Das Altpapier am 20. September 2018 Trollige Pointe

Geben sich Medienmenschen zu sehr dem Sog von Likes hin? Werden einige deshalb zu Trollen? Es kommen Zweifel an der Weisheit der Vielen auf und an dem Sinn hinter tagelangen Spekulationen über die sexuelle Orientierung von Stoffpuppen. Ein Altpapier von Nora Frerichmann.

Und, welche Meldung ist Ihnen in den vergangenen zwei Tagen am häufigsten über den Smartphone-Screen gekrabbelt? Bei mir waren besonders viele Nachrichten über die sexuelle Orientierung zweier fast 50 Jahre alter Stoffpuppen dabei. Stoffpuppen, nur um das nochmal zu betonen.

Erst erzählte Sesamstraßen-Autor Mark Saltzman, er habe sich bei seinen Geschichten über Ernie und Bert von seiner eigenen Beziehung mit dem Cutter Arnold Glassman inspirieren lassen. Dann hieß es wieder, Ernie und Bert seien nur beste Freunde, was natürlich für weitere Artikel und Spekulationen sorgte: Über die sexuelle Orientierung von Stoffpuppen.

Jaja, Kultstatus und so. Aber ist Homosexualität unter deutschen Medienmenschen immer noch so eine Sensation, so ein Kuriositätsfaktor, dass sie tagelange Spekulationen über Stoffpuppen nötig macht? Scheinbar. Martin Zips wirft bei der Süddeutschen Zeitung die Frage auf:

"Spielt es für Kinder überhaupt eine Rolle, ob die langjährigen WG-Partner Ernie und Bert schwul sind, der Pumuckl vielleicht eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hat und Pippi Langstrumpf heute in einer offenen Beziehung mit Tommy und Annika lebt?"

In Kindergärten spielt es wahrscheinlich eine kleinere Rolle, als in der Berichterstattung der vergangenen Tage. Nur, was sagt uns das über unsere Medien?

Die Vertrollung

Was tut sich ansonsten so? Ach ja, das rechtsrandige Portal Jouwatch (Achtung, Link führt wirklich da hin) ist neuerdings Fan von Welt-Herausgeber Stefan Aust. Denn sein Kommentar "Die Mutti aller Probleme" hat ordentlich abgeräumt im Besorgte-Bürger-Spektrum und Hutbürger-Milieu. Der Text sei

"ganz außerordentlich erfolgreich, weil er ganz außerordentlich anschlussfähig ist für die rechte und rechtsradikale Szene",

schreibt Stefan Niggemeier bei Übermedien (teilweise €). Aust kramt dabei tief in der Framing-Kiste und vergleicht geflüchtete junge Männer mit einer Armee, verwendet falsche Zahlen und bedient verschiedenste Ressentiments und Verschwörungstheorien, die einstmals als rechter Rand angesehen wurden.

"Der Text will ein Plädoyer sein für Vernunft und für Ernsthaftigkeit; er hält sich offenbar für eine unsentimentale Auseinandersetzung mit den Problemen Deutschlands im Jahr 2018 und ihren Ursachen, ehrlich und schonungslos (den anderen gegenüber). Aber schon die Überschrift verrät das behauptete hehre Anliegen für eine billige Pointe mit ollem Merkel-Spottwort: 'Mutti aller Probleme'."

Niggemeier sieht in dem Text sogar Material für die Geschichts- bzw. Medienwissenschaftsbücher:

"Wenn man in ein paar Jahren versucht nachzuvollziehen, wie eigentlich die Dämme brachen, wie die rechten Verdrehungen und Verschwörungsvermutungen, ihre Verachtung und ihre Mems ihren Weg in das Herz der seriösen, bürgerlichen Presse fanden, dann sollte unbedingt ein Artikel von Stefan Aust zum umfangreichen Anschauungsmaterial gehören."

Einen Erklärungsansatz für solches Verhalten, mit dem Aust neben den Horsts und Hansls in der deutschen Politik ja nicht allein ist, versucht Sascha Lobo auf Papier bzw. auf den Bildschirm zu bringen. In seiner SpOn-Kolumne diagnostiziert er eine "Vertrollung der Konservativen", oder einiger Konservativer, um dem Ganzen die Absolutheit zu nehmen. Die Zahl und Lautstärke derjenigen, die die schiere Lust an der Provokation als wichtigsten Maßstab betrachten, nehme stark zu. Lobos Erklärungsansatz: Einem Teil der Konservativen bekomme das Internet nicht.

"Ich glaube, dass neben persönlichen und politischen Verwerfungen die sozialen Medien einen Teil der konservativen Publizisten in die Trollerei regelrecht hineingesogen haben. Es gibt ja tatsächlich einen Sog, wenn man die ungeheure Wucht des unmittelbaren Feedbacks in Echtzeit spürt."

Und dann schiebt er noch ziemlich ehrlich nach:

"Auch aus eigenem Erleben kenne ich die Macht der Like-Nadel. Wie die Reaktionen des Publikums als Bestätigung und Bestärkung des Weges verstanden wird. Wie man sich deshalb hinreißen lässt zu einem Social-Media-Populismus. Wie man sich auch total abseitige Kommentare schönzureden versucht, wenn sie bloß unterstützend daherkommen."

Wäre damit die Weisheit der Vielen für das sogenannte Social Web als Illusion entlarvt und das Gegenteil bewiesen? Quasi eine Tollheit, eine Trollheit, eine Blödheit der Vielen, die weitere Provokationen und Verdrehungen unterstützen, ja fordern? Die nicht an Diskussion und Problemlösung interessiert ist, sondern lediglich daran, sich in seinem eigenen Weltbild zu suhlen und froh ist, wenn jemand wie Aust noch einen weiteren Eimer Matsche ausleert, der alle Annahmen bestätigt?

Ganz so generalisierend kann man das natürlich auch nicht stehenlassen. Denn wer die Vielen genau sind und wie viele sie wirklich sind, lässt sich in Zeiten von Bots und anonymen Accounts ja nicht immer auf den ersten Blick ausmachen. Und Wikipedia, #IchBinHier oder die No-Hate-Speech-Initiative liefern ja auch Gegenargumente. Lobo sieht jedenfalls hinter dem Sog der Likes, dem die Vertrollten folgen, ein größeres Problem: die

"Wiederkehr des Tribalismus als digitaler Tribalismus. Wo es nicht mehr um Wahrheit oder Angemessenheit geht – sondern nur noch um Gruppenzugehörigkeit. Wo also Selbstähnlichkeit zum moralischen Kriterium wird. Wo ein dauerbedrohtes Wir konstruiert wird, das sich im ständigen Kampf gegen ungefähr alles befindet."

Deshalb warnt er davor, sich den Heilsversprechen der Likes auszuliefern.

"Das schafft man aber nur, wenn man die Mechanismen der sozialen Medien begreift. Sonst geht man Facebooks technischer Erzählung auf den Leim, dass ein 'Like' eine substantielle Form der Unterstützung sei. Das ist er nicht. Ein Like ist in den meisten Fällen ein situatives, digitales Gemeinschaftsgrunzen, dessen Bedeutung an der Grenze zum Nichts entlangtänzelt."

Auch bei der Diskussion um Chemnitz und Maaßen sieht Lobo deutliche Vetrollungs-Symptome. Anzuwenden ist das auch auf die Verdrehung der Begriffe "Mord" und "Totschlag" von Jurist Maaßen (siehe Altpapier). Lobo sieht es vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion um die semantischen Feinheiten des Begriffs "Hetzjagd":

"Exakt die Hetzjagd-Relativierer sprachen dann aber von einer 'Treibjagd' auf Maaßen, weil der ehemalige Verfassungsschützer und jetzige Seehöfling aufgrund eigener Handlungen heftig kritisiert wurde. Eine Jagd ist keine Jagd, aber Kritik ist eine Jagd. Das solche Verbiegungen nicht zu cerebralen Implosionen führen, deute ich als Zeichen einer Trollhornhaut auf dem Logik-Lappen des Großhirns. (…) Sprachliche Präzision wird nur dort eingefordert, wo sie der eigenen Haltung entgegenkommt. Sonst wird die Political-Correctness-Keule ausgepackt. Doppelstandards ist ein zu harmloses Wort dafür, das grenzt an gezielte Realitätsverweigerung. In jedem Fall handelt es sich um eine gezielte Verhinderung der Diskussion."

Alles halb so schlimm?

Was also tun gegen eine Vertrollung innerhalb von Medienhäusern? Mit Medienkompetenztraining und der Klassifizierung von Likes als Grunzern wird man bei abgedrifteten Medienmenschen oder Politikern wohl nicht weit kommen. Denn es scheint sich ja um eine gewollte Frontenbildung zu handeln. Und das führt, wir kennen das, zu Abgrenzung und einem stärkeren Wir-Gefühl einzelner Gruppen.

Dabei ist die Gesellschaft in Deutschland ja auch gar nicht so gespalten, wie diese Trolle es gern hätten oder wie sie es darstellen. So berichtet die Deutsche Welle über eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach:

"'Die Polarisierung wird überzogen wahrgenommen', sagte dann am Mittwoch auch Renate Köcher (Anm. Altpapier: Allensbach-Chefin). Zwar gebe es eine Polarisierung, sie sei aber nur in Minderheiten zu finden. Vom 'kranken' Klima in den USA, so Köcher, sei Deutschland wirtschaftlich und politisch 'meilenweit' entfernt."

Also: Keep calm and carry on reporting? So würde es jedenfalls auf britischen Souvenir-Artikeln formuliert werden. Vor allem auch über die, die sich wie Aust dem Like-Sog hingeben. Denn dann schlägt den Vertrollten neben der Zustimmung in den (a)sozialen Medien vielleicht doch noch ein bisschen Realität entgegen. Das wäre ja schon mal ein Anfang.

Graben und mauern

Ach ja, dass Maaßen nicht mehr Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz ist, haben Sie sicher schon diverse Male gelesen und gehört. Einige Zweifel an der Behörde mögen sich allerdings mit der als Abgang verkauften Beförderung von Maaßen nicht bei allen zerstreuen. Auch der Umgang mit Journalisten wirft immer wieder Fragen auf. Von dem Akkreditierungsdebakel in Hamburg 2017 will ich dabei gar nicht erst anfangen.

Auch eine Auseinandersetzung der Zeit mit dem Bundesamt lässt an dessen Wertschätzung für den Journalismus und seiner Kontrollfunktion zweifeln. Denn das Amt will immer noch keine Informationen über das Disziplinarverfahren gegen einen Verfassungsschützer rausrücken, der ein paar Jahre zuvor Akten aus dem Umfeld des NSU schreddern ließ. Toralf Staud schreibt bei Zeit Online.

"Doch was wurde aus diesem Verfahren, und wie lief es ab? Die Antwort könnte interessant sein. Sie würde zeigen, ob die Konsequenzen für den Referatsleiter tatsächlich "knallhart" waren. Und sie würde offenlegen, wie engagiert die Behörde versucht hat, dessen Motive zu klären, und was dabei herauskam."

Eine gerichtliche Auseinandersetzung zwischen der Zeit und dem Verfassungsschutz, die bereits seit mehr als vier Jahren läuft,

"wirft ein Schlaglicht darauf, wie verbissen sich Behörden bisweilen gegen Journalistenfragen wehren. Sie zeigt, was das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) von öffentlicher Kontrolle hält und wie es Steuermittel dafür einsetzt, um zu verhindern, dass Bürger etwas aus dem Innenleben der Behörde erfahren."

In dem Text wird detailliert nachgezeichnet, was das Amt alles unternimmt, um keine Auskunft geben zu müssen. Die Auseinandersetzung zog sich über verschiedene Gerichte und wird heute vor dem Oberverwaltungsgericht Münster weiterverhandelt.

Wenn so akribisch hinausgezögert und gemauert wird, lohnt es sich in der Regel, weiter zu graben.

Altpapierkorb (Verunglückter Journalist, SWR & Silberstein, ZDF-Gewinnspiel, dänischer Rundfunk)

+++ Im Hambacher Forst ist ein Blogger von einer Brücke gestürzt und ums Leben gekommen. Die taz und der Tagesspiegel (bzw. dpa) berichten.

+++ Über Schlecky Silberstein, sein BBB-Video "Volksfest in Sachsen", die von der AfD vermutete Diskreditierungskampagne der bösen "Systemmedien" und die Drohungen gegen Silberstein haben wir hier gestern und vorgestern bereits berichtet. Jetzt hat sich auch der SWR, der ja für die Produktion verantwortlich ist, eingeschaltet. In öffentlich-rechtlichem PR-Sprech wurde gestern angekündigt, sich zu wehren bzw. das Ganze "sorgfältig und sachlich prüfen" und gegebenenfalls "notwendige Maßnahmen" zum Schutz der Journalisten einzuleiten, berichtet der Tagesspiegel. Wie genau das aussehen soll, sei bisher nicht bekannt.

+++ Gestern wurden hier bereits die starken Sparmaßnahmen und Programmkürzungen beim dänischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk angekündigt. Heute gibt’s mehr Einzelheiten bei der taz und Deutschlandfunks "@mediasres". Die Pläne trügen die "Handschrift der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei: weniger Stellen und tiefgründige Online-Artikel, dafür mehr Wert auf christliche Wurzeln und Musik in Landessprache", schreibt Miriam Arndts für das Medienmagazin.

+++ Bei FAZ.net gibt’s ein Porträt über den "Anwalt und Polemiker" Joachim Steinhöfel. Constantin van Lijnden schreibt über sein Vorgehen gegen die Löschpraxis von Facebook.

+++ Facebook wiederum betreibt weiter Imagerettung und baut einen "War Room" gegen Fake News auf, berichtet die New York Times.

+++ Wenn es um Gewinnspiele geht, verstehen die Deutschen keinen Spaß. Und wenn es um öffentlich-rechtliche Medien geht, meist auch nicht. Die Meldung "Schummelvorwürfe: ZDF räumt Fehler von Kiewel im Fernsehgarten ein" (hier beim Kölner Stadt-Anzeiger, hier bei der FAZ) dürfte für Agenturen also ein Durchläufer gewesen sein. Bei einem Gewinnspiel hatte die Moderatorin scheinbar einen falschen Punktestand abgelesen.

+++ Datenschutz-Bruchlandung, Klappe die 1.327ste: Bei SpOn schreibt Judith Horchert über Vivy, die neue App von 16 Krankenkassen. Der IT-Sicherheitsforscher Mike Kuketz kritisiert: in der App mit den hochsensiblen, persönlichen Gesundheitsdaten seien Module von Drittanbietern, also Fremdcode enthalten. "Wenn so ein Modul falsch eingebaut wird, kann es passieren, dass unabsichtlich Daten weitergegeben werden, die nicht weitergegeben werden sollten."

Neues Altpapier gibt’s wieder am Freitag.