Kolumne: Das Altpapier am 22. August 2023 Boomer sind unhöflich
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22. August 2023, 12:45 Uhr
Mathias Döpfner hat mal wieder einen Essay zur Lage der Nation rausgehauen. Darin geht es nicht nur um die AfD und Hauptstadtjournalisten, sondern erstaunlicherweise auch um Kinderfußball. Kommentatoren von "Spiegel" und "Tagesspiegel" kritisieren derweil die Aufregung über den rücksichtsvollen Umgang des WDR mit Fernseh-Historie. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.
Inhalt des Artikels:
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
Wenn Döpfner "Wirklichkeiten" wahrnimmt
Der deutsche Denker Mathias Döpfner hat mal wieder einen seiner berüchtigten Essays veröffentlicht. "Abstieg, Angst und AfD" lautet die Überschrift. 2019 bezeichnete "Übermedien" einen anderen Essay des CEO als "Durcheinander":
"Döpfner verrührt alles, was er an Hinweisen auf angeblich empörende Zustände in Deutschland der 'Bild'-Zeitung entnommen hat, zu einem düsteren, brodelnden Brei."
Ähnliches lässt sich auch über das aktuelle Werk sagen. Gleich im zweiten Absatz geht es um Fußball - obwohl Döpfner "eindeutig nicht" zu den "Fußball-Kennern" zählt, wie er selbst schreibt. Was ihn aber nicht davon abhält, die vom DFB für 2024 verabschiedeten Reformen für die Altersklassen U6 bis U11, also den Kinderfußball, als "hochsymptomatisch" für die "Gesamtmisere des Landes" zu bezeichnen. Hallo? Missbilligend zitiert Döpfner den DFB: "Um keinen unnötigen Leistungsdruck aufzubauen, wird in den jungen Altersklassen keine Meisterschaftsrunde gespielt."
Ja, und? Zwei Tage, bevor Döpfners Text in der WamS erschien, hatte jemand, der sich auskennt, nämlich Jan-Christian Müller, Sportredakteur bei der "Frankfurter Rundschau", zu den DFB-Plänen geschrieben:
"Die Kleinen müssen öfter ran an den Ball, also mit weniger Leuten auf kleineren Plätzen spielen. Das System ist super: Statt zwei Teams treffen sich viele Mannschaften auf einem Sportplatz, tragen dort statt einzelner Spiele ganze Turniere mit vielen kurzen Kicks aus, die Sieger:innen rücken jeweils einen Platz vor und spielen gegen andere Gewinner:innen, die Unterlegenen rücken zurück und spielen gegen Verlierer:innen."
Was gibt es sonst im Essay des Springer-CEO? Reaktionäre Ladenhüter (Döpfner polemisiert gegen "die antiautoritären Kindergärten der Sechzigerjahre"), Politiker-Phrasen ("… stärkt die Demokratieverächter von ganz links und ganz rechts"), bizarre Metaphern ("Wähler spüren es, wenn der Glutkern von Überzeugungen in Wahrheit ein Luftballon ist"). Und dann noch eine medien-, vor allem hauptstadtjournalismuskritische Passage, die er in "sieben Wahrnehmungen" unterteilt. Pardon: "sieben Wahrnehmungen, die auch Wirklichkeiten sind". Super-Matze meint offenbar, seine "Wahrnehmungen" hier noch adeln zu müssen. In diesen Teil steigt er folgendermaßen ein:
"Wir Journalisten verlieren immer häufiger gesunde Distanz zur Politik."
Bemerkenswert, dass ausgerechnet Mathias "Please stärke die FDP" Döpfner so etwas schreibt. Darauf spielt auch der DJV in seiner Kritik an Döpfners Kritik an (siehe newsroom.de). Die signifikanteste Passage des Essays ist nach meinem Dafürhalten folgende:
"Wenn die AfD oder eine andere Partei des jeweils anderen politischen Lagers dies oder jenes sagt oder fordert, kann es schon aus Prinzip nur falsch sein. Der politische Gegner muss also automatisch das Gegenteil sagen oder fordern. Das ist eine fatale Falle: Denn das Richtige wird nicht falsch, nur weil der Falsche es fordert."
Döpfner hat offenbar seinen Stefan Aust gelesen. Der "Welt"-Herausgeber hatte zum Beispiel 2021, siehe Altpapier, gesagt:
"Wenn Herr Gauland sagt, es regnet, dann scheint deswegen noch lange nicht die Sonne."
Der Musik-Produzent Steve Albini, der vermutlich in der beneidenswerte Lage ist, noch nie einen Text von Mathias Döpfner, Stefan Aust oder Alexander Gauland gelesen zu haben, hat zu solchen argumentativen Verrenkungen in einem ganz anderen Zusammenhang neulich gegenüber dem "Guardian" einen T-Shirt-Slogan-reifen Satz gesagt:
"If the dumbest person is on your side, you’re on the wrong side."
Fehlende Kontextualisierung im MDR-"Sommerinterview" mit Höcke
Mit der Berichterstattung über die AfD, den, so Döpfner, "Aufsteiger des Jahres" (die bestenfalls nachlässige Formulierung kommt kurz nach der Kinderfußballpassage), beschäftigt sich auch der "Tagesspiegel". Er hat Johannes Hillje interviewt, Politikberater und Autor des Buchs "Das 'Wir' der AfD. Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus". Hillje unterscheidet verschiedene Phasen der Berichterstattung:
"Die erste Phase ist die mediale Verstärkung der rechtspopulistischen Rhetorik und Personen, sie basiert auf dem aufmerksamkeitsökonomischen Tauschgeschäft von 'Provokation gegen Publizität', mit dem der AfD in den ersten Jahren eine Instrumentalisierung und Verschiebung des demokratischen Diskurses gelungen ist."
Mittlerweile ist nach Hilljes Rechnung die dritte Phase erreicht, die er folgendermaßen charakterisiert:
"Der mediale Umgang ist derzeit von Orientierungslosigkeit geprägt, Medien berichten wieder mehr über die AfD, fallen in der Art und Weise aber auf Verhaltensweisen der ersten Phase zurück."
Hillje geht auch darauf ein, dass sich der Medienmarkt im Vergleich zur ersten Phase verändert hat:
"Die AfD profitiert von rechtspopulistischen Alternativmedien sehr stark. Julian Reichelts Kanäle verbreiten AfD-Narrative ohne AfD-Logo. Das neue Portal NIUS ist als Nachrichten getarnter Kulturkampf von rechts. Es wundert mich, wie bereitwillig Politiker demokratischer Parteien diese Kanäle als Interviewpartner aufwerten."
Gemeint sein dürfte hier unter anderem der sächsische Innenminister Armin Schuster (siehe dazu das Leipziger Stadtmagazin "Kreuzer" Mitte der vergangenen Woche).
Um das Wirken der Öffentlich-Rechtlichen geht es natürlich ebenfalls, da beobachte er "Lerneffekte, aber auch Lernverweigerung", sagt Hillje. Auch das MDR-"Sommerinterview" mit Björn Höcke (Altpapier) ist Thema des Gesprächs:
"Leider beweist der MDR regelmäßig, dass er einem Interview mit Höcke nicht gewachsen ist (…) Aber ein solches Interview läuft gehörig falsch, wenn die von Björn Höcke erwartungsgemäß vorgetragene NS-Rhetorik, Menschenfeindlichkeit und demagogische Selbst-Heroisierung nicht journalistisch mit der von der Wissenschaft nachgewiesenen rechtsextremen Ideologie kontextualisiert wird."
Am Wochenende hatte Sebastian Leber ebenfalls im "Tagesspiegel" über dieses "Sommerinterview" geschrieben und Ähnliches kritisiert:
"Lars Sänger, der MDR-Moderator (…), schaffte es nicht mal, seinen Gast korrekterweise als rechtsextrem vorzustellen."
Hilljes Fazit:
"Das Interview war ein lebhafter Plausch mit einem Rechtsextremen. Damit verfehlt der MDR seinen demokratischen Auftrag."
Minimale Rücksichtnahme
Den berechenbaren Aufruhr zu den einordnenden Hinweistafeln, mit denen der WDR alte Sendungen von Otto Waalkes und Harald Schmidt versieht (Altpapier), kommentiert Ariane Bemmer in einem "Zwischenruf" für den "Tagesspiegel":
"Der Abwehrreflex ist insofern verständlich, als die Sendermaßnahme vor allem die Fernsehgewohnheiten und -idole derjenigen betrifft, die bis heute als sogenannte Boomer in der Mehrheit sind, maßgeblich meinungsbildend mitwirken und sich nur ungern ihre ehemaligen Vorlieben zu Irrtümern umdefinieren lassen."
Bemmer betont:
"Die Humorvorstellungen und Pointen von damals gelten vielen heute als diskriminierend. Das mal als Tatsache akzeptiert, ist die Warnung nicht mehr als eine erwiesene Rücksichtnahme. Es wird damit nichts zensiert, es wird nichts ungeschehen gemacht, es wird nichts zurückgenommen."
Arno Franks Text für den "Spiegel" geht ebenfalls in die Richtung, er holt aber wesentlich weiter aus:
"Ist die umstrittene Texttafel wirklich eine Warnung? Oder doch eher eine 'Einordnung', wie sie der WDR verstanden wissen will? Sie ist beides. Als Einordnung bedeutet sie nichts weiter als: 'Wir wissen, was wir hier tun, tun es aber trotzdem!' Wir verfälschen also nicht diesen 'Teil der Fernsehgeschichte', den wir hüten, sondern strahlen ihn aus – im Bewusstsein, das gewisse Passagen 'als diskriminierend erachtet werden'.
Erst dieser Satz, übrigens in distanzierender Passivkonstruktion, enthält die eigentliche Warnung – verstanden als Vorhersage eines möglichen Schadens. Wer auch immer sich diskriminiert fühlen könnte, sollte das vorher wissen. Weil er oder sie davon einfach nicht auch noch vor dem Fernseher blöd angequatscht werden will, weil er oder sie vielleicht ein Kind ist. Und das wäre er auch schon, der 'woke' Kern der kompletten Affäre. Schlichte Höflichkeit.
Frank schreibt weiter:
"Mit Wokeness als kulturellem Kampfbegriff hat das nichts zu tun. Wer Kuchen verkauft, weist aus Rücksicht auf Allergiker darauf hin, welche Stücke 'Spuren von Nüssen' enthalten können – ohne den Verkauf von Kuchen generell einzustellen oder seinen Verzehr zu verurteilen. Wen die Warnung nicht betrifft, der mag unbeschwert losfuttern. Und wen die Warnung vor Otto oder 'Schmidteinander' nicht betrifft, der mag die drei Sekunden aushalten und sich danach amüsieren. Der Witz ist, dass die Warnung eine minimale Rücksicht gegenüber jenen bedeutet, die man in unserer Gesellschaft 'marginalisierte Minderheiten' nennt. Mich geht diese Warnung nichts an. Als Unbetrofffener nehme ich sie interessiert und mit Wohlwollen zur Kenntnis."
Um in diesem Kontext noch einmal auf die von Bemmer erwähnten "Boomer" zurückzukommen: Diese wollen halt keine Rücksicht auf "marginalisierte Minderheiten" nehmen, weil sie es früher auch nicht mussten. Und das gilt nicht nur für die Roland-Tichy-Gutfinder unter ihnen.
Voß nun wieder!
In der FAZ-Debattenreihe zur Lage und Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen (Altpapier von Montag) schreibt heute schon zum zweiten Mal Peter Voß, der legendäre Erfinder des Wörtchens "linksgrunzend". Er liefert Bewährtes, meckert über
"ein Übermaß an politischer Korrektheit, die sich mit Haltung verwechselt. Zum Beispiel eine bevormundende Sprachpolitik der Sender, allem voran die Genderei, wie sie zumindest im umständlichen Doppelplural ('Expertinnen und Experten', 'Gästinnen und Gäste’) betrieben wird."
Interessant hier u.a.: das Wörtchen "zumindest". Möglicherweise ist sogar Voß aufgefallen, dass Genderstern, Genderdoppelpunkt, Gender-Gap und Glottisschlag bei den Öffentlich-Rechtlichen kaum verbreitet sind (anders als es zahllose Propagandisten behaupten). Deshalb muss er nun schon den Doppelplural zur "Genderei" hochjazzen. Der Tag scheint nicht mehr fern zu sein, an dem Leute aus der Voß-Ecke "Damen und Herren" als woke Scheiße verteufeln werden.
Im FAZ-Literaturblog hieß es 2018 übrigens:
"Liebe Gästinnen und Gäste, willkommen auf unserem Blog! Und bevor Sie sich jetzt echauffieren: das Wort 'Gästinnen' ist keine modische Entgleisung, sondern sehr alt und kommt schon in Grimms Wörterbuch vor."
Altpapierkorb (eine für die Pressefreiheit gefährliche "Sicherheitslücke", Metas Rücksichtslosigkeit, Start des Sport-Streamingdienstes Dyn Media)
+++ mmm.verdi.de erinnert daran, dass das Bundesinnenministerium 2017 die Internetplattform linksunten.indymedia auf Basis des Vereinsrechts verboten hat. Diese "Hintertür, mit der sich eine Grundsäule des Rechtsstaats", nämlich die Pressefreiheit, "aushebeln" lasse, gebe es weiter, kritisiert Stefan Mey. Seine Forderung: "Diese 'Sicherheitslücke' sollte dringend geschlossen werden."
+++ Dass Nutzer von Facebook in Kanada seit Anfang des Monats keine Texte von Medienunternehmen angezeigt bekommen, weil die dortige Regierung den Meta-Konzern dazu verpflichtet hat, "Presseorganen ein Entgelt zu bezahlen, wenn sie deren Inhalte auf ihrer Plattform veröffentlichen" ("Süddeutsche") - das hat derzeit potenziell dramatische Folgen. Denn die Medienblockade gilt auch für Informationen zur Waldbrandkatastrophe, etwa zu Details zu (geplanten) Evakuierungen. Neben der SZ berichtet darüber zum Beispiel der Zeit-Online-Podcast "Was jetzt?".
+++ Für den Sportteil der FAZ hat Anno Hecker ein sehr, sehr ausführliches Interview mit Christian Seifert geführt, dem früheren Regenten der Deutschen Fußball-Liga. Der will nun mit der mehrheitlich zu Springer gehörenden Streaming-Plattform Dyn Media, die am morgigen Mittwoch startet, Abonnenten gewinnen, die sich zum Beispiel für Handball, Basketball und Hockey interessieren. "Diese Sportarten (müssen) nicht nur am Spieltag präsent sein (…), sondern über die gesamte Woche bis zum nächsten Spieltag. Wir werden Bewegtbilder zur Verfügung stellen für Medien und die Klubs selbst während der Woche, den Zugang zu Mannschaften, Spielern und Spielerinnen erleichtern. Darum hat sich bisher keiner wirklich bemüht", sagt Seifert unter anderem. Wofür Dyn Media nicht steht, sagt er auch: "Unser erster Job besteht nicht darin, eine Investigativredaktion aufzubauen."
Das Altpapier am Mittwoch schreibt Christian Bartels.