Das Altpapier am 7. März 2018 Wenn Journalisten sich nicht wehren
Hauptinhalt
Verhalten sich Schweizer und deutsche TV-Kollegen gegenüber rechten Leuten wie Kinder schlagender Eltern? Ist die Dichotomie, in einem Beitrag immer zwei Seiten zu Wort kommen zu lassen, tendenziell Bullshit? Haben wir wirklich aus Gladbeck gelernt? Ein Altpapier von René Martens
Inhalt des Artikels:
- Es gibt nicht nur zwei Seiten, sondern viele
- Vergebliche beziehungsweise fahrlässige Artigkeit
- Direkte Demokratie doesn’t suck at all
- Die Gefahr der Steuerfinanzierung
- "Die Verführungskraft des Animalischen"
- Altpapierkorb (Zehn Jahre nach dem "The Wire"-Ende, 35 Jahre an.schläge, #ichbinhier, Polizeimachtverstärker Twitter)
Ihr berichtet ja nicht objektiv, sagen viele Rechtsradikale gern in Richtung Medien - wobei sie sich in der Regel natürlich etwas weniger gewählt ausdrücken.
Tun wir doch, antworten dann manche Journalisten. Oder sie sagen zu diesem Thema Sätze wie: "Die neutrale und objektive Berichterstattung der 'Tagesschau' könnte angesichts politisch unruhiger Zeiten wichtiger sein denn je" (ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke).
Zu den vielen großen Fehlern, die Journalisten im Umgang mit dem rechten Milieu machen, gehören solche Äußerungen. Die richtige Reaktion auf den Vorwurf der mangelnden Objektivität lautet (falls man denn überhaupt meint, dass eine notwendig ist):
Stimmt, wir sind nicht objektiv, das ist aber auch gar nicht möglich.
Es gibt nicht nur zwei Seiten, sondern viele
Warum Letzteres zutrifft, arbeiten Maren Urner und Han Langeslag in einem Artikel für das Online-Magazin Perspective Daily heraus, das wir Flapsigkeits-Fans hier mal der Einfachheit halber als hiesiges Zentralorgan des konstruktiven Journalismus bezeichnen wollen.
Logo: Dass es im Journalismus keine Objektivität gibt, ist ein ranziger Hut, aber das Thema hat angesichts der "Vorwürfe von AfD, Trump und anderen" (Urner/Langeslag) neue Relevanz gewonnen. Schon die Auswahl eines Themas und die Entscheidung, wie man es platziert, seien ja subjektiv, so die Autoren. Und:
"Nachdem das Thema gewählt ist, beginnt die journalistische Routine. Und die ist durchzogen von zahlreichen weiteren subjektiven Entscheidungen."
Darunter folgende "künstliche Dichotomie":
"Zum journalistischen Handwerk gehört es, 'beide Seiten darzustellen.' Was durchaus sinnvoll ist, wenn Regierung und Opposition zu einem Gesetzesentwurf befragt werden, funktioniert in vielen Zusammenhängen aber nicht. Entweder weil es mehr als zwei Seiten gibt und neben 'schwarz' und 'weiß' auch noch viele Grautöne stehen. Oder weil Verhältnismäßigkeiten ignoriert werden, wenn zum Beispiel dem einen Klimawissenschaftler, der den wissenschaftlichen Konsens von 99,9 Prozent aller Klimawissenschaftler vertritt, ein sogenannter Klimaskeptiker gegenübergestellt wird."
Wobei es natürlich noch viele andere Beispiele für das beschriebene Ignorieren von Verhältnismäßigkeiten gibt.
Vergebliche beziehungsweise fahrlässige Artigkeit
Da heute schon von großen Fehlern, die Journalisten im Umgang mit dem rechten Milieu machen, die Rede war: Einen noch größeren beschreibt die WoZ-Redakteurin Susan Boos für die Medienwoche anlässlich des Verhaltens Schweizer Fernsehjournalisten am vergangenen No-Billag-Abstimmungssonntag (siehe Altpapier-Spezial), und ich zitiere es hier deshalb, weil vieles davon (und der Schluss zu hundert Prozent) übertragbar ist auf das Verhalten hiesiger Fernsehjournalisten gegenüber der AfD:
"Die 'No Billag'-Initianten, die gerade erbärmlich abgestraft worden sind, schwatzen sich zu Helden hoch. Und die öffentlichen Sender geben ihnen reichlich Platz dafür. 'No Billag'-Mensch Oliver Kessler mag wie ein harmloser Staubsaugervertreter wirken, ist aber ehrgeizig, rechts und sehr libertär. Dank 'No Billag' ist er medial bekannt. Er wird versuchen, diese Prominenz auszunutzen und krasse Ideen pushen – nur um nicht wieder im politischen Nichts zu verschwinden. Und die Medien werden ihm beistehen, auch die SRF-JournalistInnen. Denn sie werden sich nicht getrauen, ihn und seine Freunde zu ignorieren, wie sie das in den 1990er Jahren noch taten."
Boos’ Fazit:
"Die SRF-JournalistInnen verhalten sich zunehmend wie Kinder schlagender Eltern. Sie versuchen ihre Eltern zufrieden zu stellen, sind noch artiger und angepasster, in der Hoffnung, das Wohlverhalten werde mit weniger Prügel und mehr Liebe belohnt. Dem wird aber nicht so sein. Die Rechten werden die SRG vor sich her prügeln – weil es so schön ist und die sich immer weniger wehren. Und das ist das eigentliche und unheimliche Ergebnis dieser Abstimmung."
Direkte Demokratie doesn’t suck at all
Was Deutschland aus den Erfahrungen des Schweizer Abstimmungskampfes lernen kann, der "einer der leidenschaftlichsten seit Jahren" war - der Frage widmet sich der Schweizer Spiegel-Redakteur Mathieu von Rohr bei Spiegel Online.
"Richtig wäre es, die Debatte selbst zu führen und jene Fehler einzugestehen, die ohnehin jeder sehen kann: Wie will man ernsthaft die byzantinischen föderalen Strukturen der ARD verteidigen?",
schreibt von Rohr. Und lobt auch ein Schweizer Spezifikum:
"Am Ende dieser Debatte haben die Initiatoren mit ihrem radikalen Volksbegehren das Gegenteil dessen erreicht, was sie sich gewünscht hatten: Der öffentlich finanzierte Rundfunk in der Schweiz geht gestärkt aus ihr hervor (…) Hier zeigt sich einer der Vorteile der in Deutschland oft misstrauisch beäugten direkten Schweizer Demokratie: Sie ist für die Beteiligten anstrengend, hat aber den Vorteil, dass polarisierende und komplexe Themen wochenlang intensiv debattiert werden - und am Ende bilden sich die Bürger eine Meinung und fällen eine Entscheidung, die dann auch gilt."
Was im Rahmen der Debatte über die Öffentlich-Rechtlichen (bzw. nach No-Billag) noch gesagt werden muss: meine zwei Cent dazu gibt’s bei Zeit Online. Unter anderem geht es darum,
"worüber Kritiker von ARD und ZDF selten reden: Was läuft in den Politik- und Auslandsmagazinen gut, was ließe sich verbessern? Wie hat sich die Kulturberichterstattung entwickelt? Was tut sich in den Reportageformaten?"
Die Gefahr der Steuerfinanzierung
Am Montag war im bereits erwähnten No-Billag-Spezial kein Platz mehr für einen Schlenker nach Österreich. ORF-Moderator Armin Wolf, der von antidemokratischen Gegnern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wohl am stärksten angegriffene Fernsehjournalist im deutschsprachigen Raum, ist sich, wie er in seinem Blog schreibt, zwar
"ziemlich sicher, dass eine solche Abstimmung auch in Österreich für den ORF ausgehen würde. Deshalb werden die Gebührengegner (nunmehr) wohl deutlich weniger Interesse daran haben".
Besorgt ist er dennoch:
"Was viel wahrscheinlicher – und deshalb auch bedrohlicher – ist: Eine Umstellung der ORF-Finanzierung."
Immer wieder redeten FPÖ- und ÖVP-Politiker davon, den ORF aus dem Bundesbudget, also via Steuern, finanzieren zu wollen. Wolf:
"Für den ORF hingegen wäre (das) fatal (…) Bei jährlichen Budgetverhandlungen könnte es (…) ganz schnell passieren, dass der Finanzminister mal sagt: 'Wir müssen dringend sparen, für den ORF gibt es nächstes Jahr leider zehn Prozent weniger.' (…) De facto wäre eine Budget-Finanzierung eine Verstaatlichung des ORF (…) Mit einer Finanzierung, die nicht mehr die Bürger direkt bezahlen – sondern die von der Regierung jedes Jahr an den ORF überwiesen wird, wäre er unter völliger politischer Kontrolle."
Die Regierungskoalition in Wien wolle "noch vor dem Sommer" bei parlamentarischer Enquete diese Fragen diskutieren – und dann entscheiden. Solche Vorschläge kommen in anderen Ländern auch aus linksmittigen Kreisen (etwa der dänischen Sozialdemokratie, siehe eine in der vergangenen Woche erschienene europäische Übersicht in der Stuttgarter Zeitung)
"Die Verführungskraft des Animalischen"
Der anlässlich des 30. Jahrestages der Geiselnahme von Gladbeck zur Ausstrahlung anstehende ARD-Zweiteiler, der der Einfachheit "Gladbeck" heißt, findet bei den heute an den Start gehenden Rezensenten mehr Beifall als beim am Montag hier zitierten FAS-Mann Harald Staun ("eine Wikipedia-Version des Dramas").
Sven Goldmann schreibt im Tagesspiegel über Kilian Riedhofs Film:
"Es gibt in dieser surrealen Groteske keine Unschuldigen. Nicht bei der Polizei, die die Verantwortung von Bundesland zu Bundesland und Einsatzleiter zu Einsatzleiter weiterschiebt. Aber auch nicht bei den Voyeuren mit Presseausweis, die den Gangstern eine Tankfüllung spendieren, sie vor Zivilpolizisten warnen und sich ihnen als Fremdenführer andienen, fasziniert von der Vorstellung, bei einer richtigen Kriminalgeschichte mitzuspielen. Kilian Riedhof nennt das 'die Verführungskraft des Animalischen.'"
Ursula Scheer (FAZ, derzeit nicht online) meint:
"Riedhof geht es mit seinem hervorragend besetzten Ensemblefilm ohnehin nicht um einzelne Schuldige, sondern um das Ganze. Irgendwo zwischen innen und außen, zeigt er, ist schon damals, als Live-Bericht-erstattung von der Straße als der heißeste Scheiß der Medienbranche galt, etwas verlorengegangen. Die Distanz. Die Verantwortung. Das Bewusstsein dafür, was echt ist und was Show."
Ihr Fazit:
"Man habe aus Gladbeck gelernt, hieß es immer wieder. Haben wir? Was wäre, wenn heute Ähnliches geschähe? Abertausende Handys würden gehoben, um Fotos zu schießen, die digitalen Kanäle würden glühen."
Die Frage erst recht verneinen würde wohl Josef Kelnberger (SZ):
"Die Schuld der Medien, bis heute beschworen, relativiert sich, wenn man sieht, wie viel Raum ihnen die Polizei gewährte. Und sie relativiert sich erst recht, wenn man die Bilder von 'Gaffern' auf deutschen Straßen vor Augen hat, die das Leid und das Sterben anderer Menschen filmen, für ein paar Likes auf Facebook. Die widerlichen Reporter von Gladbeck 1988 - das sind heute die Smartphone-Jedermann-Reporter."
Altpapierkorb (Zehn Jahre nach dem "The Wire"-Ende, 35 Jahre an.schläge, #ichbinhier, Polizeimachtverstärker Twitter)
+++ Jan Wiele war für die FAZ-Medienseite im Deutsch-Amerikanischen Institut zu Heidelberg bei der Veranstaltung "Media in the age of Trump". Er schreibt: "Mit den stärksten Eindruck hinterließ John Nichols von The Nation, der ältesten Wochenzeitschrift der Vereinigten Staaten: Er zeichnete ein geradezu desaströses Bild von 'Nachrichtenwüsten' in Amerika, in denen es keinerlei Lokalmedien mehr gebe und die Menschen nicht mehr wissen, wer ihre Bürgermeister oder Abgeordneten sind. Nichols leitete daraus einen Appell für einen flächendeckenden neuen Journalismus ab, der insbesondere die ärmere Bevölkerung ohne jegliche Bezahlschranken erreichen soll. Sein Modell, diesen Journalismus durch sogenannte "vouchers", um den sich Portale bewerben könnten, aus Steuern zu finanzieren, ließe sich in gewisser Weise mit den hiesigen Vorschlägen für eine 'Kulturflatrate' vergleichen – mit allen wirtschaftlichen und moralischen Fragen, die das mit sich bringt."
+++ "Exactly 10 years after its final episode aired, 'The Wire' is established as one of the greatest shows in the history of US television – some would say the greatest." Ich zum Beispiel, aber das nur am Rande. "But, while shows such as 'The Sopranos' and 'Mad Men" launched with loud fanfares and walked paths strewn with accolades, strong ratings and Emmy awards, The Wire’s route to the pantheon was a long slog." Der Guardian weiß mehr.
+++ Sehr crazy: Patrick Gensing, Faktenfinder-Chef von tagesschau.de, ist gerade im Urlaub, hat von dort aus aber dem Twitter-Troll Julian Reichelt Recherchematerial zur Verfügung gestellt, damit diesem - möglicherweise, wir erwarten lieber nicht zu viel - klar wird, dass er den Tweet eines Nazi-Accounts verbreitet hat, was er, also der Troll, getan hat, um Gensings Musikgeschmack in Frage zu stellen und seiner Abneigung gegen die antifaschistischen Chartsstürmer Feine Sahne Fischfilet zum Ausdruck zu bringen. Deren Ostseestadion-Punkrock finde ich zwar in der Regel mittelprächtig, aber manchmal steckt mich der Überschwang der Musik dann doch an, und aus medienjournalistischer Sicht sind FSF dank Reichelt ja nun eh die Band der Stunde, also singe ich heute gern: "Wir sind zurück in unserer Stadt / Und scheißen vor eure Burschenschaft / O-hoo-hoo, o-hoo-hoo!"
+++ Die NDR-Info-Reihe "Perspektiven", die sich dem konstruktiven Journalismus verschrieben hat (den wir heute ganz oben ja bereits beim Wickel hatten), stellt die Facebook-Gruppe #ichbinhier vor. Sie will den organisierten Manipulationen von Rechtsradikalen im Netz (siehe dieses und dieses Altpapier) etwas entgegensetzen. Gründer Hannes Ley "will die Kommentarstränge bei Facebook zurückerobern, er will sie konstruktiver machen, den Hass so nicht stehen lassen".
+++ Polizisten, die Falsches twittern - das am Dienstag hier aufgegriffene Thema handelt nun auch Sebastian Bähr unter der Überschrift "Twitter als Machtverstärker" fürs Neue Deutschland ab.
+++ Das Neue Deutschland stellt darüber hinaus die aus Wien stammende feministische Zeitschrift an.schläge vor, die in diesem Jahr ihr 35-jähriges Jubiläum feiert, aber trotz steigender Abozahlen finanzielle Sorgen hat. Hintergrund: "Derzeit erhält das Magazin Förderung aus dem Frauenministerium und von der Frauenabteilung der Stadt Wien. Im Jahr 2000, während der ersten Koalitionsregierung von konservativer ÖVP und rechtsnationalistischer FPÖ, wurden Förderungen bereits einmal gekürzt. In Österreich erhalten Printmedien staatliche Presseförderung."
+++ Dass der am Samstag zu kürende Sieger der Pro-Sieben-Show "Das Ding des Jahres" möglicherweise alt aussieht, steht in der SZ. Die Prämie für den besten Dingbastler besteht nämlich darin, bei den Sendern der Pro-Sieben-Sat1-Gruppe Werbung im Wert von 2,5 Millionen Euro schalten zu dürfen, und es kann, so Hans Hoff, sein, dass das Finanzamt "dies im Nachhinein als Einnahme deklariert. Bei einem Steuersatz um die 44 Prozent kämen flott mal 1,1 Millionen Steuerschuld zusammen".
Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.