Das Altpapier am 15. Juni 2023: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 15. Juni 2023 Die Bedeutung von Unterhaltung

15. Juni 2023, 10:16 Uhr

In Deutschland versucht jeder Zehnte, Nachrichtenkonsum zu vermeiden. Bei ARD und ZDF sind politische Themen fast fünfmal so viel vertreten wie im Durchschnitt bei der privaten Konkurrenz. Bei KKR knallen seit Dienstag die Korken. Heute kommentiert René Martens die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Nachrichtenvermeidung und Tiktok-Boom

Seit 2012 legt das Reuters Institute for the Study of Journalism jährlich den "Digital News Report" vor. Wer noch einmal nachlesen will, wie der Report von 2022 ausgefallen ist, kann das in einem vor fast genau einem Jahr erschienenem Altpapier von Nora Frerichmann tun.

Jetzt liegt der neue Report vor. Der "Spiegel" stellt dabei Folgendes heraus:

"Nur noch 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzenden in Deutschland geben an, äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert zu sein. Im Vorjahr waren es noch 57 Prozent."

Und:

"Immer mehr Menschen in Deutschland haben immer weniger Interesse an Nachrichten. Jeder Zehnte versucht sogar, den Nachrichtenkonsum aktiv zu vermeiden."

Unter den Nachrichtenvermeidern weltweit meiden übrigens, wie das Harvardsche "Nieman Lab" berichtet, 75 Prozent der Finnen News zum Krieg in der Ukraine. In Tschechien tun dies 60, in Deutschland 52 Prozent.

Die "Süddeutsche" betont unter anderem:

"Unter den sozialen Medien bleibt zwar auch in diesem Jahr Facebook die meistgenutzte Plattform, ihr Einfluss auf den Journalismus nimmt jedoch ab. Dem Trend der vergangenen Jahre folgend setzen sich stattdessen audiovisuelle Inhalte auf Youtube und Tiktok weiter durch."

Wichtig natürlich auch die Kritik, die die Nobelpreisträgerin Maria Ressa formuliert. Der "Guardian" hat mit ihr gesprochen:

"Ressa said the report (…) fails to take into account the impact of disinformation campaigns, particularly in countries where governments use their powers to attack free media. Nor does it reflect bias in tech platforms that have huge control over news distribution or the impact of disinformation campaigns"

Die "Heizhammer"-Kampagne hat gewirkt

Welche medialen Aspekte lassen sich rund um die am Dienstag präsentierte Entscheidung der Ampelkoalition zum Gebäudeenergiegesetz (GEG) herausgreifen?

"Mit dem Versuch, ihre Niederlage beim GEG öffentlich als Erfolg zu verkaufen, tun die Grünen ihrer politischen Glaubwürdigkeit langfristig keinen Gefallen, fürchte ich",

kommentiert Malte Kreutzfeldt, der Energie- und Klimaexperte von Table Media. Dass sie den Versuch überhaupt unternehmen können, liegt aber auch an dem Unwillen vieler Medien, die "Einigung" als das zu beschreiben, was sie ist: ein Kantersieg der FDP bzw. der "Fossilisten" (um ein meiner Wahrnehmung nach von Albrecht von Lucke geschöpftes Wort aufzugreifen).

Christian Schwägerl blickt bei riffreporter.de noch einmal zurück auf den

"massiven Widerstand, den vor allem die Medien der Springer-Gruppe mit Vokabeln wie 'Heizhammer' angefacht haben. Springer gehört zu knapp 48 Prozent der US-Investmentfirma KKR, die zugleich einer der wichtigsten Geldgeber der US-amerikanischen Öl- und Gasindustrie ist und selbst im Geschäft mit dem Transport von Flüssig-Erdgas aktiv ist (…) Die FDP scherte unter dem Eindruck der Medienkampagne aus einer bereits gefundenen Regierungslinie aus. Die Freidemokraten blieben mit ihrer Ablehnung über Wochen hinweg so lange hart, bis sie nun einen Großteil ihrer Forderungen durchsetzen konnten".

Die unpolitischen Privaten

Die diesjährige Republica, die in der vergangenen Woche stattfand (Altpapier) wirkt noch nach, weil weiterhin Videos von Podien und Vorträgen veröffentlicht werden - beziehungsweise ergänzendes Material dazu. Von Leonhard Dobusch zum Beispiel "Schlaglichter auf drei Fragen, die in der Debatte zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer wieder gestellt werden" und in seinem Vortrag Thema waren. Dessen Titel lautete wie der seiner Kolumne bei netzpolitik.org ("Neues aus dem Fernsehrat").

Die erwähnten "Schlaglichter" hat er nun in der 99. Ausgabe der Kolumne - Kommt in der nächsten, also der zum Jubiläum, eigentlich was Besonderes? - veröffentlicht. Darin betont er unter anderem:

"Anhand von systematischen Programmanalysen lässt sich (…) sehr gut belegen, dass (…) ARD und ZDF im Durchschnitt mehr als doppelt so viel journalistische Information (liefern) wie die großen Privatsender RTL, Sat.1 und Pro7. Noch größer ist der Unterschied bei den Themen, die in diesen journalistischen Programmsegmenten behandelt werden. Denn hier geht es bei den Privaten dann primär um 'Human Touch: Zerstreuungs- und Angstthemen'. Politische Themen hingegen sind bei ARD und ZDF fast fünfmal so viel vertreten wie im Durchschnitt bei der privaten Konkurrenz. Die Öffentlich-Rechtlichen machen also nicht nur doppelt so viel Journalismus wie die Privaten, sie machen auch inhaltlich anderen Journalismus."

Zur Frage, "warum sich öffentlich-rechtliche Medien nicht einfach auf genau diese Stärken im Bereich (politischer) Journalismus und Kultur konzentrieren" - gar nicht mal so wenige fachfremde Populisten und Twitter-Publizisten fordern das ja -, lautet Dobuschs Position folgendermaßen:

"Zunächst einmal bringen Unterhaltungsangebote sowohl linear als auch online Reichweite, die auf Informations- und Bildungsangebote einzahlt. Außerdem werden zentrale gesellschaftspolitische Fragen auch – wenn nicht sogar primär – in und über fiktionale Unterhaltungsformate verhandelt, was wiederum von demokratischer Relevanz ist.

Hinzukommen aber auch handfeste ökonomische Konsequenzen für die Medien- und Kulturindustrie in Deutschland und Europa. Der Anteil an Eigen-, Auftrags- und Koproduktionen an fiktionaler Unterhaltung – von Krimi-Serien bis Fernsehfilmen – beträgt bei ARD und ZDF knapp 80 Prozent. Bei den größten Privaten sind es gerade einmal 8 Prozent, also ziemlich genau ein Zehntel (…) Im Ergebnis profitieren deshalb auch private Medienanbieter von einem medien- und kulturindustriellen Ökosystem, das maßgeblich durch kontinuierliche und teilweise auch risikoreichere öffentlich-rechtlichen Nachfrage stabilisiert und weiterentwickelt wird."

Dass man mit Unterhaltung ein Publikum bindet, das sonst auf viele öffentlich-rechtliche "Informations- und Bildungsangebote" vielleicht gar nicht stieße, ist der entscheidende Grund dafür, weshalb ich stets dafür argumentiere, dass der ÖRR weiterhin Unterhaltung produzieren soll. Mir fehlt in den darauffolgenden Sätzen Dobuschs dann allerdings die Trennschärfe. Den Begriff "fiktionale Unterhaltungsformate" halte ich für untauglich. Es gibt das Genre Fiktion, und es gibt das Genre Unterhaltung, und das sind zwei unterschiedliche Genres. Beziehungsweise: Der "Polizeiruf 110" gehört zu einem anderen Genre als "Frag doch mal die Maus".

Die Kriminalisierung von Journalismus und ihre emotionalen Folgen

Christian Rath analysiert für die taz die Stuttgarter "Skandalentscheidung" (Altpapier von Mittwoch) in Sachen Radio Dreyeckland (RDL) - und blickt auch noch einmal zurück:

"(Redakteur Fabian) Kienert hatte auf der Homepage des Freiburger Alternativsenders (…) im Juli 2022 einen Artikel veröffentlicht, in dem es um die seit 2017 verbotene linksradikale Plattform linksunten.indymedia ging. Der Text endet mit dem lapidaren Satz: 'Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite.' Dabei war die Archivseite auch verlinkt. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe erhob wegen dieses Links Anklage gegen Kienert."

Nach Ansicht des OLG Stuttgart sei der Artikel "nicht von der Pressefreiheit gedeckt, weil es Kienert dabei nicht um Information, sondern um Propaganda für die verbotene Vereinigung gehe. Der Artikel wirke als Ermunterung, sich mit der Vereinigung zu solidarisieren", fasst Rath die Position der Richter zusammen. Die" Betriebsgruppe" des Senders äußert sich auf rdl.de zu dem Skandal folgendermaßen:

"Unsere journalistische Arbeit leidet unter dem Angriff der Staatsanwaltschaft. Wir müssen uns seit Januar dauernd mit fadenscheinigen Beschlüssen von Staatsanwälten und Gerichten auseinandersetzen, dabei haben wir als selbstorganisiertes Projekt schon so genug zu tun. Die Kriminalisierung unseres lizensierten freien Radiosenders ist nicht nur politisch unhaltbar, sondern auch eine emotionale Bürde."

Das ist aber ja genau der Zweck der staatlichen Verfolgung, die emotionale Belastung soll einschüchternde Wirkung haben.


Altpapierkorb (RBB vor der Wahl, Schlesingers Präsente, Angriffe auf Wettermoderatoren, Ordnungshaft nach Interview bei "Panorama 3", Gorkow zu Rammstein, "Country Queen", "History of Press Graphics")

+++ Gibt’s noch Informationsbedarf vor der morgigen Wahl fürs höchste Amt beim RBB? Die "Süddeutsche" rekapituliert Details des Rückzugs der ursprünglichen Mitbewerberin Juliane Leopold (Altpapier von Mittwoch) und schreibt darüber hinaus u.a.: "Nicht bekannt sind nach wie vor die genauen Umstände, unter denen Jan Weyrauch von der Findungskommission in der vorigen Woche zunächst nicht und dann doch als Kandidat benannt worden ist."

+++ Ohne Wahlbezug: Die RBB-Sumpfgebietsrechercheurin Gabi Probst berichtet bei rbb24.de darüber, dass die frühere Intendantin Patricia Schlesinger "gern Geschenke machte, und zwar "auf Kosten des Senders". Sie habe geradezu ein "System der Geschenke“ entwickelt. Mein Lieblingssatz aus dem Text: "Der ehemalige NDR-Intendant, Lutz Marmor, erinnert sich nicht mehr an den 'Geburtstagswein', der beim rbb abgerechnet wurde." Andere Beschenkte, die Probst gefragt hat, erinnern sich besser.

+++ Patrick Gensing (taz) hat Toralf Staud von klimafakten.de unter anderem gefragt, warum "Wettermoderator*innen verstärkt angefeindet werden", insbesondere in den sozialen Medien. Staud sagt: "Wir sehen häufiger die Verstärkung von Extremwettern oder das steigende Risiko von Waldbränden in spektakulären Bildern – das müssen Wetter­journalist*innen thematisieren und werden dann angegriffen von Menschen, die die Realität nicht wahrhaben wollen. Zudem genießen die Presenter von Wettersendungen eine hohe Popularität und Glaubwürdigkeit beim Publikum, wie Studien zeigen."

+++ Die taz Nord berichtet, dass heute im Gefängnis Hamburg-Billwerder eine "Mittfünfzigerin", die in dem Text Frau W. heißt, eine fünftägige Ordnungshaftstrafe antritt, die daraus resultiert, dass sie dem NDR-Magazin "Panorama 3" ein Interview gegeben hat. "In dem Beitrag wurden Sätze aus dem Off gesprochen, die Frau W. selber nicht hätte sagen dürfen", weil sie damit gegen eine Unterlassung verstoßen hätte. Nun hat sie die Sätze ja auch gar nicht gesagt, aber ein Gericht habe, wie der NDR argumentiert, den "Sprechertext" Frau W. zugeordnet. Der Beitrag lief im Januar 2022 und bekam im November 2022 einen Preis.

+++ Wie steht Alexander Gorkow (SZ, KiWi) heute zu seinem einstigen Wirken als Rammstein-Fanboy und Till-Lindemann-Gedichtband-Herausgaber? Lisa Kräher ("Übermedien") hat ihn gefragt.

+++ "Abwechslungsreich, aber manchmal auch etwas seifig und holzschnittartig" - so urteilt der "Tagesspiegel" über "Country Queen", die ab heute in der Arte-Mediathek zu sehende Produktion, in der "erstmals das ostafrikanische Kenia in der internationalen Serien-Landschaft in Erscheinung" trete, "und zwar nicht nur als malerische Filmkulisse, sondern als Handlungsort mit breitem Themenfeld".

+++ Alexander Roobs Buch "History of Press Graphics. 1819–1921" bespricht Oliver Stenzel für "Kontext": "Bemerkenswert sind (…) die vielen aufgezeigten Querverbindungen und Wechselwirkungen zwischen Grafik und anderen künstlerischen Genres. Und nicht selten gab dabei die von der Kunstgeschichte oft stiefmütterlich behandelte Pressegrafik die Impulse. Der von Zeitdruck geprägte Stil der frühen Bildjournalisten etwa beeinflusste die Künstler des Impressionismus, (…) und manche Illustrationen der jungen Boulevardpresse kündigen Ende des 19. Jahrhunderts schon die Phantasmen des Surrealismus an."

Das Altpapier am Freitag schreibt Ralf Heimann.

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