Das Altpapier am 15. August 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 15. August 2023 Finger am Puls der Gesellschaft

15. August 2023, 10:56 Uhr

Ist Elon Musk ist "der erste Troll-Unternehmer"? Werden die Schulen googlefiziert (sofern keine Applefizierung dazwischen kommt)? Sind die Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Anstalten die eigentlichen Zukunftsräte und wussten bisher bloß nichts davon? Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Troll", "Dreistigkeit": Musk-Kritiker im Interview

Die "FAZ" ist trotz allem eine ziemlich gute Zeitung. Schon, weil sie wichtige Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Medienthemen etwa kommen außer auf der Medienseite oft auch im sonstigen Feuilleton, im Politik- oder zumal im Wirtschaftsressort vor.

Dort überraschte gestern ein ganzseitiges, lesenswertes Interview mit dem Gründer des CCDH. CCDH? Diese Abkürzung kam im Altpapier bisher nur zweimal vor. An so was wie dem Center for Countering Digital Hate aus London und Washington herrscht ja auch in Deutschland kein Mangel. Aber Anfang August lenkte Twitter-Besitzer Elon Musk mit einer pompös angekündigten Klage gegen es viel Aufmerksamkeit auf das Center. Alles mit Musk und Twitter wird ja breit vermeldet, trotz aller Kritik an Twitter.

"Xitter wird immer noch fleißig in allen Medien zitiert als quasi Pressemitteilungszentrale, während hier Demokraten stummgeschrien und faschistische Inhalte algorithmisch verstärkt werden ..."

klagte Marina Weisband etwa gerade (auf Twitter). Im "FAZ"-Interview also zeigt sich CCDH-Chef Imran Ahmed mächtig stolz ob der Klage ("Die haben es auf uns abgesehen, weil wir erfolgreich sind") und teilt kräftig aus. Twitter habe "immer zu den Schlimmsten gehört", sagt er, und mit Musk sei alles noch schlimmer geworden:

"Wir sollten nicht vergessen, dass wir es bei Musk mit einem Troll zu tun haben, und Trolle haben keine guten Absichten. Die sagen Dinge, weil sie sich einen Vorteil davon versprechen, auch wenn sie nicht wahr sind. Elon Musk ist der erste Troll-Unternehmer."

Etwas kurz kommen Fragen nach anderen, deutlich größeren und lukrativeren Plattformen, zu denen Ahmed auch was sagen zu wollen scheint ("Meine Erfahrung mit den Betreibern sozialer Medien ist: Die suchen den Dialog mit der breiten Gesellschaft, damit es den Anschein hat, dass sie sich engagieren, aber in Wahrheit tun sie das nicht ..."). Aber den Begriff der freien Meinungsäußerung, den Musk so geschickt vereinnahmte, dass seine Kritiker oft in undankbare Positionen rutschen, spricht Interviewer Roland Lindner an. "Elon Musk hat sich ja selbst oft als 'Absolutist der freien Meinungsäußerung' beschrieben", sagt er. Dazu Ahmed:

"Das ist eine enorme Dreistigkeit. Auf der einen Seite sagt er, er wolle absolute freie Meinungsäußerung, auf der anderen Seite hetzt er seine Anwälte auf Kritiker".

"Googlefication of the classroom"

Zwischen der Echtzeit-Aufregung mal ein Blick in die angenehm nicht-tagesaktuelle Monatszeitung "Oxi", die es weiterhin gibt und die weiter zu lesen lohnt. In der aktuellen Ausgabe geht es aus unterschiedlichen Perspektiven um das Thema Bildung. Wozu selbstredend der Aspekt der Digitalisierung gehört. Im Artikel "Schöne neue Bildungswelt" (S. 6/7) schreibt dazu Tim Engartner (der dieses Jahr ein Pro-und-Contra-Buch mit dem FDP-Haudegen Wolfgang Kubicki veröffentlichte ...):

"... die Kultusministerkonferenz verkennt, dass sich die Digitalisierung als trojanisches Pferd zugunsten der Unternehmen und zulasten der 'Bildungsrepublik Deutschland' entpuppen wird. Der Fall Google zeigt besonders eindrücklich, wie ein einzelnes Unternehmen das schulische Lernen zu beeinflussen vermag. Nicht nur greift beinahe die Hälfte der deutschen Schülerinnen und Schüler auf YouTube als digitales Leitmedium zu. Die Videoplattform kann für schulisches Lernen eine Nutzungsquote von 86 Prozent vorweisen. In den USA ist gar von der 'Googlefication of the classroom' die Rede ..."

Wobei der Google-Konzern, zu dessen Infrastruktur-artigen Besitztümern ja das mobile Betriebssystem Android gehört, einen Konkurrenten doch hat: den Anbieter des einzigen anderen mobilen Betriebssystems, Apple. Dessen

"Unterrichtsassistent 'Classroom' ist auf die Nutzung von Endgeräten aus dem eigenen Produktportfolio zugeschnitten, sodass die User frühzeitig an das firmeneigene digitale Ökosystem gebunden werden. Kinder und Jugendliche sollen an iOS-basierte Betriebssysteme gebunden werden, sodass sie ihre Kaufentscheidungen dauerhaft an den aus Schulzeiten vertrauten Produkten ausrichten ..."

Tatsächlich kann ja, wer professionell oder zumindest viel schreibt und sich ans Schreiben auf Apple-Geräten gewöhnt hat, nur mit einem Routinebruch und Reibungsverlusten auf andere Geräte umsteigen. Und dass in Deutschland, wo Digitales und Internet als Querschnittsthemen von allen Politikressorts beackert werden (und es mit der Digitalisierung daher mal schlecht und langsam, mal noch schlechter und langsamer klappt), das zähflüssig freigegebene Geld zu großen Teilen an die Falschen fließt, lässt sich gut vorstellen.

"Versagen", "Verzweiflung" usw. (ÖRR-Debatte)

Die Öffentlich-Rechtlichen-Diskussion geht weiter. Während die "Neue Zürcher" unter der knalligen Überschrift "ARD und ZDF auf dem Weg zum Wahrheitsministerium" vor allem die laufende "FAZ"-Debatte zusammenfasst und das "Framing Manual" von 2019 (Altpapier) reinmischt, ist ein Beitrag der "Welt" lesenswert. Zwar trägt der die auch nicht dezente Überschrift "Das Versagen der ÖRR-Rundfunkräte". Doch was Jürgen Bremer schreibt, der einerseits als einstiger WDR-Sprecher und Phoenix-Manager, andererseits als ehemaliges WDR-Rundfunkrats-Mitglied mit der Materie vertraut ist, hat Hand und Fuß.

Er bringt die alt bekannte, bloß von den zuständigen Politikern strategisch beschwiegene Problematik auf den Punkt: "ARD und ZDF produzieren nur die Programme, die die Politik von den Sendern haben will", und exemplifiziert sie am WDR-Gesetz. Und er antizipiert, dass "die Gebühren-Kommission KEF ... kaum daran vorbeikommen" wird, "eine Erhöhung vorzuschlagen – selbst wenn sie mit äußerst spitzem Bleistift rechnet." Etwas überraschend knallt dann die Formulierung vom Zukunftsrat, also dem politisch bestimmten Expertengremium, das über Ideen für die Öffentlich-Rechtlichen berät, als "Verzweiflungstat einer Politik, die nicht weiterweiß", rein. "Dabei gibt es schon Zukunftsräte", argumentiert Bremer: die Rundfunk- und Verwaltungsräte der Anstalten.

"Sie haben die Finger am Puls der Gesellschaft, spüren als Erste, ob die Gebühr zu hoch ist, ob das Programm akzeptiert wird oder zu viele Krimis, zu viel Talk, zu viel Theater und Konzerte, vielleicht sogar zu wenig Fußball gesendet werden."

Echt jetzt? Diese Gremien haben ja seit Jahrzehnten alles abgenickt, was inzwischen oft als Problem wahrgenommen wird (oder, falls sie doch mal widersprachen, zugestimmt, dass die Öffentlichkeit nichts davon erfährt). Da ist jedenfalls viel Rhetorik im Spiel, die gespannt macht. Liegen in den Gremien Nerven blank, weil der Zukunftsrat tatsächlich Ideen entwickelt? Will Bremer die WDR-Gremien, die demnächst einige wichtige Entscheidungen zu treffen haben, aufrütteln, damit sie eine Zukunft haben?

Nachzutragen ist, dass in der Samstags-"FAZ" "heute journal"-Redaktionsleiter Wulf Schmiese dem Manipulationsvorwurf von Bernd Stegemann ans "heute journal" (Altpapierkorb vom Freitag) beherzt entgegentrat. Schmiese nennt den Vorwurf eine "Behauptung, die auch etwas von 'Rufmord' hat", und Stegemann "den Dramaturgieprofessor". Und er hat zwei gute Argumente: Die monierten Bilder vom Auftritt der EU-Kommission in Tunis ("Aus der Untersicht wird der Aufmarsch der EU-Vertreter gefilmt") habe die Kommission selber so filmen lassen. Dazu "gab es nur die sogenannten Feed-Bilder eines TV-Service", so Schmiese. Was die "politische Stoßrichtung" betrifft, die Stegemann vor allem kritisierte, schreibt der ZDF-Mann lässig: "Die F.A.Z. bringt es gleichermaßen auf den Punkt."

Tatsächlich, außer oft auf der Medienseite, gibt die "FAZ" schon seit der Merkel-Ära ARD und ZDF selten kräftig Contra. Was es allen, die sehr ähnliche Berichterstattung aller Leitmedien beklagen, leider leicht macht (und was die "NZZ" in ihre Zusammenschau dann auch noch reinmischt). Wobei privatwirtschaftliche Zeitungen natürlich selber entscheiden können und müssen, wie und worüber sie berichten. Besser wäre, die insgesamt nicht wenigen öffentlich-rechtlichen Angebote würden sich in Themensetzung und Interpretation wenigstens manchmal voneinander unterscheiden, zum Beispiel einfach ZDF und ARD.

Niger, Ecuador, Türkei

Wenig berichtet wird über Länder und Regionen, die nicht Deutschland oder die USA sind, oder aus deutscher Regierungssicht wichtige andere europäische Länder. Das war am Freitag hier Thema.

Ziemlich hörbar resigniert klingt Lutz Mükke, der Afrikanist und Diplom-Journalist (vgl. etwa dieses Spezial-Altpapier von 2021), wenn ihn der Deutschlandfunk nun zur plötzlich wichtig erscheinenden Lage in Niger interviewt. Mükke beklagt eine "Verwahrlosung der Berichterstattung". "Lückenhaft" sei sie gewesen und habe sich "zu sehr ... verlassen" auf französische Berichte. (P.S.: Falls wer zur Lage in Niger etwas anderes lesen möchte als das, was eng aus Außenministeriums-Perspektive schauende deutsche Medien so berichten, wäre Martin Sonneborns laanger, ursprünglich getwitterter "Telepolis"-Gastkommentar "Wie die EU Afrikaner durch die Seitentür schleust und warum Putin in Niger kein Bösewicht ist" zu empfehlen.) (P.P.S.: Falls sich wer für die darin erwähnten Sahelzonen-Uran-Zusammenhänge interessiert, wäre nuclear-games.net ein Tipp. Dieser Grimme Online Award-Preisträger von 2022 ist eine öffentlich-rechtliche Koproduktion, allerdings der Schweizer SRG.)

Ebenfalls im globalen Süden liegt Ecuador. Dass der ermordete Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio ein investigativer Journalist war, der im "hochkorrupten Ölsektor" recherchiert hatte, berichtet die "taz". Wobei Ecuador in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit 85 Plätze vor dem NATO-Staat Türkei rangiert, den beruflich oder privat zu bereisen der Deutsche Journalisten-Verband nun abrät, nachdem dort eine Bundestagsabgeordnete wegen älterer Kommentare in Netzwerken vorübergehend verhaftet worden war. Mindestens so viel Aufmerksamkeit wie dieser Rat verdient die wenig beachtete, nun ebenfalls vom DJV verbreitete Nachricht von einer offiziell vereinbarten "Kooperation der Staatsmedien" Russlands und des Iran. "Medienaktivitäten auf der globalen Bühne sollten gestärkt werden", schreibt Hendrik Zörner und fragt sich, was das zu bedeuten hat.


Altpapierkorb (Rundfunkrat & "hart aber fair", "Wer hat Angst vor Tiktok?", wer hat Angst vor KI, Datenschützer-Skepsis)

+++ Was der WDR-Rundfunkrat demnächst entscheiden muss: wer den lukrativen Auftrag, über die nächsten Jahre oder Jahrzehnte die ARD-Talkshow "hart aber fair" zu produzieren, bekommt. Die Firma Ansager & Schnipselmann, an der Frank Plasberg beteiligt ist, oder die Firma Florida Factual, mit der Plasbergs Nachfolger als Moderator, der blasse und selten gut kritisierte, dafür aber junge Louis Klamroth, besser kann? Siehe dwdl.de. +++

+++ Heute auf der "FAZ"-Medienseite: großes Interview mit dem fernsehbekannten Philosophen (und Ex-Kultur/Medien-Staatsminister) Julian Nida-Rümelin über sein neues Buch "Cancel Culture – Ende Aufklärung" und Fragen wie "Wäre eine KI als Kanzlerersatz denkbar, die nach programmierten humanistischen Idealen entscheidet?" +++ Eher interessant im Politikressort: der Ganzseiter "Wer hat Angst vor Tiktok?" mit Passagen wie: "Marcus Bösch von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg hält es jedenfalls für überholt, säuberlich zwischen Information und Unterhaltung unterscheiden zu wollen. Tiktok repräsentiere die kommunikative Infrastruktur der Gegenwart: 'Jede Person auf diesem Planeten kann auf der Stelle ein Video hochladen, so tun, als sei sie Journalistin, und Quatsch erzählen.' Doch es muss nicht Quatsch sein ..." +++

+++ In der "Süddeutschen" geht's heute um die Künstliche-Intelligenz-Zeitschrift "human". Bei Zeilen à la "Was wir für die Welt von morgen wirklich brauchen" bezeichne das "Wir" "in erster Linie 'Entscheiderinnen und Entscheider', wahlweise auch 'strategische Leaderinnen und Leader', die, nun ja: Angst haben", also Angst vor KI, wundert sich Philipp Bovermann. +++

+++ "Deutsche Datenschutzbehörden zeigen sich skeptisch, dass Meta bald die Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) vollständig umsetzen wird", berichtet netzpolitik.org. Was sich auch so formulieren ließe, dass die deutschen Datenschützer selber auch nicht glauben, in den erstens im deutschen Inland und zweitens nochmals auf EU-Ebene föderalistisch zersplitterten Strukturen irgendetwas gegen die teuren Juristen des Meta-Konzerns, der an seinem EU-Sitz Irland mit der lokalen Datenschutzbehörde verbündet ist, durchsetzen zu können. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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