Das Altpapier am 22. November 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Klaus Raab
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 22. November 2023 Künstliche Harmonie

22. November 2023, 09:57 Uhr

Beim Digital-Gipfel der Bundesregierung betonen die anwesenden Minister Habeck und Wissing, wie gut sie kooperieren. Bei der digitalen Transformation geht trotzdem so viel nicht voran. Sam Altman geht zurück zu OpenAI. Und: Lässt sich die Festlegung des Rundfunkbeitrags entpolitisieren? Heute kommentiert Klaus Raab die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

"Zeitlupenwende"

Man kann auch nach dem zweiten von zwei Tagen nicht behaupten, dass der zweitägige Digital-Gipfel der Bundesregierung unter dem Motto "Digitale Transformation in der Zeitenwende", der hier gestern schon verarztet wurde, ausnehmend viele Kommentatorinnen und Kommentatoren übertrieben tiefgehend beschäftigen würde. Berichterstattung muss man halt machen. Gehört halt dazu. So wirkt es jedenfalls, wenn man die Zeitungen dazu liest. Manche Redaktionen machen auch gleich gar nichts dazu; bei spiegel.de jedenfalls fand man noch in der späten Nacht zum Mittwoch dazu nur ein paar Zeilen in einem Überblicks-Briefing.

Es geht aber halt eben auch um die Digitalisierung, einen der in den vergangenen Jahren (oder waren’s Jahrzehnte?) liegen gelassensten Politikbereiche. Als Buzzword funktioniert "Digitalisierung" zwar in jeder Talkshow halbwegs, aber auch nur, solange es nicht zu konkret wird. Wie viele der sehr vielen öffentlich-rechtlichen Talksendungen befassten sich in den vergangenen Jahren mal monothematisch mit der digitalen Transformation? Wenn es konkret wird, wird’s einfach kompliziert, sicher auch der "Zersplitterung von Zuständigkeiten und Kompetenzen" in Deutschland wegen, die Christian Humborg von Wikimedia Deutschland zutreffend kritisiert (dpa, etwa im Newsticker von welt.de). Oder wie die "Süddeutsche Zeitung" den mittel- und langfristigen Fortschritt auf diesem Gebiet heute nennt, und das ist natürlich wirklich hübsch: "Zeitlupenwende".

Vielleicht wirkt die Berichterstattung insgesamt aber heute auch nur deshalb ein klein wenig pflichtschuldig, weil die anwesenden Minister beim Digital-Gipfel einfach so gar nicht streiten wollten. "Im Vordergrund sollten nicht die jüngsten Haushaltsprobleme stehen, sondern vor allem die Fortschritte im Bereich Künstliche Intelligenz", schreibt das "Handelsblatt" online unter dem etwas KI-artig wirkenden Titel "Scholz kann Angst vor dem Digital-Kahlschlag nicht zerstreuen".

"In Jena sind die Gipfelgastgeber, Vizekanzler und Wirtschaftsminister Habeck und Digital- und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP), am Dienstag erkennbar um öffentliche Harmonie bemüht", so formuliert es die "SZ", und wer da noch nicht zur öffentlichen Schlammschlachtshow des offenbar trennungswilligen Ehepaars Pocher rübergeswitcht ist, die Anja Rützel bei spiegel.de zu einem inspirierten Hybriden aus Vermischtem und Feuilleton inspiriert – dem gibt vielleicht die "FAZ" (heute unten auf Seite 22) den Rest, die offensichtlich dieselbe Veranstaltung wie die "Süddeutsche" beobachtet hat:

"Habeck und Wissing ließen es sich nicht nehmen, positive Digitalisierungsprojekte hervorzuheben und eine globale innovationsfreundliche Regulierung von Systemen der Künstlichen Intelligenz (KI) anzumahnen. Auch bescheinigten sie sich gegenseitig eine umfassende Kooperationsbereitschaft sowie den Willen zum Lösen eines schier unlösbar anmutenden Problems."

Konstruktivität. Kooperationsbereitschaft. Positive Projekte. Ob am Ende auch noch der eine Minister dem anderen eine Tür aufgehalten hat, wurde nicht bekannt. Gut, dass in den wenigen Kommentaren, die es dann doch zum Digital-Gipfel gibt, darauf hingewiesen wird, dass die Koalition keineswegs in allem einig ist und auch übertrieben viel nicht wirklich vorangebracht hat. Svenja Bergt schreibt in der "taz" etwa: "Bei wichtigen Gesetzgebungsverfahren, die die Rechte der Bürger:innen betreffen, wie der Chatkontrolle auf EU-Ebene, ist die Koalition gespalten."

Gewohnt tief schürft vor allem netzpolitik.org, wo eine Einigung Deutschlands, Italiens und Frankreichs zur KI-Kontrolle (Altpapier von gestern zum "Habeck-Move") vor dem Hintergrund der besagten EU-Gesetzgebung betrachtet wird:

"Die Regierungen der drei größten EU-Länder sprechen sich dagegen aus, gesetzlichen Vorschriften für die Basis-Modelle zu erlassen. (…) Die Einigung ist eine Schlappe für die Verhandlungen zu einem der derzeit wichtigsten Gesetzesvorhaben der EU. Die geplante KI-Verordnung soll das weltweit erste Gesetz werden, das Künstliche Intelligenz umfassend reguliert."

Eil plus top: Altman kehrt zu OpenAI zurück

Die Personaltop- und -eilmeldung des Morgens, so eil und top, dass sie bei spiegel.de oder bei zeit.de sogar ganz oben landete (obwohl am Morgen die schon immer noch klar relevantere Nachricht vom Geiselfreilassungsdeal zwischen Israel und Hamas auch noch nicht ganz alt ist und bei welt.de, sueddeutsche.de und faz.net auch ganz oben bleibt), ist, dass Sam Altman zu OpenAI zurückkehre. Eine klassische Medienressortnachricht ist das nicht, aber hey, es geht um irgendwas mit Medien, und dass Redaktionen mit KI nichts zu tun hätten, kann man ja auch nicht sagen.

"Altman war erst am Freitag vom alten Verwaltungsrat herausgedrängt worden und hatte sich am Sonntag entschlossen, zum OpenAI-Investor Microsoft zu gehen. Danach drohten rund 700 der 770 Mitarbeiter von OpenAI, ihm zu folgen – was praktisch das Ende der Firma bedeutet hätte."

So geht die Geschichte. Dann doch lieber zurückholen. Wer sich für den Plot der kompletten Seifenoper interessiert, ist beim Social Media Watchblog am besten aufgehoben. Dort gibt es die ganze Geschichte des Hin und Hers in Spiegelstrichen. (Einen Link gibt’s allerdings nicht, man muss sich anmelden.)

Tom Buhrows offene Türen

Was praktisch immer zur Nachricht wird, weil es viele Menschen emotional packt: wenn Ministerpräsident xy sich zum Rundfunkbeitrag äußert. Ganz frisch ist es Bayerns Markus Söder, der nun – was bei ihm ja nicht selbstverständlich ist – bei seiner längst angekündigten Position blieb und noch einmal schrieb, was er schon vor Monaten zur Kenntnis gegeben hatte: dass er eine mögliche Erhöhung des Rundfunkbeitrags (Altpapier vom Dienstag) ablehne. Zitat Söder: "Wir sagen Nein zu höheren GEZ-Gebühren" – wobei er natürlich weiß, dass es eigentlich "Beitrag" heißt und längst nicht mehr "GEZ-Gebühren". Die GEZ sei "seit mehr als 10 Jahren Geschichte", rückt dwdl.de Söders ungebührlichen Beitrag zurecht.

Ob die mutmaßlich bewusst gewählte Falschbezeichnung "GEZ-Gebühr" statt "Rundfunkbeitrag" so entscheidend ist, darüber kann man diskutieren. Von mir aus kann man auch "Schweinsblase" sagen, wenn man "Fußball" meint. Das ist zwar beim besten Willen kein Synonym, aber bitteschön: wenn’s der Wahrheitsempfindung dient. Was gemeint ist, ist jedenfalls allen klar.

Trotzdem, zugegeben, triggert es viele Journalisten natürlich hart, wenn Politiker, die es besser wissen, partout lieber einen veralteten Begriff benutzen, zumal wenn er mittlerweile zu einem Code für "Zwang" geworden ist. Das kann man dann eigentlich nicht ernsthaft so stehen lassen. Joachim Huber steigt bei tagesspiegel.de zum Beispiel direkt mit einer Begriffskunde "Gebühr/Beitrag" ein, bevor er auf den inhaltlichen Kern der Nachricht kommt (den auch die dpa überbringt).

Wichtiger aber als die Wahl des genutzten Begriffs ist, was in Zukunft aus dem Rundfunkbeitragsfestlegungsverfahren wird, das in den kommenden Wochen auf einen Höhepunkt geraten wird. Bei dwdl.de ist im aktuellen Text ein anderer verlinkt, der zwar schon einige Wochen alt ist, aber als Beitrag (oder nennt man’s jetzt Gebühr?) zur laufenden Rundfunkbeitragsdebatte lesenswert ist. Denn darin steht, was Rainer Robra, Chef der sachsen-anhaltinischen Staatskanzlei, Ende Oktober auf den Münchner Medientagen sagte: Er würde das bisherige Verfahren, nach dem jedes einzelne Länderparlament zustimmen muss, demnach gerne abschaffen.

Durchaus zu verstehen sei der Unmut der Politik, schrieb Uwe Mantel damals:

"Zuerst melden die Rundfunkanstalten ihren Bedarf an, dann schaut die mit unabhängigen Finanzexperten besetzte Kommission KEF darauf, kürzt die Wünsche der Anstalten deutlich zusammen und errechnet, wie viel Geld ARD, ZDF und Deutschlandradio zur Erfüllung ihres – von der Politik erteilten – Auftrags zustehen, woraus sich automatisch der neue monatliche Rundfunkbeitrag ergibt. Von dieser 'Empfehlung' darf die Politik nur in ganz eng begrenzten und zu begründenden Ausnahmesituationen abweichen."

Die Landtage müssen also eigentlich zustimmen – und dann würden einige lieber gar nicht damit befasst sein. Nämlich die, die nicht die Verantwortung für eine Beitragserhöhung übernehmen wollen, weswegen sie zumindest vorher möglichst laut und breit ankündigen, dagegen zu sein. "Bei Tom Buhrow", also dem WDR-Intendanten, "mit dem Robra eigentlich ein 'Streitgespräch' führen sollte, rannte er damit offene Türen ein", so Uwe Mantel.

Sicher sei: So könne es nicht weitergehen. "Zumindest da sind sich Kritiker wie Unterstützer des öffentlich-rechtlichen Systems einig." Wie es ansonsten weitergehen kann, darauf müsste man sich allerdings in den Ländern auch noch einigen.


Altpapierkorb ("Business Punk", Al-Jazeera, Kritik an NDR-Namibia-Doku, Böhmermann und der ESC, u.a.)

+++ "Business Punk" ist eine Zeitschrift, die einmal zu Gruner+Jahr gehörte, bevor sie an die Weimer Media Group verkauft wurde, die so Punk ist wie Noppensocken von Tchibo. Andererseits: "Business Punk" ist natürlich auch immer mehr Business als Punk gewesen. Ob viele Angestellte gegangen sind, weil die Zeitschrift an Weimer verkauft wurde, oder bevor sie an Weimer verkauft wurde – das ist eine Frage, die "Süddeutsche Zeitung" und Wolfram Weimer selbst unterschiedlich beantworten. Nach einem ersten Artikel der "SZ" und einer Erwiderung von Weimer gibt es nun: die Fortschreibung. Anna Ernst schreibt in der "Süddeutschen" (Abo), ehemalige Redakteurinnen widersprächen Weimers Darstellung, sie hätten schon vor dem Verkauf gekündigt. Der Grund sei vielmehr, dass sie nicht das Gefühl gehabt hätten, "dass die Marke ernsthaft qualitativ wachsen soll".

+++ Al-Jazeera, den reichweitenstärksten Sender der arabischen Welt, beleuchtet Kira Kramer in der "FAZ" (Abo) und schreibt von Zweifeln an der Unabhängigkeit. Sie zitiert unter anderem Asiem El Difraoui, der sich als Politologe und Medienforscher mit der arabischen Welt befasst: "Die qatarischen Scheichs gäben zwar nicht direkt das Programm vor, 'bestimmen aber die großen Leitlinien.' Qatar ist zugleich einer der größten Geldgeber der Hamas."

+++ Kritik an einer Namibia-Dokumentation des NDR dokumentiert die "Berliner Zeitung" online, und die Printausgabe der "FAZ" fasst via epd zusammen: "Moderatorin Aminata Belli thematisiert in dem Film die von Deutschen zur Kolonialzeit verübten Verbrechen an den Herero und Nama und wirtschaftliche Ungerechtigkeit in dem Land. Dem Anliegen, über Geschichte und Entwicklung Namibias auf der Basis von Fakten zu berichten, werde der Film nicht gerecht, schreiben der frühere deutsche Botschafter Christian M. Schlaga und weitere Unterzeichner in einem offenen Brief." Der Film stehe "inzwischen in leicht bearbeiteter Fassung in der Mediathek. Die Redaktion habe 'für Präzision und Klarheit gesorgt – wo sie sich in der ersten Version des Films für Kürze und Textverständlichkeit entschieden hatte'."

+++ "Böhmermanns Bewerbung abgelehnt", meldete meedia.de am Dienstagnachmittag und berief sich auf den NDR. Was ein wenig so klingt, als hätte sich ZDF-Moderator Jan Böhmermann beim NDR beworben. Hat er nicht. Er hat sich tendenziell eventuell darum bemüht, den Vorentscheid zum Eurovision Song Contest zu übernehmen, der bisher federführend in NDR-Hand liegt. Vielleicht wollte er aber auch nur ein bisschen spielen, so genau weiß man es ja manchmal nicht. Für die Unterzeile "Böhmermann will ESC-Vorentscheid produzieren" bei tagesspiegel.de reichte seine Bewerbungsrede jedenfalls. Tatsächlich klang es schon ernst gemeint in seinem Podcast, als er sagte: "Bevor die das abgeben, bevor sie es wegschmeißen und irgendwie einem anderen Sender, der das noch liebloser macht, geben: Es brennt hier in Köln Ehrenfeld seit original zehn Jahren ein großes Feuer für den Eurovision Song Contest." Dass der NDR nicht jubelnd übergibt, ist klar. Für 2024 sei die Planung eh gemacht. Dass dem ESC ein paar frische Ideen gut täten, ist allerdings auch kein abwegiger Gedanke. Vielleicht sollte man mal die Buchmacher fragen, was die denken. Macht es in mittlerer Zukunft womöglich wirklich Böhmermanns Firma? +++ Oder mischt gar der auch wieder im glitzernden Raum der Spekulationen aufgetauchte Stefan Raab beim ESC mit? Dazu gibt es jedenfalls einen entsprechenden "Wirbel um"-Text auf den Onlineseiten der "Frankfurter Rundschau".

+++ Die Darstellung der "Ereignisse rund um das Al-Schifa-Krankenhaus" gehe in deutschen und englischsprachigen Medien "dermaßen weit auseinander, dass ein Leser des 'Guardian' und ein Leser der 'Zeit' (beide Medien gelten als linksliberal) … den Eindruck haben müssten, sie leben in Parallelwelten", schreibt Teseo La Marca bei uebermedien.de (Abo). Und schließt sich teilweise der Kritik an, westliche Journalisten würden "doppelte Standards" anlegen. Rundum schlüssig ist die Argumentation meines Erachtens nicht; "westliche Journalisten" sind ja sowohl die von "Guardian" als auch die der "Zeit".

+++ "Die Medien dafür zu kritisieren, dass sie Mr. Trump eine Plattform bieten, ist out. Sich im Stillen danach zu sehnen, dass die großen Sender wieder live von Trumps Wahlkampfkundgebungen berichten, ist in", schreibt die "New York Times" (Übersetzung: Deepls KI): Die Demokraten, also Donald Trumps Gegner, würden sich "more Trump" in der öffentlichen Debatte wünschen, weil Trump "eine ansonsten zersplitterte Opposition geeint und in drei aufeinanderfolgenden Wahlzyklen zu Siegen verholfen" habe.

Am Donnerstag schreibt das Altpapier Ralf Heimann.

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