Das Altpapier am 14. November 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 14. November 2023 Zombies, die nur noch schnell auf "weiter" klicken

14. November 2023, 09:27 Uhr

Nur noch ein Vierteljahr, dann wird sich zeigen, was die EU-Digitalgesetze bewirken. Zum Thema öffentlich-rechtliches Internet muss sich die EU-Kommission demnächst auch wieder äußern. Der Bundesnachrichtendienst will keine Hintergrundgespräche mit Journalisten mehr führen. Und Europas inzwischen größter Zeitschriftenverlag baut ab. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was macht eigentlich der Digital Services Act?

Wie schrieb Andrej Reisin im gestern hier empfohlenen uebermedien.de-Beitrag "Warum die grauenhaften Bilder der Hamas-Massaker gezeigt werden müssen"?

"Die Propaganda, die ... auf komplett unjournalistischen YouTube- oder Tiktok-Kanälen – rund um die Uhr läuft, lässt sich auch nicht durch ein schönes Digitale-Medien-Gesetz aus Brüssel aufhalten."

Länger nix mehr gehört von diesen Brüsseler Gesetzen. Jetzt aber: "Kabinettsbefassung zu Digitale-Dienste-Gesetz 'zeitnah' angestrebt", meldet zumindest der epd. Anlass der Nachfrage war wohl, dass das am ehesten als DSA/ Digital Services Act bekannte Gesetz vor gut einem Jahr in Kraft trat. Wobei noch immer ein Vierteljährchen Frist bleibt, bis am 17. Februar 2024 das ganze Dings aber auch wirklich im föderalistischen Deutschland gelten wird.

Ob bis dahin hinter den Berliner Kulissen gründlich gearbeitet wird, damit die neue Koordinierungsstelle sinnvoll arbeiten kann, oder eher kräftig gerangelt zwischen all den Institutionen, die Einfluss verlieren werden – unklar. Die Fristen bestehen halt. Zugleich entwickeln sich die omnipräsenten und enorm dominanten Plattformen weiter. Das schildert mit anderem Fokus und schönem Pathos Ingo Dachwitz bei netzpolitik.org:

"Der Kapitalismus in seiner digitalen Form ... verwandelt unsere Eigenschaften in Daten. Er macht unser Leben zur Ware. Er verkauft unsere Aufmerksamkeit und will uns manipulieren. Er schaltet unser Denken aus, macht uns zu affektgesteuerten Zombies, die nur noch schnell auf 'weiter' klicken. Er macht uns abhängig von Likes und Notifications und endlosem Scrollen ...  Er befeuert Polarisierung, weil ihm nichts mehr Daten und mehr Aufmerksamkeit bringt, als Streit und rohe Emotionen",

Womit er nochmals auf seine im Sommer im Altpapier "Moms Who Shop Like Crazy" erwähnte Recherche über das Megatracking der Online-Werbeindustrie hinweist. Okay, da gibt es wenig Neues außer den in Echtzeit weiterwachsenden Datenbergen. Der netzpolitik.org-Artikel ist Teil der anlaufenden Spendenkampagne "Bullshit-Busters" (für die Dachwitz zu Karnevalsbeginn als Ghostbuster geht ...). Das ist eben eine andere Seite derselben Medaille, da netzpolitik.org gerade nicht auf kapitalistische Finanzierung durch Anzeigen setzt. Zu den Vorzügen des Portals gehört, dass es an seinen Themen dranbleibt und aktuell via gizmodo.com meldet, dass der Datenhändler Xandr (der zum Datenkraken Microsoft gehört und um den es in der erwähnten "...Shop like Crazy"-Recherche ging) weiterhin offenbar unbegrenzt persönliche Daten verkauft. Sogar für Daten von Angehörigen des US-amerikanischen (und verbündeter) Militärs gelte das, und auf Kundenseite auch für "Domains aus Asien". Das lässt sich im Zusammenhang der eskalierenden, von der Terrororganisation ausgehenden Gewalt im Nahen Osten verstehen. Und dürfte bedeuten, dass der Plattformkapitalismus selbst in den USA, die über die relativ stärksten Mittel zur Durchsetzung von Gesetzen im Internet verfügen, unkontrolliert weiterwächst ...

Und da also wollen schöne EU-Gesetze nächstes Jahr auch mitmischen ...

Neue Beschwerde in Brüssel eingetroffen

Medienangebote müssen sich finanzieren. Das ist im Internet schwierig. Auch deswegen hat der BDZV/ Bundesverband Digitalpublisher und Zeitungsverleger seine im September angekündigte Beihilfebeschwerde gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk inzwischen bei der EU-Kommission eingereicht [bzw. einen "Schriftsatz", bei dem es sich formell noch nicht um eine Beihilfebeschwerde handelt/ Ergänzung um 15.42 Uhr]

Helmut Hartung fasst den "69 Seiten umfassenden Schriftsatz" auf der "FAZ"-Medienseite (€) ausführlich zusammen.

Vor allem werfen die privatwirtschaftlichen Pressemedien den Sendern "nicht sendungsbezogene presseähnliche Berichterstattung" vor, also: "Texte, Texte, Texte" zu produzieren. Das widerspreche dem "sogenannten Beihilfekompromiss", der 2007 geschlossen wurde. Damals stritten der Privatsenderverband und die Öffentlich-Rechtlichen bereits um Ähnliches. Zum Kompromiss, den dann die EU und Deutschland schlossen, gehörten etwa die Dreistufentests für Telemedienangebote. Für nicht sehr regelmäßige Leser: "Telemedienangebot" ist ein medienbürokratisches Fremdwort für Internetangebote. "Dreistufentests" führen die Rundfunkräte durch und werden hier (schön illustriert!) von der ARD erklärt. Viele Gründe, diese Tests ernst zu nehmen, gibt es nicht, argumentiert der BDZV nicht zu Unrecht:

"So bestünden strukturelle Probleme in Bezug auf die Unabhängigkeit und fachliche Eignung der Kontrollgremien. Demnach sei es wenig überraschend, wenn sowohl die Kontrolle durch die Rundfunkräte vor der Genehmigung eines Telemedienangebotes als auch danach die Überprüfung durch die Rundfunkräte und die Rechtsaufsicht versagen. ... In all den Jahren habe es keinen einzigen Fall gegeben, in dem ein Rundfunkrat oder die Rechtsaufsicht ein bereits veröffentlichtes textlastiges Angebot der Rundfunkanstalten überprüft hätte."

Was die Chose unübersichtlicher macht, sind jüngere, von den deutschen Bundesländern einstimmig beschlossene Medienänderungsstaatsverträge, die den Spielraum für öffentlich-rechtliche Internetangebote erhöhen. Sie entsprächen aber nicht dem Kompromiss von 2007, meint der BDZV. Und nominell stehen EU-Gesetze über nationalstaatlichen Regelungen (die in deutschen Medien-Dingen eben in solchen MÄStVs bestehen). Insofern dürfte der Ausgang dieses Verfahrens spannend werden. Aber nicht sehr schnell: "Wie der Beihilfekompromiss von 2007 zeigt, kann das ein langwieriger Prozess werden", schließt Hartung. Dieser Kompromiss folgte auf eine anno 2002 eingereichte Beschwerde, brauchte also fünf Jahre. Und inzwischen sind die gewaltigen Bürokratien in den Bundesländern und in Brüssel ja eher noch überforderter als am Anfang des Jahrtausends.

"Behördliche Medienarbeit" wird schwieriger

Über langen Atem verfügt auch Jost Müller-Neuhof. Der rechtspolitische Korrespondent des "Tagesspiegel" streitet beharrlich für die für Rechtsstaaten essentielle Gewaltenteilung. Das klang z.B. im Altpapier "Hinterm Hintergrund geht's weiter" von vor drei Jahren an. Tagesaktuell machte er gerade auf den "Interorganaustausch" zwischen Bundesregierung und Judikative aufmerksam. Das ist nicht unbedingt ein Medien-Thema ist, dürfte aber am morgigen Mittwoch medien-wichtig werden. Aber das ist ein Medien-Thema: Unter der Überschrift "Der Geheimdienst hat ein Geheimnis weniger" vermeldete Müller-Neuhof kürzlich einen Erfolg seines Blattes vorm Bundesverwaltungsgericht. Und zwar über den Bundesnachrichtendienst.

"Der BND muss nun öffentlich mitteilen, mit welchen fünf Medien der Dienst in den Jahren 2019 und 2020 jeweils die meisten sogenannten Einzelhintergrundgespräche geführt hat, wie viele dies waren und wie hoch der Anteil von Medien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bei den Gesprächen in diesen beiden Jahren war."

Müller-Neuhof macht auf das in Medien nicht so oft thematisierte Phänomen aufmerksam, dass viele Bundesbehörden bis hin zum Bundeskanzleramt "behördliche Medienarbeit" betreiben, indem sie mit "Journalistinnen und Journalisten insbesondere von reichweitenstarken Medien" Hintergrundgespräche führen. Über die Umstände und was gesagt wurde, müssen die eingeladenen Journalisten schweigen. Doch ein paar Infos, die die Behörden gerne veröffentlicht sähen, dürfen sie oft exklusiv verbreiten. Welche Medien das in diesem Falle waren, hatte der BND im Verlauf des Prozesses schon mitgeteilt: "Bild", "Spiegel", NDR, "Welt" und "Zeit". Allerdings verband er die Mitteilung mit einer Drohung:

"'Wenn die verlangten Informationen erteilt werden müssen, wird es keine Hintergrundgespräche mehr geben', hatte der Anwalt des BND in der mündlichen Verhandlung angekündigt."

So wird's nun wohl kommen, nachdem das Bundesverwaltungsgericht diese "selektive Informationsvermittlung" offenbar deutlich kritisierte. Im Sinne der Gewaltenteilung ist das gutes Urteil. Schon weil die Medien ja echt aufpassen müssen, ihre – inoffizelle, aber (vor allem von ihnen selbst) gerne betonte – Rolle als Vierte Gewalt nicht durch zuviel Nähe mit den übrigen Gewalten zu verspielen. Okay, der BND ist keine der drei offiziellen Gewalten, aber ein wichtiges Instrument der Exekutive.

Größter Zeitschriftenverlag wird kleiner

Medienfinanzierung ist digital schwierig. Darum ging's weiter oben schon. Fast noch schwieriger ist inzwischen Medienfinanzierung auf Papier. Mit "dem branchenweit großen wirtschaftlichen Druck durch steigende Kosten für Papier, Druck und Auslieferung und durch die an vielen Stellen sinkenden Auflagen und Anzeigeneinnahmen" erklärte die "SZ" einen "Stellenabbau mit etwa 90 betriebsbedingten Kündigungen" bei einem der großen Presseverlage.

Da geht's um "Europas größten Zeitschriftenverlag und eines der führenden Medienhäuser weltweit", zumindest nach eigenen Angaben: die Bauer Media Group. Im Gewand einer Pressemitteilung zur Gründung eines "DesignHUB, der den deutschen Redaktionsgesellschaften Layoutdienstleistungen und Designkompetenz anbietet", kam die Nachricht daher, dass bei so gut wie allen der immer noch gut 60 Bauer-Zeitschriften die enstpechenden Abteilungen weithin wegfallen werden. Welche Zeitschriften sind das? Z.B. das immer noch eine halbe Million Exemplare starke Programmie "TV Movie", die "Cosmopolitan" und das, was von der "Bravo" übrig ist. "SZ"-Redakteurin Aurelie von Blazekovic, die in ihrem Artikel auch drauf hinweist, dass der früher größte Zeitschriftenverlag Gruner+Jahr ziemlich verschwunden ist, fiel im Bauer-Internetauftritt dann noch der schöne Begriff "Transformationsreise" auf. Wenn man schon mal auf bauermedia.com ist, lohnen tatsächlich ein paar Klicks. Etwa zur Subseite "Unser Purpose und unsere Mission":

"Unser Purpose ENRICHING EVERYDAY LIFE ist der Grund, warum wir unser Geschäft betreiben, warum unsere Kundinnen und Kunden unsere Produkte kaufen und unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Er ist der Grund, aus dem wir Mitarbeitenden jeden Tag zur Arbeit kommen. ..."

Hach, klingt das achtsam. Da müsste ja selbst einer grünen Kulturstaatsministerin ganz warm ums Herz werden. Doch auch bei noch so wokem Wording – wohin die Transformationsreisen gehen, ist für alle klassischen Medien ungewiss. So lautet die eigentliche Information.


Altpapierkorb ("Mensch Baerbock!", Sportwetten, 50 Jahre Grimme-Institut, MDR-Baustellen, "Scannen ist nicht digitalisieren")

+++ Die amtierende Bundesaußenministerin ist nicht gerade unterrepräsentiert im Fernsehen. Aber heute abend zur besten Sendezeit zeigt das ZDF-Doku "Mensch Baerbock! Die undiplomatische Diplomatin". Der 45-Minüter "scheitert am Bemühen, hinter die Fassade der Außenministerin zu schauen", meint Markus Ehrenberg im "Tagesspiegel", und: "Baerbock dürfte diese ZDF-Doku gefallen. Schwer zu sagen, ob das im Sinne der Macher ist". Klingt, als würde der Film all denen, die die Öffentlich-Rechtlichen für regierungsnah halten und nach weiteren Belegen dafür suchen, auch gefallen. +++

+++ "1,3 Millionen Deutsche von Glücksspiel abhängig", berichtet tagesschau.de und auch, dass der Bundesdrogenbeauftragte Burkhard Bliener ein Verbot von Sportwettenwerbung im Fernsehen vor 23 Uhr fordert. Hinweise darauf, dass Sportwettenanbieter in der ARD-"Sportschau" samstags ab 18.00 üppigst werben, enthält die Meldung des ARD-Leuchtturms nicht. +++

+++ Das Grimme-Institut feiert gerade sein 50-jähriges Bestehen. Gestern war Festakt im Düsseldorfer Landtag. "Es war ein emotionaler Abend im Landtag von Nordrhein-Westfalen, immer wieder unterhaltsam und gesprächig, teils nachdenklich, teils wunderbar ironisch ..." heißt's in der Pressemitteilung. Und ein interaktives Online-, äh, Scrollytelling zur Geschichte gibt's jetzt auch. +++

+++ "Die größten Baustellen für Ralf Ludwig", den seit Anfang des Monats amtierenden neuen MDR-Intendanten, listete die "Leipziger Volkszeitung" sogar frei online auf. +++

+++ Oh, ein "bedeutender Schritt in Richtung einer kohärenteren und effizienteren Digitalpolitik auf Landesebene". Das meint zumindest der eco-Verband der Internetwirtschaft zur Ankündigung einer "Fachministerkonferenz für Digitalpolitik" auf Bundesländerebene. Gesammelte Reaktionen gibt's bei heise.de, unter anderem noch vom Telekommunikationsverband VATM: "'Gerade bei der Digitalisierung erweist sich die deutsche Kleinstaaterei im internationalen Vergleich als Hindernis.' ... Hunderte von Genehmigungsverfahren in ganz Deutschland müssten vereinheitlicht werden. Dabei gelte es zu beachten: 'Scannen ist nicht digitalisieren.'" +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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