Kolumne: Das Altpapier am 28. März 2024: Porträt des Altpapier-Autoren Ralf Heimann 4 min
"Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren im aktuellen Altpapier die wichtigsten Medienthemen des Tages. Bildrechte: MDR | MEDIEN360G
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Der WDR-Chefredakteur fordert mehr Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber damit das gelingt, braucht es vor allem etwas anderes.

Do 28.03.2024 13:22Uhr 04:07 min

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Kolumne: Das Altpapier am 28. März 2024 Aus der Tiefe des Debattenraums

28. März 2024, 11:44 Uhr

Der WDR-Chefredakteur fordert mehr Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber damit das gelingt, braucht es vor allem etwas anderes. Heute kommentiert Ralf Heimann die Medienberichterstattung.

Porträt des Altpapier Autoren Ralf Heimann
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Das Altpapier "Das Altpapier" ist eine tagesaktuelle Kolumne. Die Autorinnen und Autoren kommentieren und bewerten aus ihrer Sicht die aktuellen medienjournalistischen Themen.

Was für Meinungen denn?

WDR-Chefredakteur Stefan Brandenburg hat für die "Zeit" einen Essay geschrieben, in dem er eine These vertritt: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk braucht mehr Meinungsvielfalt, auch bei Themen, die wehtun und den eigenen Überzeugungen widersprechen.

Als Begründung führt Brandenburg unter anderem eine Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts an, nach der im öffentlich-rechtlichen Rundfunk "die Vielfalt der bestehenden Meinungen" zum Ausdruck kommen soll, "und zwar in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit".

Außerdem nennt Brandenburg eine Frage aus dem ARD-Deutschlandtrend, nach der 67 Prozent die Aussage unterschreiben: "Bei bestimmten Themen wird man heute ausgegrenzt, wenn man seine Meinung sagt."

Man müsste nun eigentlich etwas mehr über diese Meinungen wissen, um eine Aussage darüber treffen zu können, was denn eigentlich der Grund für diesen Eindruck ist. Dann könnte man Ende herauskommen:

Es gibt tatsächlich ein Klima, in dem Menschen, die vollkommen legitime Meinungen vertreten, so etwas wie Ausgrenzung erfahren. Das ist Brandenburgs Annahme.

Es könnte aber auch herauszukommen, dass ein überraschend großer Anteil an Menschen Dinge vertritt, die in der Öffentlichkeit verständlicherweise keine Zustimmung finden – oder dass der überwiegende Teil der Menschen schon Widerspruch oder ausbleibende Bestätigung als Ausgrenzung erlebt. Oder dass diese Erzählung, nach der man nicht mehr sagen kann, was man denkt, die ja auch prominente Figuren wie Thomas Gottschalk samstagsabends im öffentlich-rechtlichen Fernsehen verbreiten, einfach sehr, sehr erfolgreich ist.

Dieter Nuhr, der so etwas ebenfalls gerne beklagt, hat dort jedenfalls weiterhin seine Sendung.

Das Problem ist, man kann das alles sehr schwer auseinanderhalten. Und das führt schon zur nächsten Schwierigkeit: Rechtspopulisten und Rechtsextreme können ein Plädoyer wie das von Brandenburg ganz wunderbar verwenden, um Argumente dafür zu finden, dass ihre "ganz normalen Meinungen" im öffentlich-rechtlichen Programm nicht ausreichend berücksichtigt werden, denn in gewisser Weise ist der Text auch ein Eingeständnis.

Und dann besteht die Gefahr, dass eine in dieser Sphäre weit verbreitete Strategie aufgeht, nämlich extreme Positionen zu normalisieren und das Overton-Fenster der akzeptierten Meinungen in die eine Richtung möglichst sperrangelweit zu öffnen.

Ein kleiner Raum mit Trennwand

Brandenburg spricht von den Meinungen, bei denen man sagen muss: Sehe ich selbst nicht so, aber natürlich, kann man so sehen.  Und hier streift die Debatte die Frage nach dem journalistischen Selbstverständnis, nach der Objektivität im Journalismus.

Sehe ich mich selbst als Berichterstatter, der in seiner Rolle und im Bemühen, möglichst objektiv zu sein, so gut es geht von außen auf die Dinge schaut? Oder bin ich der Meinung, dass ich auch als Journalist die Haltungen und Werte verteidigen muss, die ich privat vertrete, weil sie meine Arbeit erst möglich machen und sich beides schwer trennen lässt.

Das erste Verständnis kann zur Folge haben, dass man die Grenzen zu weit fasst und der Debattenraum so groß wird, dass auch extreme Positionen ganz selbstverständlich enthalten sind. Das zweite Verständnis kann dazu führen, dass man eine Trennwand in den Raum zieht, die ihn sehr klein werden lässt.

Debatten wie die übers Gendern machen das besonders deutlich. Deswegen kann man sie auch politisch so gut instrumentalisieren. Auf beiden Seiten ist ein großer Teil davon überzeugt, dass es nur auf eine Weise geht. Mit der Entscheidung dafür oder dagegen entscheidet man sich damit automatisch für ein politisches Lager, vielleicht nicht aus der eigenen Perspektive, aber doch aus der der jeweils anderen Seite.

An der Gender-Debatte lässt sich auch gut erklären, was es bräuchte, um das Problem zu entschärfen: nämlich die Bereitschaft, der anderen Seite zuzugestehen, dass es völlig in Ordnung ist, es anders zu machen als man selbst.

Immer diese Zielkonflikte

Die Frage ist: Wie weit reicht das Spektrum dieser Meinungen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk darstellen soll? Und wie weit sollte es reichen? Also wie groß sollte der Debattenraum sein?

Sollten wir hier im Altpapier zum Beispiel auch auf ein Angebot wie "Nius" verweisen und verlinken, das Wissenschaftler als "rechtspopulistisches Agitationsformat mit journalistischem Anstrich" nennen (Altpapier).

Das Argument dagegen ist auch hier: Es würde dazu beitragen, rechtspopulistische Agitation und Portale wie "Nius" zu normalisieren. Das Argument dafür könnte sein: Man verschließt sonst einfach die Augen und blendet es aus. Besser wäre doch ein kritischer Umgang damit, eine kritische Auseinandersetzung. Journalismus eben.

Diese Frage, wie man mit "Nius" umgeht, hat sich zum Beispiel nach dem Auftritt des Kabarettisten und Publizisten Florian Schroeder gestellt, der Julian Reichelts Einladung angenommen hatte, in der Sendung allerdings Reichelt auch kritisierte. Im Interview mit Marvin Schade für das Magazin "Medieninsider" erklärt Schroeder nun, warum er sich mit Reichelt vor die Kamera setzte.

Schroeder sagt, für ihn sei klar gewesen, dass er sich "nicht einfach als Gast präsentiere, sondern Reichelt mit seinen eigenen Doppelstandards konfrontiere und damit, was dieses Format aus meiner Sicht eigentlich tut und bei Usern bewirkt und auslöst". Er habe sich "oft genug von ihm (Reichelt, Anm. Altpapier) und seinen Gedanken distanziert". Und er würde auch Politikern empfehlen, in so ein Format zu gehen, allerdings "nur denjenigen (…), die sich die Konfrontation zutrauen, die sich entsprechend vorbereiten und die über eine gewisse Schlagfertigkeit verfügen. "Man muss hingehen und gezielt erschrecken", sagte er.

Das alles ähnelt ein bisschen dem Dilemma, in das Medienkritik immer wieder gerät. Dadurch, dass man Dinge kritisiert, reproduziert man sie auch. Um das eine Ziel zu erreichen, muss man ein Übel in Kauf nehmen.

Wenn man das "Nius"-Publikum mit seiner Kritik erreichen möchte, akzeptiert man es gleichzeitig als Debattenplattform, und egal, wie scharf die Kritik ausfällt, am Ende nützt das auch "Nius". Man muss also wieder mal abwägen.

In diesem Fall hat Schroeder die Aufmerksamkeit genutzt, um seine Kritik zu platzieren und gleichzeitig ein Publikum jenseits von "Nius" über Reichelt und die Plattform aufzuklären (wobei die Aufmerksamkeit dafür wohl ausbliebe, wenn alle möglichen Promis dort ständig zu Gast wären). Interessant ist zum Beispiel Schroeders Beobachtung zu Reichelts Themenauswahl. Schroeder:

"Vieles von dem, was ihn (Reichelt, Anm. Altpapier) innerlich bewegt, kommt entsprechend kaum vor: Etwa der russische Angriffskrieg in der Ukraine, wo er mit guten Gründen auf der Seite der Ukraine steht. Das könnte die mutmaßlich nicht geringe Zahl an Putin-Fans in seiner Gefolgschaft irritieren. Darum erscheint mir das Thema unterbelichtet."

Gleichzeitig wird es viele Menschen geben, die auf das Interview stoßen, Schroeder erkennen und die Sendung als ganz normales Talkformat in Erinnerung behalten.

Fehler machen und zugestehen

Aber noch einmal zurück zum Essay von Stefan Brandenburg. In seinem Text identfiziert er vor allem zwei Probleme. Das eine fasst er so zusammen:

"In unserer Herkunft, in unserer Ausbildung, in Wohnorten und Lebensweise. Und wir gleichen uns noch weiter an, wenn wir nichts dagegen tun."

Es gebe eine Tendenz zur Anpassung – "Meinungsführerschaft, Trampelpfade, Korridore". Der Schlüssel sei, die Debattenkultur. Also: "Nicht den schnellen Konsens suchen, sondern den Widerspruch." Das ist sicherlich ein guter Ratschlag. Aber vielleicht müssten sich dann auch gewisse Strukturen so ändern, damit es leichter wird, unterschiedlich zu sein. Stichwort Ambiguitätstoleranz.

Hier im Altpapier gibt es zum Beispiel die Maßgabe, nicht mithilfe von Sternchen und Doppelpunkt zu gendern, sondern eher durch Nennung der männlichen und weiblichen Form. Man könnte auch sagen: Alle machen es so, wie sie möchten. Dann sieht es eben nicht ganz so einheitlich aus, das wäre der Nachteil. Aber vielleicht bildet das eher die Wirklichkeit ab.

Das zweite Problem, das Brandenburg anspricht, ist die Migration. Brandenburg schreibt über die Silvesternacht 2015 in Köln, die Folgen und eine Recherche dazu, deren Ergebnis laut Brandenburg war: "Es gibt eine steigende Zahl an Gruppenvergewaltigungen, und Ausländer sind überproportional beteiligt."

Man habe den Beitrag im Informationsprogramm veröffentlicht, im Januar, kurz nachdem die "Correctiv"-Recherche zum Treffen in Potsdam erschienen war, und natürlich habe man darüber diskutiert, ob das der richtige Zeitpunkt sei. Brandenburg schreibt:

"Wir brauchen Multiperspektivität auch da, wo es wehtut – hier wurde der Satz mal ganz konkret. Und das Beispiel führt zum Kern des Problems: Das Geschäftsmodell von Hetzern und Demagogen befördern wir eben gerade nicht, weil wir Probleme benennen. Wir befördern es, wenn wir sie verschweigen. Wobei verschweigen nach Zensur und Faktenunterdrückung klingt, nach Verschwörungserzählung. Reden wir also treffender von der Vorstufe des Verschweigens, vom nicht so genauen Hinsehen."

Und hier sind wir schon wieder auf einem Gebiet, auf dem vieles schiefgehen kann. Man kann verkleidete Hetze, also rechtspopulistische Narrative, verbreiten, weil man denkt: Wir wollen das nicht verschweigen, die Leute denken das ja nun einmal. Man kann wichtige Dinge verschweigen, weil man genau diesen rechten Erzählungen keinen Raum geben möchten.

Und man kann schon jetzt vorhersagen: Es wird nicht immer gelingen, alles richtig zu machen. Vieles wird schiefgehen. Deswegen braucht es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht nur die Bereitschaft, auch die Meinungen und Sichtweisen abzubilden, die nicht den eigenen entsprechen. Vor allem braucht es die Einsicht, dass man es nur richtigmachen kann, wenn man sich selbst und anderen Fehler zugesteht. Um Vielfalt möglich zu machen, braucht es also vor allem eine gute Fehlerkultur.


Altpapierkorb (Krimiflut, SZ löscht Artikel, Medienfreiheitsgesetz, Durchsuchung, Kölner Stadtanzeiger, Lindemann, Hörspielpreis, Correctiv)

+++ Alexander Krei nimmt die öffentlich-rechtlichen Sender in einem Kommentar für das Medienmagazin DWDL gegen die Kritik in Schutz, ihr Programm sei ambitionslos. Krei: "Wer sich ernsthaft mit dem auseinandersetzt, was ARD, die Degeto und das ZDF zuletzt auf die Strecke gebracht haben, wird feststellen, dass dieser Vorwurf eigentlich ins Leere zielt. Im Gegenteil, die Öffentlich-Rechtlichen sind offensichtlich motiviert wie nie zuvor, mit unkonventionellen Stoffen ein junges Publikum anzusprechen, haben in ihrer Experimentierfreude längst die auf Mainstream einschwenkenden Streamer überholt. Was man den Sender dagegen vorwerfen kann, ist stattdessen, dass sie es offensichtlich nicht schaffen, diese große Vielfalt an Produktionen der Öffentlichkeit auch entsprechend zu vermitteln (…)"

+++ Die "Süddeutsche Zeitung" hat einen Artikel über die Kryptowährung gelöscht und durch einen Hinweis ersetzt, nachdem das Magazin "Capital" berichtet hatte, der Autor befinde sich in einem Interessenkonflikt, weil er selbst Blockchain-Unternehmer sei und im vergangenen Jahr zur Teilnehmer an der Studie aufgerufen hatte, über die er nun berichte. Laura Gabler fasst den Fall auf der FAZ-Medienseite zusammen. In ihrem Text zitiert sie auch den Autor, der den Vorwurf zurückweist.

+++ Der Rat der Europäischen Union hat das Europäische Medienfreiheitsgesetz, kurz EMFA, fast einstimmig angenommen – nur Ungarn war dagegen, berichtet "epd Medien" (nicht online). Das Gesetz verbietet Behörden, in redaktionelle Entscheidungen einzugreifen und zielt darauf ab, politische Instrumentalisierung von Medien, Verschleierung von Eigentumsverhältnissen und die Kontrolle der Medienfinanzierung über Werbung zu unterbinden.

+++ Die Durchsuchung der Wohnung eines 19-jährigen Journalisten aus Halle an der Saale war nach Ansicht des Landgerichts Leipzig rechtswidrig, berichtet unter anderem die Mitteldeutsche Zeitung. Der Mann hatte unter anderem Fotos von Brandsätzen gemacht, die Demonstrierende auf Polizeikräfte geworfen haben sollen. In einer gemeinsamen Pressemitteilung schreiben die Anwälte des Betroffenen, die Staatsanwaltschaft habe in ihrem Durchsuchungsbeschluss verschwiegen, dass es sich bei dem Mann um einen Journalisten handelt. "Offensichtlich ging die Staatsanwaltschaft davon aus, dass bei einem freien, jungen Journalisten nicht die gleichen Maßstäbe anlegen zu müssen", heißt es in dem Schreiben.

+++ Für den Online-Auftritt des "Kölner Stadtanzeigers" ist ab Mai nicht mehr die Redaktion zuständig, sondern ein digitales Kompetenzzentrum, also "Digital Competence Center", kurz DCC, berichtet Marvin Schade für sein Magazin "Medieninsider". Hintergrund des Ganzen: So soll mehr Geld reinkommen, denn der Webauftritt macht Miese.

+++ Noura Mahdhaoui hat für das NDR-Medienmagazin "Zapp" mit der NDR-Reporterin Elena Kuch darüber gesprochen, warum sie eine neue Dokumentation über die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann gemacht hat, obwohl man ihm strafrechtlich anscheinend nichts nachweisen kann. In dem Bericht geht es um eine neue Zeugin, Cynthia A., die zwar von Sex mit Lindemann berichtet, ihm aber nicht vorwirft, sie zu etwas gezwungen zu haben. Auf die Frage, warum sie noch einmal berichten, sagt Elena Kuch: "Für uns ist der Fall Cynthia A. total exemplarisch für dieses System Row Zero und für den Vorwurf des Machtmissbrauchs. Vor allem, weil er so ein Grenzfall ist. Weil sie sagt, ich habe nicht Nein gesagt, aber das, was er gemacht hat, war aus meiner Sicht nicht okay. Darunter leide ich bis heute."

+++ Die ARD stellt den Deutschen Hörfunkpreis ein, meldet "edp Medien".  Ein Sendersprecher sagte, den Hörspielredaktion erscheine ein Preis "fragwürdig, bei dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen durch Rundfunkbeiträge finanzierten Preis an Produktionen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vergibt".

+++ Das Oberlandesgericht Hamburg hat in zwei Fällen über die "Correctiv"-Recherche zum Treffen in Potsdam entschieden – in beiden Fällen vollumfänglich für zugunsten des Recherchenetzwerks, berichtet unter anderem der "Spiegel". In einem Fall ging es um eine Beschwerde des Staatsrechtlers Ulrich Vosgerau, der an dem Treffen teilgenommen hatte und sich falsch wiedergegeben fühlte. Im anderen hatte Klaus Nordmann, ebenfalls Teilnehmer der Konferenz, sich unter anderem dagegen gewehrt "Afd-Großspender" genannt zu werden. Das Gericht wies die Beschwerde des AfD-Großspenders zurück. Beide Entscheidungen sind vorläufig.

Das Altpapier am Dienstag schreibt René Martens.

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