrscheinlich ist, dass sie jemals 250.000 Euro für einen kurzen Sommerurlaub in der Tiefsee ausgeben werden. Aber man könnte es sich eher vorstellen, als zusammen mit anderen Menschen auf einem maroden Schiff das Land zu verlassen.
Hinzu kommt: Die Menschen auf dem Schiff haben kein Gesicht, keinen Namen und vor allem keine Geschichte, die Anknüpfungspunkte an das eigene Leben liefern könnten.
Genau das wäre nach Einschätzung von Maren Urner für Medien ein Ansatzpunkt. Es bedeute ausdrücklich nicht: Medien müssen nur noch personifizierte Geschichten erzählen. Aber man müsse die Geschichte so erzählen, dass für die Rezipientinnen und Rezipienten ein Zugang und eine Relevanz erkennbar würden.
Damit sind wir wieder bei einem Thema, das wir oben schon angerissen haben: dem Geld. Geschichten so zu erzählen, dass diese Nähe entsteht, ist aufwändig. Das lässt sich am Beispiel der fünf Menschen im Tauchboot gut illustrieren. Über sie ist vieles bekannt, ohnehin im Netz zu finden oder leicht verfügbar. Da ist in den "Bild"-Medien die Geschichte der deutschen Frau, deren Sohn und Mann sich im U-Boot befinden. In deren Situation können sich Menschen in der westlichen Welt gut hineinversetzen, im Falle der über 700 Menschen, die in der vergangenen Woche vor Griechenland im Meer ertrunken sind, fällt das nicht ganz so leicht, schon allein, weil diese Tragödie erst mal nur eine Zahl ist.
Als vor acht Jahren das Foto des dreijährigen Alan Kurdi um die Welt ging, dessen Leichnam nahe Bodrum am Strand lag, kam diese Nähe auf die denkbar schrecklichste Art und Weise zustande. Es war ein Kind zu sehen, das eine Jeans trug und ein rotes T-Shirt, das so aussah wie ein Junge aus der Kita zwei Straßen weiter.
Das Foto wurde zu einer Ikone, laut Michael Bröcker ist es "das Bild zur größten humanitären Tragödie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg". Man könnte nun mit Blick auf die 700 vor Griechenland und zur EU-Asylrechtsreform sagen: Hat am Ende ja aber doch nicht so viel genützt. Aus medialer Sicht könne man aber auch etwas anderes hervorheben: Es ist möglich so zu berichten, dass Menschen sich für die Tragödie von flüchtenden Menschen interessieren.
Altpapierkorb (Bundeszentrale, Mediatheken, Pressebegegnung, Hart aber fair, Folgen der Evros-Geschichte)
+++ Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in der Reihe "Aus Politik und Zeitgeschichte" ein Heft zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk herausgegeben.
+++ ZDF-Verwaltungsrat Leonhard Dobusch hat vier Jahre nach seinem "re:publica"-Vortrag, in dem er gefordert hatte, dass "die Öffentlich-Rechtlichen ihre 'Sender-Silos' verlassen und zu einem öffentlich-rechtlichen Ökosystem finden", in der ZDF-Mediathek 750 Tatort-Folgen gefunden, wie er bei Twitter schreibt. Dobusch: "Und das Beste: kein Mediathekwechsel zum Anschauen einzelner Tatort-Folgen mehr notwendig." Er beobachte, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen "online durchaus bewegen – und zwar in die richtige Richtung". Wenn man bedenke, dass zum April 2019 Verlinkungen zwischen Mediatheken verboten gewesen seien, sei der Fortschritt beachtlich.
+++ Sebastian Wellendorf hat für "@mediasres" mit dem früheren China-Korrespondenten Steffen Wurzel über die "Pressebegegnung" von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang gesprochen. Regierungssprecher Hebestreit gab später selbst zu, dass es aus Sicht der Bundesregierung falsch war, keine Fragen zuzulassen. Steffen Wurzel hält das Vorgehen für problematisch. Man habe ein Exempel statuiert. "Die werden dann in Zukunft immer sagen können, naja, bei den Chinesen, Mitte Juni habt ihr es ja genauso gemacht, dass keine Fragen nötig waren."
+++ Der WDR will "Hart aber fair" nicht mehr von Frank Plasbergs Produktionsfirma produzieren lassen, berichtet Cornelius Pollmer auf der SZ-Mediensite. In Zukunft werden das möglicherweise Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf machen. Thomas Lückerath schreibt für DWDL über den bevorstehenden Neustart: "Es liegt nahe, dass Klamroth auch bei seinem Polittalk fürs Erste gerne so arbeiten würde, wie er es bisher getan hat – mit mehr Gestaltungsspielraum unter eigener Flagge, also mit Florida Factual. Insofern war das Dilemma eines Zusammentreffens von geerbter Redaktion und eines bislang stets selbst produzierenden Moderators bei 'Hart aber fair' letztlich doch absehbar."
+++ Louis Klamroths "Hart aber fair"-Sendung über sexuelle Belästigung in dieser Woche hat für einige Reaktionen gesorgt, auch ihm vorgeworfen wird, sich über eine Diskussionteilnehmerin lustig gemacht zu haben, wie Wiebke Hollersen in der Berliner Zeitung schreibt. Samira El Ouassil kritisiert bei Übermedien etwa die Zusammensetzung der Runde. Sie schreibt: "Die folgenreichste Illusion politischer Talkshows ist die heimliche Hoffnung, gesellschaftliche Debatten so umfassend abzubilden, dass Kraft des Austauschs, ein intellektueller Fortschritt erfolgt, ein größeres Verständnis für die Probleme, ein entfachtes Ungerechtigkeitsempfinden, ein gesellschaftspolitisches Fühlen. Dieses unterschwellig, Versprechen kann keine 75-minütige Show leisten und schon gar nicht in Bezug auf das große, große Thema Sexismus. Umso fokussierter muss es bei der Wahl des Themas bleiben und bei der Besetzung der Gäste."
+++ Auf der FAZ-Medienseite beschäftigt sich Ferry Batzoglou mit den Folgen der Berichterstattung des "Spiegel" über den mutmaßlichen Tod eines Mädchens namens Maria an der EU-Außengrenze, der sich als nicht belegbar herausstellte (Altpapier), laut FAZ eine "Fake Story". Titel des Beitrags: "Die Ente von Evros". Im Text geht es auch um die personellen Folgen in der "Spiegel"-Redaktion. Der bei Erscheinen der Geschichte stellvertretende Auslandsressort-Chef Maximilian Popp habe seinen Posten, laut "Spiegel" auf eigenen Wunsch abgegeben und arbeite nun wieder als Reporter im Ressort Ausland. Er hatte die Geschichte übersetzt, redigiert und ergänzt. Daher war er als Co-Autor aufgeführt. Recherchiert hatte sie Giorgos Christides, der seit Oktober vergangenen Jahres offenbar nicht mehr für das Magazin schreibt.
Das Altpapier am Freitag kommt von Annika Schneider.