Das Altpapier am 29. August 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 29. August 2023 Wie einst die Kartoffel?

29. August 2023, 10:31 Uhr

Die Bundesländer Berlin und Brandenburg bringen eine rundfunkpolitisch gute Idee in die Welt. Das EU-Gesetz DSA ist jetzt ziemlich gültig. Die Debatte um Hubert Aiwanger und die Art, wie die "SZ" über ihn berichtet, geht gründlich weiter. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Der DSA ist da

Haben Sie's schon bemerkt? Seit vorigem Freitag sind Europäische Werte in der digitalen Welt! Wie Ursula von der Leyen twitterte:

"We’re bringing our European values into the digital world./ With strict rules on transparency and accountability, our Digital Services Act aims to protect our children, societies and democracies./ As of today, very large online platforms must apply the new law."

Seit 25. August gilt der Digital Services Act (DSA), der auf Deutsch vielleicht auch eher als Digitale-Dienste-Gesetz bekannt werden wird. Richtig großes Echo in den klassischen deutschen Medien gab es nicht, vermutlich einfach, weil weder ein Bundesministerium noch eine Staatskanzlei einen Pressetermin angesetzt hatte. Zeitungen enthielten Berichte unter Agentur-Überschriften à la "Die EU nimmt Facebook und Co. an die Leine", die zumindest noch mal zeigten, dass zwischen die breite Mitte der deutschen Berichterstattung und die selbstbewusste Selbstdarstellung von von der Leyens EU-Kommission kein Blatt Papier passt.

Nur in den Nischenmedien gab es drüber hinaus gehende Einordnungen. Der "Das ändert sich heute auf großen Plattformen"-Überblick von netzpolitik.org macht deutlich, welche positiven Veränderungen aufmerksamen Nutzern des Internets idealerweise mittelfristig auffallen könnten. Und dass die bereits lange Anlaufzeit des DSA noch immer nicht abgeschlossen ist, sondern insbesondere in Deutschland weitere Klärungen nötig sind. Oh, und die "taz" hatte einen Kommentar. So bilanziert Svenja Bergt zwischen:

"Ist die Tech-Branche kollabiert angesichts der neuen Regeln, die Gegenstand von heftigem Lobbyismus waren? Nein, ist sie nicht. Was leider auch nicht passiert ist: dass sämtliche Anbieter alle Regeln umgesetzt haben. Dass Nut­ze­r:in­nen nun genau verstehen, warum, wie und nach welchen Kriterien auf einer Onlineplattform Inhalte moderiert werden. Dass Plattformen kein wirtschaftliches Interesse mehr daran haben, polarisierende Inhalte besonders zu pushen. Dass geklärt ist, welche Behörde in Deutschland die Einhaltung der neuen Regeln überwacht ..."

Ob Ursula von der Leyens Kommission überhaupt willens und in der Lage ist, ihre gewiss schönen angeblichen Werte sinnvoll und robust gegenüber Plattform-Konzernen zu vertreten, die ihren Hauptsitz so gut wie alle nicht in Europa haben – das ist die Frage, die sich seit wenigen Tagen akut stellt.

Beispielhaftes neues Rundfunkanstalten-Gesetz?

Berlin und Potsdam geben ein Beispiel, das aus so gut wie jeder Perspektive positiv betrachtet werden kann – gab es das schon mal, seit Friedrich der Große den Anbau der Kartoffel angeordnet hatte?

Jetzt jedenfalls, vielleicht! Der neue Staatsvertrag für den RBB soll Gehaltsobergrenzen für die Intendanten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten setzen ("Tagesspiegel"). Das wäre mal ein Paukenschlag aus den kleinen Bundesländern, der auf andere Bundesländer abfärben dürfte und hohen symbolischen Wert besäße, aber nicht nur diesen. Schon weil es in Deutschland ja ziemlich viele öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten gibt, und in all diesen ausdifferenzierte Management-Ebenen, deren Gehälter sich zu denen in der Intendanz verhalten. Plastisch machen das die schon bekannten Zahlen: Die gerade noch amtierende Intendantin Katrin Vernau verdient mit 295.000 Euro im Jahr bereits weniger als ihre fernseh-prominente Vorgängerin Schlesinger verdiente (nämlich "rund 303.000 Euro plus Bonuszahlungen", wirft der rbb24.de-Artikel zum Thema ein), und das Gehalt ihrer in Kürze antretenden Nachfolgerin Ulrike Demmer soll nurmehr "zwischen 180.000 und 230.000 Euro" liegen, wie es nun wieder im "Tagesspiegel" heißt.

Wobei das künftige RBB-Intendanten-Spitzengehalt "'äquivalent zur Besoldungsgruppe B11' ... einem Grundgehalt von rund 180.000 Euro" entsprechen soll. Schwanken die Zahlen nicht um rund 50.000 Euro, die für viele Menschen ja auch keinen Pappenstiel darstellen? Ja, findet Claudia Tieschky, die auf der "SZ"-Medienseite unter der Überschrift "Warum der Neuanfang am Geld scheitern könnte" am tiefsten in die Materie einsteigt. Was die Landesregierungen Berlins und Brandenburgs beschließen wollen, wird erst 2024 gültig werden, wohingegen die RBB-Gremien dummerweise sehr kurzfristig noch einen Vertrag mit der längst gewählten neuen Intendantin Demmer schließen müssen.

Auch sonst setzt der – wie gesagt: noch nicht beschlossene – neue Staatsvertrag auf wohlklingende Textbausteine. Einerseits "sollen die beiden Gremien, Verwaltungs- wie Rundfunkrat, deutlich professionalisiert werden" ("Tagesspiegel") Andererseits werden sie zugleich vergrößert:

"Der Rundfunkrat des RBB bekommt drei neue zusätzliche Mitglieder, einmal für Menschen mit Behinderungen, zweitens LSBTTIQ*, das dritte Mitglied abwechselnd von Berlin und Brandenburg benannt. Von den beiden Landesparlamenten gewählte Parteienvertreter bleiben im Rat, also auch beispielsweise SPD-Fraktionschef Raed Saleh."

Gewiss geht das zusammen, Vergrößerung und Professionalisierung. "Es soll regelmäßige Schulungen geben", heißt's bei rbb24.de. Doch wie solche Schulungen dann aussehen, wer ihre Veranstalter auswählt und wie diese bezahlt werden, das muss und wird zweifellos ebenfalls Diskussionen auslösen. Viel Anlass, den Landesregierungen Berlins und Brandenburgs großes medienpolitisches Vertrauen zu schenken, besteht sowieso nicht. Schon weil sie für den RBB in all seinen bisherigen Zuständen ja auch verantwortlich waren und sind. Aber ein kleiner Paukenschlag mit positiver Breitenwirkung könnte ihnen doch gelungen sein.

Die Aiwanger- und "SZ"-Debatte geht weiter

Eine große Medienmedien-Debatte lief gerade an (Altpapier gestern): Da geht es einerseits um die schweren, breit zitierten Vorwürfe der "Süddeutschen" gegen den bayerischen Freie Wähler-Chef Hubert Aiwanger, andererseits um Vorwürfe, die vor allem Stefan Niggemeier in seinem gestern hier schon empfohlenen uebermedien.de-Text "Die SZ macht vor, wie man nicht über einen Fall wie Aiwanger berichten sollte" der "SZ" machte.

Die Debatte geht so umfangreich wie kleinteilig weiter. Einerseits natürlich, wie gewiss geplant, besonders umfangreich in der "SZ" selbst. "Wer Pamphlete bei sich trug, in denen die ermordeten Juden verhöhnt werden, kann nicht Vizeministerpräsident bleiben", schreibt Chefredakteur Wolfgang Krach heute auf der Meinungsseite. Dieser Kommentar enthält Details, die auch Niggemeier teilweise überzeugen, nachdem er am gestrigen Montag im Deutschlandfunk den "SZ"-Umgang mit Aiwangers Aussagen noch "ziemlich schwierig" fand.

Einzelne Stimmen von anderswo verteidigen die "SZ". "Man kann Niggemeiers Perspektive als Stilkritik verstehen", versucht Mohamed Amjahid in der "taz", sie ein wenig zu entkräften. Bisschen überzeugender: "Warum Hubert Aiwanger kein Opfer ist" bei "Telepolis", wobei Claudia Wangerin wohl vor allem einen Gegenakzent zu ausführlicher "SZ"-Kritik ebd. setzen wollte. Das "SZ"-Stück sei "ein Beispiel für die derzeit ausufernde Verdachtsberichterstattung, die sich ihrer eigenen Grundlagen nicht sicher ist", schrieb Timo Rieg da, und brachte "ein Qualitätskriterium ins Spiel, das sehr spröde 'Maßstabsgerechtigkeit' heißt und von vielen Journalisten als 'Whataboutism' zurückgewiesen wird."

Klar, dass die "NZZ" die "SZ" scharf kritisiert (u.v.a.: "publizistischer Offenbarungseid"). Lässig, dass die "FAZ" vorn im Feuilleton sie bloß lässig kritisiert. Unter der Überschrift "Der Wille zum Kitsch" unterstellt Claudius Seidl, ähnlich wie Niggemeier, außer diesem noch den Willen, "ein Drama, eine Kurzgeschichte, ein Werk der Literatur" schreiben zu wollen. Im erwähnten uebermedien.de-Text schrieb Niggemeier übrigens auch: "Viel mehr als zum Beispiel der Politikteil der FAZ setzt die 'Süddeutsche' (auch jenseits der Kommentare) auf eine wertende Art der Berichterstattung".

Eines der großen und weiterwachsenden Probleme des deutschen Journalismus besteht darin, dass mitten in Berichten ausufernd – und gerne dem Megatrend Emotionalisierung folgend – kommentiert wird. Das verhält sich oft im öffentlich-rechtlichen Rundfunk so, in dessen Nachrichten- und Magazinbeiträgen der allwissende Offkommentar selten schweigt (und in deren "Tagesthemen" immer positiv auffällt, wenn der "Meinungs"-Kommentar mal nicht bloß den vorherigen Filmbeitrag referiert). Das verhält sich ebenfalls in vielen Pressemedien so, deren Artikel oft länger geraten als sie in der großen Zeit des gedruckten Journalismus geraten wären, weil ja das Papier gefüllt werden muss (und es an Anzeigen leider mangelt).

Wobei zum Gesamtbild gehört, dass die reichweitenstarken Öffentlich-Rechtlichen die differenzierte und, wie immer man zu den Details steht, sinnvolle Medienkritik an der "SZ" kaum bis gar nicht thematisieren, dafür aber jede Menge Stellungnahmen aus der Politik. "Auch Bundeskanzler Scholz fordert Aufklärung", heißt's etwa im tagesschau.de-Überblick. (Fordert Scholz nicht überall Aufklärung, außer vielleicht im Hamburger Cum-ex-Skandal?). Im "Tagesthemen"-Bericht (hier, ab Min 18.31) sagt auch die Spitzenkandidatin der bayerischen Grünen vor ihrem Wahlplakat für die bevorstehende Landtagswahl das, was eigentlich alle sagen. Andererseits, kein Wunder: Stimmen aus den Regierungen in aller Breite zu zitieren, und dann auch von der Opposition, die nach der nächsten Wahl mitregieren könnte, zählt zu den großen Stärken der Öffentlich-Rechtlichen. Und zu den besten Rezepten, ihre zukünftige Finanzierung zu sichern.


Altpapierkorb (wichtiges Karlsruher Urteil, umstrittenes Mindener Urteil, 334 digitalpolitische Vorhaben, Kulturgut Computerspiele, Klassik in Gefahr?)

+++ Das Karlsruher Landgericht hat "letztinstanzlich entschieden, dass die Hausdurchsuchungen bei Radio Dreyeckland rechtswidrig waren", meldet netzpolitik.org. Anlass der absurden Aktion war das "Setzen eines Links auf das Archiv der verbotenen Plattform linksunten.indymedia.org" gewesen. Zuletzt in diesem Altpapier ging's darum. +++

+++ "Presse ist nun fast jeder", klagt die "FAZ"-Medienseite, da das Verwaltungsgericht Minden urteilte, "es reiche für Pressetätigkeit aus, einen Youtube-Kanal zu haben". Diese Sache geht noch vors Oberverwaltungsgericht. +++ Außerdem beklagt ebd. Fabian Payr, ein Initiator des Aufrufs linguistik-vs-gendern.de, dass Gendern-Anhänger wie Sascha Lobo "den Debattengegner auf persönlicher Ebene anzugreifen und ins moralische Zwielicht zu stellen" begännen. +++

+++ Echt, die Ampel-Regierung hat schon elf Prozent ihrer 334 digitalpolitischen Vorhaben verwirklicht? Diese Meldung geht gerade herum (z.B. heise.de) und rührt vom Digitalverband Bitkom her, der dazu diesen "Monitor Digitalpolitik" mit anschaulicher Kuchengrafik online stellte. +++

+++ Auf der  Gamescom in Köln war "die gesamte Produktpalette an tragbaren Campingstühlen zu bewundern", berichtet Markus Beckedahl bei netzpolitik.org von der Gamescom. Computerspiele gab es aber auch, und die seien nun "endlich als Kulturgut anerkannt". +++ Wohingegen die Ansicht, dass klassische Musik ein im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wichtiges Kulturgut ist, schrumpft wie eine "schmelzende Eisscholle". Das beklagte Harald Eggebrecht in der "SZ" anlässlich der mittelfristigen Ankündigungen zum ARD-Musikwettbewerb (bei dem es sich nicht um den ESC handelt). +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch Annika Schneider.

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