Ein stilisierter Globus, Afrika ist weiß hervorgehoben. Daneben hängt der afrikanische Kontinent nocheinmal rot hervorgehoben im Weltall mit einer Satellitenantenne darin.
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Der Altpapier-Jahresrückblick am 30. Dezember 2021 Selbst wenn es mal um Afrika geht, geht es nur um uns

30. Dezember 2021, 07:00 Uhr

Kann man’s auch übertreiben mit der Ignoranz? Afrika kommt traditionell kurz in der deutschen Medienberichterstattung. 2021 war das nicht nur an der fehlenden Fokussierung auf Afrikas Impfstoffmangel zu sehen. Immerhin: Der "Weltspiegel" hat die ARD-Programmreform überstanden. Ein Jahresrückblick von Klaus Raab.

Unsere Projektion ist Schrott

In der US-amerikanischen Serie "The West Wing" gibt es eine Folge, in der eine Gruppe von Kartografen zeigt, warum die geläufigste, die Mercator-Weltkarte verzerrt ist: Afrika ist darauf im Verhältnis erheblich zu klein. Die Serie ist Fiktion. Die Behauptung, die Weltkarte sei nicht korrekt, ist es nicht. Das hat zwar Gründe (hier 5 Minuten "Terra X plus" dazu), ändert aber nichts am Sachverhalt.

Man kann sich nun den Spaß machen, den Begriff "Weltkarte" durch den Begriff "journalistische Berichterstattung aus aller Welt" zu ersetzen: Dann ist die Kritik der Kartographen in der Serie immer noch gültig. Denn auch die Auslandsberichterstattung ist eine Projektion, mit der etwas nicht stimmt: Auch hier kommt Afrika ganz erheblich zu kurz. Und in diesem Jahr 2021 hat man das nur allzu deutlich erkennen können.

Ein Literaturnobelpreisträger aus Afrika – ups!

Ein erstes Beispiel für einen blinden Fleck: Der diesjährige Literatur-Nobelpreisträger, Abdulrazak Gurnah, kommt ausnahmsweise aus Afrika. Er ist nicht der erste Nobelpreisträger, dessen Auszeichnung viele hiesige Fachleute auf dem falschen Fuß erwischt hat; "die Verlegenheit war groß", gab ein paar Tage nach der Bekanntgabe die Zeit zu.

Allerdings gäbe es speziell für eine deutsche Rezeption von Gurnahs Werk einen Ansatzpunkt. Denn kaum ein Werk eines afrikanischen Romanciers dürfte so unmittelbar mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden sein wie seines. Dass ihn in deutschen Kulturredaktionen offensichtlich so gut wie niemand kannte (sodass nach der Bekanntgabe des Nobelpreises zum Teil Literaturwissenschaftler sein Werk einordnen mussten oder ein Artikel aus dem Guardian ins Deutsche übersetzt wurde) – das sagt etwas aus über das Interesse an einer tiefen Beschäftigung mit der eigenen Kolonialgeschichte und an afrikanischen Perspektiven generell: Es gibt nicht viel davon.

Im Spiegel-Interview (€) mit Tobias Rapp, der vor vielen Jahren in der taz tatsächlich die einzige Rezension eines Gurnah-Romans geschrieben hatte, die mir das Zeitungsarchiv ausgespuckt hat, sagte Gurnah: "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kolonialgeschichte in Deutschland wirklich ein Thema wäre." Er kennt Deutschland offensichtlich besser, als Deutschland ihn. Und in der Wochenzeitung "Der Freitag" wunderte sich Thomas Hummitzsch – allerdings erst eine ganze Weile nach der Bekanntgabe des Nobelpreises: "Zwei Monate später schüttelt man immer noch fassungslos den Kopf, dass dieser Autor hier nahezu unbekannt war. … (Das) wirft ein Schlaglicht auf die Verdrängung der blutigen deutschen Geschichte."

Der verkürzte Blick auf die Pandemie

Man kann, werden nun einige einwenden, von einem solchen speziellen Fall nicht auf strukturelle Ignoranz gegenüber Afrika in deutschen Redaktionen schließen. Mag sein. Aber sie zeigt sich ja auch anderswo. Zum Beispiel darin, dass die israelische, US-amerikanische, schwedische oder britische Corona-Politik rauf- und runtersortiert wurden, während das Pandemiegeschehen in afrikanischen Staaten und global wenig interessierte (Altpapier). Eine schwer zu begreifende Verkürzung des Blicks, die Georg Mascolo eine "echte Fehlleistung" nannte.

Der Afrikakorrespondent der Süddeutschen Zeitung, Bernd Dörries, kommentierte Ende November:

"In Subsahara-Afrika sind (…) nach wie vor erst ein wenig mehr als fünf Prozent der Menschen geimpft, in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo noch nicht mal ein Prozent. Das hat verschiedene Ursachen: (…) Aber vor allem liegt die niedrige Impfquote eben daran, dass die reichen Länder ihre Vorräte lange gehortet haben, und die armen wenig bis nichts abbekamen. Und wenn doch, dann die Impfstoffe, auf die Amerikaner und Europäer keine Lust haben. Es ist ein unfassbares moralisches Versagen von Gesellschaften, die anderen so oft schulmeisterlich sagen, was sie falsch machen."

Und nun könnte man sagen: Na bitte, da steht’s doch; es interessiert also doch! Aber Texte wie diese pflegten bislang eine Nischenexistenz. Die Impfquote in Bremen dürfte prominenter diskutiert worden sein.

Viel gewaltiger war vor allem der mediale Aufruhr, als der damalige Gesundheitsminister kürzlich ankündigte, die Deutschen sollten sich verstärkt mit Moderna impfen lassen statt mit dem Impfstoff von Biontech. "Spahn rationiert Biontech, während Deutschland Millionen Dosen an Drittländer spendet" – das wurde als der eigentliche Skandal verhandelt. Vergleichbar nur mit dem Theater, als deutsche Medien feststellten, dass die EU aus Versehen nicht den kompletten Vorrat an Impfstoffen vorbestellt hatte, sondern nur große Teile. "In den USA sollen bis Ende März rund 220 Millionen Dosen der beiden Top-Covid-19-Vakzinen ausgeliefert sein. In der EU weit weniger als ein Viertel davon. Dabei leben in der EU viel mehr Menschen", ärgerte sich der Spiegel im Januar. Quizfrage: Wie viele Menschen leben in Afrika?

Zwei Blicke auf Afrika, die fehlen

Ändern wir den Blick: Eine bestimmte journalistische Perspektive auf die Welt ist aus der Mode gekommen, und sie fehlt. Es ist zum Beispiel die Perspektive von Gerd Ruge. Ruges Afrika-Reportage-Filme sind von einer besonderen Qualität, die heute kaum noch einen prominenten Platz im Programm fände. (Jedenfalls nicht an drei Tagen nacheinander in der zweiten Prime-Time.) Er reiste durch Mosambique, Südafrika, Swaziland, Lesotho, Namibia und Botswana. Und fragte die Menschen: "Und, wie ist das Leben?" Er ließ Fischer, Friseurinnen und Gefängniswärterinnen erzählen, was sie gerade so umtreibe, und so ging eine Welt auf, die nicht zuvor wahrgenommen war. Dass Ruge in einer Zeit aktiv gewesen ist, die medial anders war, ist in Nachrufen auf ihn herausgearbeitet worden (Altpapier). Gerd Ruge ist im Oktober gestorben.

Wie oft kann, ohne Tourismusbezug und vor allem ohne Krisen- und Kriegsfokus, heute an prominenter Stelle von Afrikas Mittelschicht erzählt werden, von Lebenswelten und Innovationen, Fortschritten und Alltagsfragen? Auch Bettina Gaus hat davon erzählt. Auch sie ist 2021 gestorben. "Fünf Jahre lang berichtete sie von den Kriegsschauplätzen Afrikas – teils unter beträchtlichen Risiken. Dass Bettina in Afrika natürlich viel mehr als nur einen Krisenherd sah, betonte sie stets", schrieb taz-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann in einem Nachruf. Genau wie Ruge wird Gaus nicht nur, aber auch wegen ihrer Afrikaberichterstattung fehlen.

Ostafrika – aber bitte mit Sophia aus Mainz

Es gibt auch heute sehr gute Afrikakorrespondentinnen und -korrespondenten in privaten wie in öffentlich-rechtlichen Medien, die unter bisweilen herausfordernden Bedingungen sehr respektable, oft hervorragende Arbeit leisten. An den Korrespondenten liegt es nicht. Natürlich gibt und gab es 2021 wichtige Reportagen und Berichte, gerade aus Krisen- und Kriegsregionen wie Tigray (nur zum Beispiel: Süddeutsche Zeitung, Spiegel, ARD).

Aber es geht an dieser Stelle nicht darum, die Leistung von Reporterinnen und Reportern zu vergleichen. Sondern um die strukturellen Möglichkeiten für Berichterstattung aus Teilen der Welt, die als wenig "News"-relevant gelten und an deutsche Lebenswelt-Assoziationsketten schwer anschlussfähig sind. In der Doktorarbeit des Afrikanisten und Diplom-Journalisten Lutz Mükke hieß es 2009, Berichte aus Afrika könnten sich oft nur durchsetzen, wenn sie "heftige Katastrophen, Kriege, Krisen oder Themen mit Deutschlandbezug" aufzeigten. Daran hat sich nichts geändert. (Auch wenn eine Promotion an der Technischen Universität Dortmund von Fabian Sickenberger zeigt, dass immerhin die Bildauswahl in der "Tagesschau" nicht so krisenorientiert ist wie die Themenstruktur.)

Eine der afrikanischen Begebenheiten, über die in diesem Jahr jenseits der Nachrichten relativ häufig berichtet wurde, war die Öffnung der ostafrikanischen Inselgruppe Sansibar für den Tourismus. Urlaub ohne Maske, mitten in der Pandemiewinterwelle – da reisten Reporter an, um vor Ort Sophia aus Mainz oder die deutsche Reiseveranstalterin Sabine zu interviewen. Was man machen kann. Aber die These, die Filme wären nicht entstanden, hätte es keinen expliziten Bezug zu deutschen Befindlichkeiten gegeben, ist wohl nicht gewagt. Selbst wenn es mal um Afrika geht, geht es eigentlich doch eher um uns.

Wenn die Lebenswelten des eigenen Publikums von einem Thema nicht direkt tangiert sind, legen sich die nicht-nachrichtlichen deutschen Redaktionen direkt wieder schlafen. Es gibt Nachrufe auf deutsche Unternehmer, die sich "in Afrika engagiert" haben. Porträts der deutschen Olympiasiegerin Malaika Mihambo, deren Vater in Ostafrika geboren wurde. Texte aus Mali und Marokko, die aber vor allem von europäischer und deutscher Migrations- oder Verteidigungspolitik handeln. Aber angemessene und wirklichkeitsnahe Darstellungen von Leben, Wirtschaft oder Politik auf dem Kontinent?

Ich habe mir eine Reihe von beliebig herausgepickten Zeitungsausgaben aus diesem Jahr angesehen und darin keinen einzigen Text aus oder über Afrika gefunden, in dem es nicht um Katastrophen, Kriege, Krisen oder Themen mit Deutschlandbezug ging. Dafür gibt es Erklärungen, logistische, wirtschaftliche, geopolitische, aufmerksamkeitsökonomische. Aber man kann es als Medienlandschaft schon auch übertreiben mit der Wurstigkeit.

Der "Weltspiegel" hat eine Programmreform überstanden

Womöglich ist dieser Mangel eine Erklärung dafür, dass den "Weltspiegel" in diesem Jahr so einige Solidaritätsadressen erreicht haben: Das Auslandsmagazin der ARD würde verschoben, hieß es im Sommer, vom angestammten Sendeplatz am frühen Sonntagabend auf einen neuen am Montag. Im Rahmen ihrer Programmreformplanungen hatte die ARD einige Umschichtungen angekündigt; einen neuen Informationsmontag geplant; vor allem die Stärkung der Mediathek konkret in den Blick genommen, in der Magazinformate es schwerer haben als im linearen Fernsehen (Übermedien).

Aber die in diesem Zusammenhang geplante Verlegung des "Weltspiegels" sorgte doch für erhebliche Aufwallungen. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten kritisierten den Plan in einem Brief an die "lieben Intendant:innen, Direktor:innen und Chefredakteur:innen" des ARD-Fernsehens öffentlich scharf. Die Verlegung würde "eine drastische Schwächung" bedeuten; die Pläne könnten "summa summarum als Halbierung der Auslandsberichterstattung" gewertet werden, schrieben sie. Und sie fanden Gehör – im Spiegel ("Warum der 'Weltspiegel' am frühen Sonntagabend laufen muss"), bei Ehemaligen, bei zapp.de vom NDR, auch bei uns im Altpapier. Und letztlich auch bei den Reformerinnen und Reformern der ARD.

Am Ende wurde entschieden, den "Weltspiegel" am Sonntagabend, wohl dem Bundesligafußball zuliebe vorzuziehen und dafür um ein paar Minuten zu verlängern. Zusätzlich soll es einen Sendeplatz am späten Montagabend für Reportage und Dokus geben. (Zu Einzelheiten der ARD-Programmreform siehe etwa das "Medienmagazin" des RBB, spiegel.de, Süddeutsche Zeitung oder auch Altpapier.) Und so konnte der Spiegel schließlich Gerd Ruge nachrufen: "Zu seinen bleibenden journalistischen Errungenschaften zählt der 'Weltspiegel': Gemeinsam mit Klaus Bölling initiierte er 1963 die Institution in der ARD, die gerade wieder eine Programmreform überstanden hat."

Zu wenig Platz für gute Berichterstattung aus aller Welt gibt es aber ja auch genug.

Der Altpapier-Jahresrückblick 2021