Das Altpapier am 28. Juni 2023: Porträt der Altpapier-Autorin Annika Schneider
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 28. Juni 2023 Verharmlosung und Kommerz

28. Juni 2023, 12:05 Uhr

Der "Stern" interviewt Alice Weidel und bekommt, was er bezweckt: Aufmerksamkeit. Claudia Roth wirbt für die EU-Pläne zur Medienfreiheit. Die Medienthemen des Tages kommentiert Annika Schneider.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Wie Alice Weidel dem "Stern" Klicks beschert

Ihren Aufmacher in der aktuellen Print-Ausgabe hat die "Stern"-Redaktion gleich doppelt flankiert: mit einem Editorial und einem eigenen Erklärvideo. "Was können Sie eigentlich außer Hass, Frau Weidel?", lautet die Frage, die das Interview auf dem Magazintitel anteasert. Dass das Wort "Hass" in Frakturschrift gedruckt ist, soll wohl eine absichernde Wertung ausdrücken, nach dem Motto: Die Redaktion ist sich im Klaren darüber, mit welcher Gesinnung sie es zu tun hat.

Dem Editorial von Chefredakteur Gregor Peter Schmitz ist zu entnehmen, dass es beim "Stern" durchaus Diskussionen gab, ob die AfD-Co-Vorsitzende Weidel im Großformat auf den Titel gehört. Schmitz zitiert gleich mehrere Stimmen von Prominenten, die die Meinung vertreten, man solle AfD-Mitgliedern keine große mediale Bühne bieten. Er selbst ist anderer Meinung:

"Ich glaube, es gehört zur Aufgabe von Journalisten, mit allen Menschen zu sprechen, die in unserer Demokratie an die Macht wollen. Wir müssen für unsere Leserschaft herausfinden, mit welchen Menschen wir es zu tun haben, was sie mit der Macht anstellen möchten."

In dem knapp vierminütigen Erklärvideo zum Interview ("Darf man das?" – Warum der stern mit Alice Weidel spricht), in dem der Chefredakteur sein Editorial noch einmal fast wortgleich herunterbetet, sagt er außerdem über die AfD:

"Die Strategie, gar nicht mit ihnen zu sprechen und sie nicht einzuladen und keine Interviews mit ihnen zu führen, hat, wenn man sich die Umfragen anschaut, auch nicht sonderlich gut funktioniert."

Irreführende Selbstvermarktung

Das klingt so, als würde sich der "Stern" in ganz neues Terrain vorwagen, indem er als erstes Medium überhaupt jemanden aus der AfD-Führung zum Interview einlädt. Das ist natürlich Quatsch. Alice Weidel äußert sich immer wieder in Interviews, ob bei tagesschau.de, bei Springers "Welt TV" oder im ZDF-Sommerinterview im vergangenen August, um nur einige zu nennen. Das nächste Sommerinterview mit Weidel ist für den 10. September angesetzt und in der ARD ist für den 6. August Tino Chrupalla eingeplant. Der "Stern" füllt also keineswegs eine Lücke in der deutschen Medienlandschaft, wenn er Weidel nun zu Wort kommen lässt.

Angesichts des Hingucker-Titels und des lieblos produzierten Drumrum-Contents mit weiteren Meldungen und Videos ("Die stern-Journalisten Veit Medick und Jan Rosenkranz beschreiben im Video, wie sie Parteichefin Alice Weidel im Interview wahrgenommen haben"), drängt sich doch sehr der Eindruck auf, dass es vor allem um Aufmerksamkeit, also Geld ging – was die Twitter-Gemeinde denn auch brav belohnte, indem sie den "Stern" gestern trenden ließ.

"Was glauben Stern und Welt denn, was Frau Weidel ihnen erzählt? Bestimmt wird sie nicht aus AfD-WhatsApp-Gruppen zitieren. Die Selbstverharmlosung geht weiter auf."

Das twittert Alex Urban. Ann-Katrin Müller, die aus dem "Spiegel”-Hauptstadtbüro über die AfD berichtet, befasst sich in einem langen Thread mit dem Interview und schreibt unter anderem:

"Schriftliche, also autorisierte, Interviews funktionieren bei Menschen, die lügen, einfach nicht. Da kann man dann noch so hoffen, dass es sich 'entzaubert' oder selbst erklärt, wenn Weidel einfach lügt, dass es keine Rechtsextremen in der AfD gibt."

Interessant wäre nun, herauszufinden, wie viele Werbeklicks, Probe-Abos und verkaufte Ausgaben Weidel dem "Stern" beschert hat. Ich habe der Versuchung widerstanden und die Paywall nicht überquert. Eine Analyse des Interviews, das Veit Medick und Jan Rosenkranz geführt haben, gibt es in diesem Altpapier deswegen nicht. Dass die ersten beiden Fragen aber auf Alice Weidel als Person abzielen und ihr so gleich zu Beginn die Möglichkeit geben, sich als nahbare, fröhliche Frau einzuführen, ist nicht sehr vielversprechend.

Exakte Grenzen und Abgrenzung

Letztendlich muss es bei redaktionellen Entscheidungen, wen man warum und wie interviewt, auch darum gehen, keine Grenzen zu verwischen und demokratiefeindliche Einstellungen präzise einzugrenzen – nicht mehr und nicht weniger.

"Wie wenig bedarf es mittlerweile, um als rechts gebrandmarkt zu werden. Wann bin ich rechts, wann bin ich eine Verschwörungstheoretikerin, eine Schwurblerin? Ich habe Fragen, ich habe Kritik, ich möchte mich äußern dürfen, ich möchte auch zuhören dürfen, ich möchte auch den hören, der für das Letzte gehalten wird. Ich kann mit Satire, die das verunmöglicht, nichts mehr anfangen."

Das sagt die Kabarettistin Christine Prayon in einem Interview mit Susanne Stiefel bei "Kontext". Bekannt ist Prayon unter anderem als "Birte Schneider" aus der "heute-show". Warum sie diese und andere Satire-Sendungen inzwischen meidet, erklärt sie im Interview.

Ihre warnenden Worte machen nachdenklich. Denn Alice Weidel ist eindeutig zuzuordnen: Sie steht für eine Partei, die in Teilen vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wenn nun aber auch eine Kabarettistin wie Christine Prayon befürchtet, als rechts abgestempelt zu werden, dann sind Maßstäbe verrutscht.

Claudia Roth und das EU-Medienfreiheitsgesetz

Als "Kompetenzstaubsauger" hat die rheinland-pfälzische Medienpolitikerin Heike Raab das Europäische Medienfreiheitsgesetz, kurz EMFA, schon bezeichnet (Altpapier). Inzwischen hat sich an dem Entwurf noch etwas getan und ihre Einschätzung fällt positiver aus, wie heute auf der FAZ-Medienseite zu lesen ist.

Kritik kommt aber nun noch einmal von anderer Seite: "Mehr als 400 Verlage, Zeitungen, Zeitschriften und Verbände aus der EU" kritisieren das EU-Vorhaben in einem offenen Brief, berichtet Michael Hanfeld. Die Unterzeichner fürchten um die Pressefreiheit, unter anderem, weil Gremien wie der Deutsche Presserat einer EU-Behörde unterstellt werden sollen.

Ein flammendes Plädoyer für den EMFA hat wiederum die Grünen-Politikerin Claudia Roth verfasst, zu finden direkt neben Hanfelds Artikel. Die Staatsministerin für Kultur und Medien verteidigt die Pläne der EU:

"Während in Deutschland unabhängige Gremien die Intendanzen unserer Rundfunkanstalten wählen, suchen sich in manchen Teilen Europas die Regierungen ihnen genehmes Redaktionspersonal aus. Solche medienpolitischen Defizite haben auch direkte Auswirkungen für uns, da damit das gemeinsame europäische Demokratiemodell gefährlich ausgehöhlt wird. Das europäische Medienfreiheitsgesetz ist der konsequente nächste Schritt der europäischen Ebene moderner Gesetzgebung."

Aus Sicht von Roth hat die bisherige Kritik schon einige Änderungen im Entwurf bewirkt. Die EU-Organe verhandeln derzeit noch über die endgültige Fassung. Und damit zum…


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+++ "Nie waren Medien, im großen wie in kleinem Format, so mächtig, so allgegenwärtig. Und nie fiel es derart auf, wenn sie nichts zu erzählen haben. Weil sie, um die großen Einsätze, um die es im Digitalkapitalismus geht, zu sichern und in der Konkurrenz zu bestehen, sich vor allem danach richten, was die anderen Medien in dieser Sekunde gerade so machen: Nur nicht hintendran wirken, nichts von den maßgeblichen Zahlen verlieren, auch nicht für kurze Zeit und nichts riskieren!" Eine Schelte der medialen Gesamtsituation von Nils Minkmar findet sich in der heutigen Ausgabe der SZ (Tweet) – lesenswert auch wegen eines Schlenkers zu Trumps Medienstrategie (mit Weidel im Hinterkopf).

+++ Auf der SZ-Medienseite beleuchtet Christian Zaschke das Stühlerücken beim US-Sender Fox News, wo auf den Moderator Tucker Carlson nun Jesse Waters folgt, der nicht so extrem sei, aber ebenfalls gerne provoziere.

+++ In der taz erklärt die Juristin Renate Schmid im Interview mit Adefunmi Olanigan die rechtlichen Grundlagen der Abhöraktion, bei der bayerische Behörden das Pressetelefon der "Letzten Generation" angezapft haben.

+++ Das geplante Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel, das Kinder schützen soll, war gestern hier schon Thema. Kinderfernsehsender verkaufen allerdings vergleichsweise wenig Werbung für Snacks, hat Timo Niemeier für DWDL in Erfahrung gebracht. Werbespots für Spielzeug machen demnach einen viel größeren Teil der Einnahmen aus.

+++ Dass Webportale oder Apps für den Login eine Handynummer abfragen, passiert inzwischen ziemlich oft. Dass diese Nummer womöglich darüber entscheidet, wie mit einem Nutzer oder einer Nutzerin umgegangen wird, ist bei Netzpolitik.org zu lesen. Anna Biselli schreibt dort über die Firma TeleSign, die angeblich fünf Milliarden Handynummern in ihrer Datenbank hat – und passend dazu "Erkenntnisse aus Milliarden digitaler Interaktionen und mobilen Signalen". Die österreichische Datenschutzorgansation noyb gehe dagegen jetzt vor, berichtet Biselli.

+++ Die "Bild" kann es nicht lassen und packt auch heute wieder den "Heiz-Hammer" auf den Titel. Die Kampagnen und irreführende Berichterstattung rund um das geplante Gebäudeenergiegesetz hat Ann-Kathrin Büüsker, Hauptstadtkorrespondentin des Deutschlandradios, gestern bei @mediasres analysiert (Audio) (wobei ich die Sendung redaktionell betreut habe).

Das nächste Altpapier kommt morgen von René Martens.

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