Das Altpapier am 28. November 2023: Porträt des Altpapier-Autoren Christian Bartels
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G

Kolumne: Das Altpapier am 28. November 2023 Das Beste kommt ja noch

28. November 2023, 10:04 Uhr

Das Ex-Twitter X verdient nicht nur Kritik, sondern bündelt weiterhin auch Kritik, die andere (z.B. die ARD) verdienen. Eine längere Rede verdient Aufmerksamkeit, obwohl es sich um eine "Festrede" zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk handelt. Amazon ist stark auf dem Markt – und in der Lobby. Heute kommentiert Christian Bartels die Medienberichterstattung.

Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

ARD-Posts wurde Kontext hinzugefügt

Die Plattform namens X, die früher Twitter hieß, entwickelt sich eher negativ. Wer sich ab und zu noch einloggt, wie der Autor der Kolumne, sieht als erstes algorithmisch vor-sortierte Posts, die polarisierend um Aufmerksamkeit heischen und zunächst Misstrauen verdienen (das natürlich nicht immer gerechtfertigt ist). Zugleich sinkt die Zahl der Nutzer. Gerade kündigte correctiv.org seinen Rückzug an.

Manches auf Twitter/X aber funktioniert gut und sinnvoll. Zum Beispiel die Funktion der "Community Notes", die volksverpetzer.de im Sommer "als kollektives Faktencheck-Programm" bezeichnete. Sie erscheint in Form des Zusatz-Textfelds "Leser haben Kontext hinzugefügt, der ihrer Meinung nach für andere wissenswert wäre" und dann dieses Kontexts. Zu sehen ist das etwa auf einem von Hendrik Wieduwilt getwitterten Screenshot. Da betrifft die Community Note einen Das Erste-Tweet, der Inhalte der ARD-Sendung "Weltspiegel" ankündigte und dabei die Formulierung "Austausch von Geiseln" zwischen Israel und den Hamas-Terroristen verwendete.

Inzwischen oft zitiert ("FAZ", "Tagesspiegel") wurde dazu, also dagegen, das (ebenfalls getwitterte) Argument des "Jüdische Allgemeine"-Chefredakteurs Philipp Peyman Engel: "Dieser Post ist eine Schande! Welche Geiseln hält Israel denn? Die Hamas verschleppte Babys, Kinder und Greise. Israel hat keine andere Wahl, als Mörder und Terroristen freizulassen, um israelische Zivilisten zu retten ..."

Ob die Veränderung zu "Nach dem Geisel-Deal ..." ähnlich schlecht ist wie erstere, wie Wieduwilt meint, darüber ließe sich streiten. Letztere, von der "Welt" auch benutzte Formulierung, lässt sich auch so verstehen, dass Israel notgedrungen einen "Deal" einging, um die Freilassung von Geiseln zu bewirken. Zweifel, dass es sich bei "Geiselaustausch" um einen reinen Flüchtigkeitsfehler handelte, weckte, dass dieser Begriff nochmals auf X/Twitter kursiert – als Video von einer ganz prominenten Stelle im linearen ARD-Programm: als es am Sonntagabend darum ging, das Publikum, das bis zum Schluss bei "Anne Will" gebliebene in die "Tagesthemen" mitzunehmen. Hierzu findet sich auf der "Korrekturen"-Seite von tagesschau.de (an der sich auch allerhand kritisieren lässt, was uebermedien.de kürzlich tat) bei der Zeitmarke 27.11.2023, 10:47 Uhr ein Absatz:

"In der Live-Übergabe zu den tagesthemen am Sonntag, den 26.11.2023 (am Ende der Sendung 'Anne Will') hat Aline Abboud versehentlich von 'Geiselaustausch' im Zusammenhang mit der Freilassung von israelischen Geiseln aus der Gewalt der Terrororganisation Hamas und der Entlassung palästinensischer Strafgefangener aus israelischer Haft gesprochen. Der Begriff war falsch und wird korrigiert."

Was genau falsch war, müssen ARD-Nutzer, die zufällig dorthin gelangten (und womöglich auch ARD-Mitarbeiter) anderswo nachlesen. Doof, dass der "Tagesschau"-Blog, der einst doch ein wenig dazu beigetragen haben könnte, dass Kai Gniffke vom "Tagesschau"-Chef zum Intendanten und derzeit gar ARD-Vorsitzenden aufstieg, seit über einem Jahr stillsteht. Obwohl gerade da Raum wäre, ohne den in den Echtzeit-getriebenen Timelines zweifellos herrschenden Druck Grundsätzliches klarzustellen.

Dass X/ Twitter bei aller eigenen Kritikwürdigkeit weiterhin gut ist, Bewusstsein für kritikwürdige Formulierungen an anderer Stelle zu schaffen, vor allem bei den scharf beobachteten Öffentlich-Rechtlichen, gehört außerdem zum Bild.

Die Wikipedia als ÖRR-Vorbild

"Am Ende des Tages [gibt es] keine unabhängigen Medien, sondern nur unterschiedliche Abhängigkeiten. Die einen sind abhängig von ihren Abonnent:innen, andere von ihren Werbekund:innen, andere von Spender:innen, andere von reichen Mäzenen, und wieder andere von politisch festgelegten Rundfunkbeiträgen. Jede Form von Abhängigkeit hat Folgen für die Ausrichtung eines Mediums, jede Form von Abhängigkeit kann zum Problem werden. Reiche Mäzene finanzieren beispielsweise demokratiefördernde Investigativangebote wie ProPublica. Sie finanzieren genauso aber auch demokratiegefährdende Schwurbelsender wie Österreichs Privat-TV-Marktführer ServusTV ... ... Wenn es aber keine völlig unabhängigen Medien gibt, dann haben wir es im Idealfall mit einer Medienlandschaft zu tun, in der nicht einzelne Formen der Abhängigkeit dominieren, sondern in der sich verschiedene Formen von Abhängigkeit wechselseitig kontrollieren."

Uff, das klingt nach einem ganz großen Bogen und ist in der Tat ein kleiner Ausschnitt aus einer ausführlichen "Festrede zu Reform und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks". Gehalten hat diese, anlässlich einer der nicht wenigen Journalistenpreis-Verleihungen, Leonhard Dobusch.

Wer das Altpapier schon länger verfolgt, könnte wissen: Dobusch hat, nein: macht weiterhin eine bemerkenswerte Medien-Karriere. Der Österreicher wurde, nachdem das Verfassungsgericht die politische Besetzung der Rundfunkgremien etwas aufgebrochen hatte, als Vertreter des Internets in den ZDF-Fernsehrat entsandt. Und sorgte in dessen Sitzungen für bis dahin ungekannte Transparenz, indem er (an die 100 Folgen in der netzpolitik.org-Reihe "Neues aus dem Fernsehrat") darüber bloggte. Das freute längst nicht alle Fernsehrats-Mitglieder, belebte die medienpolitischen Debatte aber beträchtlich und führte schließlich gar dazu, dass Dobusch ins kleinere, entscheidendere Gremium des Verwaltungsrats berufen wurde. Seitdem bloggt er seltener und äußert sich wenn, dann, äh, staatsmännischer. (Schließlich gehören diesem Rat unter Ministerpräsidentin Dreyers Vorsitz Koryphäen wie Reiner Haseloff und Winfried Kretschmann an).

Diese Rede ist in ihrer ganzen, von Firefox auf "27–32 Minuten" geschätzten Länge lesenswert. Okay, der rhetorische Trick, "dass die besten Zeiten öffentlich-rechtlicher Medien noch vor uns liegen", mag leicht gewollt wirken. Beteuert Mathias Döpfner nicht seit jeher in jeder zweiten bis dritten Rede, dass die besten Zeiten des Journalismus in der nächsten Zukunft warten, wenn sie nicht gerade schon angebrochen sind?

Doch Dobusch argumentiert überzeugend, warum öffentlich-rechtliche Medien gerade sowohl "wichtiger denn je sind", als auch allerhand "negative Stimmung" gegen sich haben. Und dröselt auf, welche Schritte sie dringend gehen müssten. Zum Beispiel den einer technischen Weiterentwicklung "auf Basis von Open-Source-Software, offenen Standards und offenen Protokollen". Und erst recht den einer "Öffnung für Interaktion mit dem Publikum und gesellschaftliche Teilhabe" – damit von all den Diskussionen, die der außertarifliche ZDF-Spitzenverdiener Jan Böhmermann immer anzettelt, nicht nur Googles Youtube profitiert. Ein funktionierendes Beispiel für so etwas nennt Dobusch auch: "die einzige nicht-kommerzielle unter den 100 meistbesuchten Webseiten der Welt", die Wikipedia.

"Wenn wir uns anschauen, wie es um die Glaubwürdigkeit und Robustheit des Wikipedia-Wissens bestellt ist, dann zeigt sich, dass dieses gerade in dynamischen und politisch kontroversen Themenfeldern – von Covid über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bis hin zur Klimakrise – ausgesprochen akkurate und aktuelle Informationen liefert. Das ist, mit Verlaub, ein Treppenwitz der Internetgeschichte. In den ersten zehn Jahren ihrer Geschichte, war die meistgestellte Frage zur Wikipedia: 'Kann man das glauben, was da drinnen steht? Da kann ja jeder alles Mögliche hineinschreiben!' Paradoxerweise ist genau diese radikale Offenheit der Wikipedia, die sie prinzipiell offen für Manipulationsversuche macht, auch Teil der Lösung, wie es gelingt, Manipulationsversuchen zu widerstehen. Jede Änderung ist dauerhaft transparent nachvollziehbar, und das gilt auch für die Dokumentation eigener Schwächen und Fehler."

An Schwächen und Fehlern mangelt es im umfangreichen Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht. Daraus Ansätze für zumindest einen "Teil der Lösung" der dynamischen Problemlagen ziehen zu können, klingt gut. Hoffentlich wird so was im ZDF-Verwaltungsrat auch besprochen!

Millionen und Milliarden von Amazon

"Deutschland droht zur digitalen Kolonie zu werden", weil "viele der digitalen Lösungen, die hier genutzt werden, ... aus den USA, aus China oder anderen asiatischen Ländern" kommen? Älterer Hut, der hierzulande eh niemanden aufregt. Da geht es noch um den Bundesregierungs-Digigipfel der vorigen Woche (Altpapier). Das eine Woche alte "Wiwo"-Interview von Sonja Álvarez (die manche vielleicht noch als "Tagesspiegel"-Medienredakteurin kennen) mit dem  Bitkom-Chef und Ex-Karatemeister Wintergerst, zählt aufschlussreich auf, welche Bundesministerien wieviele Digital-Projekte schon vor dem Karlsruher Urteil ganz unten in ihren To-Do-Stapeln einsortierten ... Jedenfalls, bei solch einer Kolonisierung fließt natürlich auch Geld.

"Seit 2013 hat Amazon sein Lobbybudget in Brüssel von 450.000 Euro auf mindestens 2,75 Millionen Euro deutlich aufgestockt. Am höchsten waren die Ausgaben 2021 mit 3 Millionen Euro. 2022 war der Betrag wieder etwas niedriger, doch nach Lobbyausgaben lag Amazon mit 2,75 Mio Euro immer noch auf Platz 14 aller Einzelunternehmen ... Gleichzeitig hat Amazon seine Lobbyaktivitäten in den EU-Mitgliedstaaten ausgeweitet. In seinen beiden größten Absatzmärkten, Deutschland und Frankreich, gab das Unternehmen 2022 insgesamt 3,6 Millionen Euro aus – allein 2,41 Millionen Euro für Lobbyarbeit in Berlin,"

förderte eine deutsch-belgisch-niederländische Recherche von lobbycontrol.de zutage, über die die "SZ" berichtete. Da ist kein Wunder, wenn selbst relative Kleinigkeiten (aus Sicht des Amazon-Konzerns) nach ein bisschen Prüf-Gepose der europäischen Wächter durchflutschen, wie aktuell wohl der Kauf des Saugroboter-Herstellers iRobot durchwinken (amazon-watchblog.de). Ein interessantes Detail der Recherche besagt, dass Amazon allein 2022 "19 Millionen Euro für eine einzelne Kampagne im deutschen und österreichischen Fernsehen" ausgab. Wo zum Beispiel? In den Werbepausen der ARD-"Sportschau" gehört Amazon neben den Sportwetten-Anbietern, über die sich ja auch viel Böses sagen lässt (Achtung, Link führt zu tagesschau.de), zu den Stammgästen.

Zum Gesamtbild gehört, dass Amazon auch für nicht-werbliche Inhalte allerhand Geld ausgibt, das dann europäischen Kreativen zugutekommt:

"Insgesamt 20,8 Milliarden Euro haben europäische Sender und internationale Streaminganbieter wie Netflix oder Amazon Prime 2022 für Originalcontent aus Europa ausgegeben – die größte Summe seit 2012",

fasst der "Standard" eine Analyse der Europäischen Audiovisuellen Informationsstelle zusammen. Diese Informationsstelle bietet eine 29 Folien umfassende englischsprachige Präsentation zum Runterlanden und eine Zusammenfassung auf deutsch an. "Gerade die Streaminganbieter zahlten mehr denn je für europäische Inhalte", lässt sich aus den zahlreichen Zahlen herauslesen ("Standard"/APA):

"Der größte Anteil der Ausgaben für audiovisuelle Originalinhalte aus Europa 2022 stammte mit 8,6 Milliarden Euro von Privatsendern, insgesamt 7,2 Milliarden Euro zahlten öffentliche Rundfunkanstalten, globale Streamingdienste wiederum 4,9 Milliarden, was einem Anstieg um 70 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Mit 2,2 Milliarden führt hier Netflix, gefolgt von 1,1 Milliarden durch Amazon Prime".

Bei genauer Betrachtung heißt das aber auch: Die Plattform-Konzerne entfalten zwar immer gewaltige Öffentlichkeitswirkung, teilweise dank bezahlter Werbung, aber auch, weil klassische Medien Neuigkeiten von Amazon, Netflix und erst recht allem, was Elon Musk so macht, immer gerne prominent vermelden (vermutlich in der Hoffnung, dass es junges Publikum interessiert und/oder gut klickt). Und dennoch gaben europäische Sender, private und öffentlich-rechtliche, deutlich mehr Geld für europäische Produktionen aus – sogar auf dem dem mutmaßlichen Höhepunkt der Entwicklung. Dass diese inzwischen andersrum verläuft und alle Streamingdienste weniger Geld investieren, zumal in internationale Produktionen, gehört ja auch zum Kontext.


Altpapierkorb (ÖRR-Kritik der Regisseure & Autoren, Verschwinden des Lokaljournalismus, Signal-Zahlen, "Hamas – Angriff aufs Festival")

+++ Wie ARD und ZDF das viele Geld für Filmproduktionen ausgeben, ist wiederum Gegenstand von Kritik. Besonders scharfe in Form eines gemeinsamen Manifests von Bundesverband Regie und Deutschem Drehbuchverband, das "am Freitag in Baden-Baden vorgestellt werden soll", zitiert heute die "SZ"-Medienseite (€). Von der "Stromlinienförmigkeit des immer stärker formatierten deutschen Fernsehens" ist da die Rede. Gefordert wird zumindest ein Abend, der "keinerlei Quotendruck unterliegt". +++

+++ Das seit Jahren durch Branchendiskussionen geflogene Zeitungs-Zustellungs- oder Presse-Förderungs-Gesetz wird auch in den nächsten "Notlagen"-Haushalts-Jahren kaum noch kommen. Aber die Diskussion darüber und damit auch über die Probleme vor allem des lokalen Journalismus geht auf hohem Niveau weiter. Einen Überblick gibt Sebastian Essers Newsletter "Blaupause". Das Altpapier kommt vor, und ein flurfunk-dresden.de-Artikel von Peter Stawowy  ("Warum aber will die Politik weiterhin etwas fördern, von dem sich immer mehr Menschen abwenden?"). +++ "Gedruckt und zugestellt oder nicht: Das wirklich drängende Problem ist das großflächige Verschwinden des Lokaljournalismus", schreibt Ellen Nebel in "epd medien". +++

+++ Schon zwei Wochen alt, aber weiter aktuell lesenswert: die transparente Betriebskosten-Aufstellung des Messengerdienstes Signal, der derzeit um Spenden wirbt und so auch auf die "gewinnorientierten Überwachungsgeschäftsmodelle der Konkurrenz", etwa von Whatsapp, aufmerksam machen will (heise.de mit weiteren Links). +++

+++ "Einer der ersten Versuche, die Gräuel des 7. Oktobers mit dokumentarischen Mitteln aufzuarbeiten", läuft heute abend bei Arte. "Wo sonst Täter und Opfer häufig anonym bleiben, bekommen zumindest die Opfer ein Gesicht und Zeit für mehr als nur ein paar Sätze, wie sie in der Krisenberichterstattung oft üblich sind", wägt die "FAZ" (€) ab. "Man kann nur hoffen, dass den Überlebenden das Sprechen über den 7. Oktober beim Verarbeiten der Geschehnisse hilft", schreibt die "SZ" (€). Die 30-minütige Doku "Hamas – Angriff aufs Festival" läuft linear um 22.10 Uhr und nicht vorab in der Mediathek. +++

Das nächste Altpapier schreibt am Mittwoch René Martens.

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