Kolumne: Das Altpapier am 14. September 2023 Von Worten und Torten
Hauptinhalt
14. September 2023, 12:01 Uhr
Constantin Schreiber will sich nicht mehr zum Islam äußern. Ist das eine Niederlage für die Meinungsfreiheit? Es ist wohl doch etwas komplizierter. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.
Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.
"Jetzt weiß ich, wo du wohnst!"
Der "Tagesschau"-Sprecher Constantin Schreiber hat in einem Interview mit Giovanni di Lorenzo für die "Zeit" gesagt, er habe schon vor längerer Zeit entschieden, "nichts mehr zum Thema Islam" zu machen. Wörtlich sagt er:
"Ich werde mich zu allem, was mit dem Islam auch nur im Entferntesten zu tun hat, nicht mehr äußern. Ich werde keine Bücher dazu schreiben, ich lehne Talkshow-Anfragen ab, ich mache das nicht mehr. Da mögen jetzt manche feiern und vielleicht die Schampusflaschen aufmachen. Ob das ein Gewinn ist für die Meinungsfreiheit und für den Journalismus, ist eine andere Frage."
Die Entscheidung begründet Schreiber mit Angriffen, "Diffamierungen", kurz: einer völlig entgleisten Debatte. Er erzählt unter anderem von zwei "Situationen" aus den vergangenen Monaten, die zu der Entscheidung geführt hätten. Einmal habe ihn spät abends ein Taxifahrer nach Hause gebracht. Am Ende der Fahrt, als Schreiber schon bezahlt hatte und aussteigen wollte, habe der Mann gesagt: "Jetzt weiß ich, wo du wohnst!"
Das zweite Erlebnis war eine Drohung. Schreiber wollte ein Seminar zum Thema "Islam und Medien" halten. Das hatte er vorher schon zwei Mal getan. Beim dritten Mal habe es Indizien gegeben, dass die Veranstaltung "gesprengt" werden solle.
Den Anlass für das Interview wiederum gab ein Vorfall an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Dort war Schreiber mit einer Torte beworfen worden.
Schreiber sagt:
"(…) ich habe nicht damit gerechnet, dass ich irgendwann in Diskussionen hineingezogen werde, die so toxisch sind, dass sie dann auch ins wirkliche Leben schwappen, so wie die Torte."
Ist er wirklich "hineingezogen" worden? Der Grund für den Angriff war offenbar unter anderem, dass Constantin Schreiber vor zwei Jahren einen Roman veröffentlicht hatte, eine "Dystopie", wie er selbst sagte, ein "reaktionäres Manifest", wie Stefan Weidner in der Süddeutschen schrieb (Altpapier). In dem Buch geht es um eine Muslima, die kurz vor der Wahl zur Bundeskanzlerin steht. Schreiber sagt im "Zeit"-Interview, aus dem Roman sei der Vorwurf geworden: "Das ist ein Rechter, der ist rechtsextrem, der ist Islamhasser." Das aber weist er von sich.
Man muss sich das jetzt wahrscheinlich so vorstellen: Schreiber zieht sich mit dem Gefühl aus der Debatte zurück, seine kritische Berichterstattung und seine Kritik seien mit Angriffen auf seine Person torpediert worden. Aber es ging dabei nicht nur um Journalismus.
In dem Interview geht es an einer Stelle um ein interessantes Detail. Dort heißt es, vor der Veranstaltung seien Flugblätter verteilt worden, auf denen vom nationalsozialistischen Propagandafilm "Jud süß" die Rede gewesen sei. Den Zusammenhang zwischen dem Film und Schreibers Buch hatte der NDR-Journalist und Filmemacher Stefan Buchen im Februar 2022 in einer sehr ausführlichen Besprechung des Buchs für das "Katapult"-Magazin hergestellt. Buchen sieht Parallelen.
Verkürzungen, Zuspitzungen, Vereinfachungen
NZZ-Deutschland-Chef Marc Felix Serrao hält den Vergleich für üble Nachrede. In einem Tweet schreibt er:
"Die haarsträubende Argumentation wird nur durch die boshafte Absicht unterboten. Herzlichen Glückwunsch, @Katapultmagazin: So geht Rufmord. So hetzt man Leute auf."
Stefan Buchen schreibt in seinem Text allerdings auch:
"Darauf, dass Constantin Schreiber sich den Roman von 1941 oder seine Vorläufer bewusst zum Vorbild genommen haben könnte, gibt es keinen Hinweis. Es ist äußerst unwahrscheinlich. Die aufgezeigten Ähnlichkeiten und Kontinuitäten sind ein unbeabsichtigter Nebeneffekt. Sie sind der maximale literarische Kollateralschaden."
Das Problem in solchen Debatten ist regelmäßig: Die Details sind kompliziert, man kann Texte oder Textstellen manchmal auf unterschiedliche Weise interpretieren. Schreibers Roman wurde auch in Medien, die nicht unbedingt für ihre rechte Haltung bekannt sind, zum Beispiel im "Tagesspiegel", wohlwollend besprochen. Es kommt in so einem Fall oft auch darauf an, was man sehen möchte und welche Absichten man unterstellt.
Mit Verkürzungen, Zuspitzungen und Vereinfachungen werden die Botschaften leichter transportierbar, aber sie sind dann auch leichter misszuverstehen. Eine Differenzierung ist so oft kaum noch möglich. Das kann Gefühle verstärken. So verstärken sich Feindbilder, die in der Regel so gut wie gar keine Differenzierung enthalten. Und am Ende fliegt eine Torte (in einem der besseren Fälle).
Man kann sich das grundlegende Problem überzeichnet auch in einem Fernsehkrimi vorstellen, der sich aus vielen Klischees zusammensetzt. Der Täter ist am Ende, wie man es vom rechten Rand aus gleich in den ersten Minuten vermutet hatte, der Ausländer. Möglicherweise gibt es für den Fall sogar eine reale Vorlage – etwas, das sich genau so wie in dem Film zugetragen hat. Darauf berufen sich auch die Filmemacher. Sie seien keine Rechten, sie hätten doch nur die Realität zeigen wollen. Von links kommt aber genau dieser Vorwurf: Das Ganze sei ein rassistisches Machwerk, während man von rechts hört: Man dürfe nicht mal mehr aussprechen, wie es doch wirklich sei. Der Beweis liege ja vor.
Eine Faustregel und Murphys Law
Entscheidend dabei ist die Frage: Warum erzählt man eine Geschichte? Und hier kommt es schnell zu Missverständnissen. Der Journalismus hat die Aufgabe, die Wirklichkeit so zu zeigen, wie sie ist. Die Kunst hat keine Aufgabe. Das ist ihre zentrale Eigenschaft. Daher ist es legitim, eine Dystopie zu entwerfen, die aufzeigt, was im schlimmsten Fall passiert, wenn alle Beteiligten sich vollkommen klischeehaft verhalten. Aber das hat einen Preis. Ein Roman ist immer auch eine Verallgemeinerung. Man muss damit rechnen, dass eine Geschichte auf unterschiedliche Weise verstanden wird.
Von der einen Seite aus sieht man in einem klischeehaften Werk möglicherweise eine Verallgemeinerung, die so nicht stimmt, und die zu einer Stigmatisierung von Menschen führt, die mit der Sache gar nichts zu tun haben. Von der anderen Seite bestätigt das Werk unter Umständen eine Vermutung, ein Vorurteil.
Ein Buch kann absichtslos als "Was wäre, wenn…"-Szenario geschrieben worden sein, als Gedankenspiel, als Versuch, Dinge zu Ende zu denken, und am Ende kann etwas stehen, das als "ein politisches Hasspamphlet" verstanden wird, "das Angst vor Migranten schürt", wie Stefan Buchen in der taz schrieb. Das Buch kann auch geschrieben worden sein, um genau so zu wirken.
In dem "Zeit"-Interview sagt Giovanni di Lorenzo:
"Durch dieses Buch waberte ein Gefühl – ob gewollt oder nicht gewollt – der Bedrohung, das war kein besonders schönes Szenario."
Das entscheidende Wort ist hier "Gefühl". In einem Sachbuch geht es vorwiegend um Informationen, in einem Roman eben auch entscheidend um das Gefühl. Die Faustregel kennen wir schon: Wo Gefühle eine Rolle spielen, wird es schnell unkalkulierbar.
Wahrscheinlich spielt auch Murphys Law hier eine wichtige Rolle. In dem Fall würde es lauten: Wenn ein Buch auch als rechtspopulistisches Pamphlet verstanden werden kann, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem als rechtspopulistisches Pamphlet verstanden werden.
Im Idealfall führt es lediglich zu einer Debatte, und in der Debatte, die dem Buch folgte, kann man durchaus etwas Gutes erkennen. Die härteste Kritik kam nicht von linken Medien oder rechten, sie kam von einem Kollegen aus einer ARD-Anstalt. Im nicht ganz so idealen aber wahrscheinlich Fall gerät man in einen Sturm von Wut, Hass und anderen Gefühlen.
An einer Stelle fragt Giovanni di Lorenzo, ob er, Schreiber, seine Geschichte als Metapher dafür sehe, was der Journalismus im Moment nicht dürfe. Schreiber antwortet:
"Nicht dafür, was er nicht darf, sondern dafür, was er nicht schafft."
Vielleicht liegt hier ein Irrtum. Vielleicht ist das Problem gerade, dass es hier nicht nur um Journalismus geht. Vielleicht spielt hier vor allem die Einschätzung eine Rolle, dass ein hoch emotionalisierendes Kunstwerk ein sinnvoller Beitrag sein könnte zu einer sehr, sehr sensiblen Debatte.
Altpapierkorb (Jüdische Allgemeine, Libyen, Sommerinterviews, Schlichtung, Ronen Steinke, Berliner Clubs, Lamby-Doku, Verkehrsministerium)
+++ Philipp Peyman Engel erklärt im Gespräch mit Sebastian Wellendorf für das Deutschlandfunk-Medienmagazin "@mediasres", warum es die "Jüdische Allgemeine" braucht, und was er mit der Zeitung als neuer Chefredakteur vorhat. Engel: "Wir wollen jüdisches Leben sichtbar machen, wir wollen jüdisches Leben in Deutschland und in aller Welt sichtbar machen. Und ja, durch den Generationswechsel ist es jetzt vielleicht auch ein Stück weit meine Aufgabe, dieses jüdische Alltagsleben und insbesondere nicht nur die Gefahren jüdischen Lebens sichtbarer zu machen und deutlicher zu machen." Dass seine Zeitung kritischer über Israel berichten kann als deutsche Medien, denkt Engel nicht. Er sagt: "Schreiben was ist, das ist für uns eine Selbstverständlichkeit."
+++ Für "@mediasres" hat Sebastian Wellendorf auch mit dem Erfurter Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez über das Unwetter in Libyen gesprochen, das am Sonntag Teile des Landes zerstörte, es in Deutschland aber erst am Montag in die Nachrichten schaffte und dann am Dienstagabend in einen ARD-Brennpunkt. Hafez sieht bei den westlichen Medien einen blinden Fleck, der sich nur durch strukturelle Änderungen beseitigen ließe. "Wir müssen uns öffnen für den Rest der Welt, das heißt nicht nur Personal hinschicken, sondern sich auch interessieren, Neugier erzeugen und beides hängt meines Erachtens zusammen", sagt Hafez. Es gehe nicht nur Flüchtlinge, die im Mittelmeer sterben und die durch Libyen migrieren, sondern dahinter stünden gesellschaftliche Prozesse, soziale Prozesse, kulturelle Prozesse, die man bei uns immer nur sehr selektiv wahrnehme.
+++ Hans Hütt hat sich die Sommerinterviews in ARD und ZDF angesehen und für die SZ-Medienseite eine schöne Stilkritik geschrieben.
+++ Das gescheiterte Schlichtungsverfahren im Streit um die SWR-Nachrichten-App "NewsZone" (Altpapier) ist Thema auf Helmut Hartungs Blog "Medienpolitik.net". In dem Streit geht es um die Frage, wie presseähnlich die App ist. Hartung schreibt, die Presseähnlichkeit sei ein Konfliktfeld, das die Länder beseitigen müssten. Hartung: "Um wieder in der Gesellschaft fest verankert zu sein, ein vertrauenswürdiges, kompetentes Medium für die Bevölkerung und ein berechenbarer, verlässlicher Partner für die privaten Medien zu sein, reichen solche Scheinangebote des ARD-Vorsitzenden nicht aus. Aus den sinkenden Akzeptanzwerten müssten doch die führenden Köpfe des Senderverbundes die Lehren gezogen haben, dass es nicht genügt, die Staatsverträge den Buchstaben gemäß umzusetzen und alles was nicht verboten ist, zu realisieren, sondern, dass es auch um den Geist und die Absicht von Vereinbarungen geht."
+++ Jochen Zenthöfer wirft auf der Medienseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Ronen Steinke von der Süddeutschen Zeitung vor, in der Zeitung und in einem Buch wichtige Details weggelassen zu haben, damit die These nicht wackelt. Die These ist: Die Justiz bestraft Arme hart und Reiche sanft. Steinke hat zu der Kritik Stellung genommen, verteidigt seine Darstellung an einigen Stellen, kündigt für die nächste Auflage aber auch Änderungen an.
+++ Johannes Voigt lobt in einer Rezension für die taz die vielen Perspektiven in der neuen ARD-Dokuserie "EXZESS" über die Berliner Clubszene, kritisiert aber die wenig kritische Darstellung. Voigt: "Bei so vielen auskunftswilligen Interview-partner*innen wären kritische Nachfragen leicht möglich gewesen. KitKat-Gründer Simon Thaur darf stattdessen ein Loblied auf seinen Club singen. Chance vertan."
+++ Nach ersten begeisterten Besprechungen von Stephan Lambys ARD-Dreiteiler "Ernstfall" (Altpapier) gibt es nun auch kritische Stimmen. Fatina Keilani hat sich die Doku für die Neue Zürcher Zeitung angesehen und findet: "Der Film inszeniert die Akteure in propagandistischer Art als Helden." Kritische Fragen stelle Lamby nicht. Keilani: "Wer anderthalb Jahre unter einem Stein verbracht hat, bekommt eine einseitige Zusammenfassung eines Ausschnitts des Geschehens. Bösgläubig könnte man 'Ernstfall' als Werbung sehen – in Bayern und Hessen nahen Landtagswahlen." Jörg Wimalasena schreibt in seiner Besprechung für die "Welt", Lamby sei zu nah dran. Wimalasena: "Es ist bezeichnend für den Stand des politischen Diskurses, dass Produzenten offenbar glauben, nur mit hollywoodartigen Inszenierungen und oberflächlichen Hinter-den-Kulissen-Szenen ein Publikum für politische Dokumentationen zu finden. Ernst nimmt man seine Zuschauer damit nicht." Dirk Peitz analysiert für "Zeit Online": "Womöglich zeigt sich das Grundproblem dieses Films, der am Ende so auf interessante Weise nicht gut ist, schon bei den ersten beiden Sätzen, ein Erzähler spricht sie aus dem Off: 'Es war einmal. Es war einmal eine neue Regierung mit guten Vorsätzen.'" Die Fallhöhe der Ausgangsthese habe für eine Langzeitdoku wohl nicht ausgereicht. "Also muss offenbar ein Märchen her, das nach Lambys Interpretation böse endet, gemessen an den vermeintlichen Selbstansprüchen der Beteiligten", schreibt Peitz.
+++ Das Bundesverkehrsministerium von Volker Wissing (FDP) verbreitet bei Twitter/X eine offensichtliche Falschmeldung, macht aber (Stand Donnerstag, 11 Uhr), keine Anstalten, diese zu korrigieren, berichtet Stefan Niggemeier für "Übermedien". In dem Tweet geht es darum, wie viele Autos junge Menschen im Alter von 18 und 24 in Deutschland im Durchschnitt haben. Das Ministerium hatte zunächst eine Grafik getwittert, die einen fragwürdigen Jubelkommentar und mehrere Fehler enthielt. Das Ministerium löschte den ursprünglichen Tweet und veröffentlichte einen neuen, der weniger Ausrufezeichen enthält, aber immer noch mehrere Fehler. Der gravierendste: Die Grafik zeigt, wie viele von tausend Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren im Durchschnitt ein Auto haben. Im vergangenen Jahr waren das laut der Grafik 188. Malte Kreutzfeldt rechnet vor: Bei etwa sechs Millionen Jugendlichen in diesem Alter in Deutschland wären das etwa 1,1 Millionen junge Autobesitzer. Das Ministerium hat die 188, aus welchem Grund auch immer, einfach mit tausend multipliziert.
Das Altpapier am Freitag schreibt Johanna Bernklau.