Das Altpapier am 27. November 2018 Ist Wählen wichtiger als Zähneputzen?

Jedenfalls machen Medien die Dringlichkeit des Klimawandels zu wenig bewusst. Könnte Lokalaugenschein helfen? Außerdem: Eine sagenhaft unspektakuläre Medien-Zeitschrift stellt ihr Erscheinen ein. Große bis größte Worte für die gehende RTL-Gruppen-Chefin. Und die Waagschale der "Lindenstraßen"-Befürworter füllt sich allmählich – bemerkenswert divers. Ein Altpapier von Christian Bartels.

An dieser Stelle flimmern ja nie "breite, tiefrote Tickerbänder über den Bildschirm", hier wird unverdrossen auf die Kraft des geschriebenen Worts gesetzt. Daher quasi anstelle eines Laufbands vorab ein Absatz von riffreporter.de-Gründer Christian Schwägerl:

"Wären Natur und Klima die Frankfurter oder New Yorker Börse, liefen vor der Tagesschau breite, tiefrote Tickerbänder über den Bildschirm und die Talkshows zur 'Weltwirtschaftskrise' reihten sich endlos aneinander. Es herrschte Panik, Hysterie. Sondergipfel würden einberufen, Rettungspakete für 'systemrelevante' Unternehmen geschnürt. Aber es geht nicht um Börsenkurse, sondern um unsere Lebensgrundlagen, um eine Erdsystemkrise."

Der Artikel erschien schon vergangene Woche, verdient aber nicht nur deshalb Beachtung, weil er in starken Bildern aus dem Aktualitätsstreben der Echtzeit-Ära ausbricht, der vorgestern und übermorgen ungefähr gleich gleichgültig sind. "Jahre des Nichtstuns heute führen zu Jahrhunderten oder Jahrtausenden an Klimafolgen morgen", lautet das vielleicht schärfste von Schwägerls Argumenten, aus der gängigen Prioritätensetzung, die in praktisch allen gebündelten/ kuratierten Medien zwischen "Tagesschau", gedruckter Zeitung und Startseite mit wichtigen, oft schlimmen Ereignissen anfängt und mit dem Wunsch nach schönem Wetter besonders am Wochenende aussteigt, auszuscheren.

Wenn Sie lieber Tagesaktuelles dazu lesen wollen: Ebenfalls bei riffreporter.de hat Christopher Schrader am Morgen einen Beitrag zur "Debatte, wie Journalisten über 'das Klima' berichten sollten" veröffentlicht, der u.a. von Ärger über einen "Tweet der Redaktion von Zapp, dem Medienmagazin im dritten Programm des NDR-Fernsehens", diesen, gespeist wurde. "Schlagen Emotionen Fakten?" sei eine Frage der Kategorie "Ist der Gang ins Wahllokal wichtiger als Zähneputzen vor der Arbeit?", argumentiert er da.

Und falls ein Lösungsansatz im Namen des konstruktiven Journalismus gewünscht wird: Der österreichische Standard hätte einen in seinem Blog: Medien- und Kommunikationswissenschaftler der Universität Klagenfurt haben festgestellt, "dass gerade der Lokaljournalismus sein Potenzial in der Vermittlung des Klimawandels und damit zusammenhängender Themen nicht ausnutzt". Das berichtet dort die beteiligte Wissenschaftlerin Franzisca Weder:

"Je lokaler der Journalismus, desto genauer schauen die Leser darauf, wer was wie geschrieben hat. Also liegt im Lokaljournalismus auch die Chance, mit guten Beispielen voran zu gehen: Geschichten erzählen und kleinteiligen, aber dafür guten im Sinne eines nachhaltigen Journalismus zu realisieren. Gerade also in der Bearbeitung von Wasserknappheit und anderen durch unsere Konsumgewohnheiten und Lebensstile hervorgerufenen Veränderungen ist der Lokalaugenschein, die Geschichte aus dem Grätzel, eine Möglichkeit, auch die 'Nicht-in-meinem-Wohnzimmer'-Skeptiker zu erreichen. Damit bekommt in der Klimawandelthematik der Lokaljournalismus eine ganz neue Bedeutung!"

Ein "Grätzel" ist das, was nördlichere Deutschsprachige "Veedel" oder "Kiez" nennen würden.

Adé, promedia

Ein Bündel unterschiedlicher Themen, die in irgendeiner Reihenfolge präsentiert werden müssen, ist das Altpapier natürlich auch immer. Daher nun was völlig anderes.

Gestern noch wurde sie hier genannt, weil Michael Hanfeld in der FAZ daraus Anregungen bezogen hatte. Und nun stellt die Zeitschrift namens promedia (mit dem weiteren, etwas flotter gestaltetem Internetauftritt medienpolitik.net) ihr Erscheinen ein. Bzw. steht am Schluss der neuen, Dezember-Ausgabe, dass diese die letzte sein wird, wie flurfunk-dresden.de entdeckte. Der Blog zitiert promedia-Chefredakteur Helmut Hartung:

"Ich höre nach 21 Jahren auf. Nicht weil mich der digitale Wandel dazu zwingt, sondern aufgrund meiner persönlichen Lebensplanung. Ich werde im nächsten Jahr 68 Jahre alt und möchte mich aus der 'Diktatur' des monatlichen Erscheinungstermins befreien."

Was die Flurfunker bedauern, "war der Titel doch eines der zentralen Medien, in dem über medienpolitische Betrachtungen und Entwicklungen berichtet wurde." Das sollte Anlass zu einem Blick auf medienpolitik.net sein. Die Schlagzeilen dort lauten aktuell:

* "Klares Profil und mehr Flexibilität/ Blick auf die Diskussion über Aufgabe, Struktur und Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks"
* "'Fokussierung bedeutet Profilschärfung'"
* "Vielfalt schützt vor der Einfalt der Populisten"
* "Qualität statt Quantität/ Zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks"
...

Wahrscheinlich juckt es viele Leserinnen und Leser jetzt noch etwas weniger als ohnehin schon, eine der darunter zu findenden Beiträge lesen zu wollen (schließlich kann jeder Mensch rein rechnerisch nur einen Bruchteil der immerzu vorbeikommenden Informationen ansehen). Ein entscheidendes Merkmal des sagenhaft unspektakulären Mediums promedia ist der weitestgehende Verzicht auf Zuspitzung zu Entertainment-Zwecken und Suchmaschinenoptimierung. Vielmehr können bzw. konnten dort Würdenträger des Mediensystems – Ministerpräsidentinnen, Staatssekretäre, Anstaltsdirektoren – sich so ausführlich, wie sie wollten (auch dann, wenn es sich um Interviews handelte), ihre Ansichten ausbreiten. Was nicht ungemein viele Menschen zum Durchlesen reizen mag, aber mit den Ansichten solcher Entscheider, die meist in vielen Sitzungen jene kleinsten Nenner aushandeln, aus denen dann Rundfunkstaatsverträge und andere Gesetze werden, gut vertraut macht. Schade also, wenn dieser Titel verschwindet. Wobei ich übrigens in der Auflistung auch den relativ spannend klingenden Beitrag zunächst ausließ: das Malu-Dreyer-Interview "'Es geht um relative Beitragsstabilität'", das also auf die nächste "relative" Rundfunkbeitragserhöhung andeutet und natürlich auch Hanfeld gleich anfixte.

Und der Beitrag "Qualität statt Quantität/ Zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks" stammt natürlich nicht aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, in dem zwar alle gern von "Qualität" sprechen, aber auf Quantität niemand freiwillig verzichten würde. Er stammt vom Vaunet- und n-tv-Chef Hans Demmel. Damit zum Privatfernsehen ...

Große Worte für Anke Schäferkordt ...

RTL ist wichtig. Das zeigt sich, wenn der im Prinzip recht seriöse Tagesspiegel groß im Medienressort mit "Spekulation über Ex-Verkehrsminister Krause als Dschungel-Kandidat" aufmacht (anhand einer Bild-Zeitungs-Meldung 'türlich). Und wie es dem Sender gelingt, trotz Rechteteilung mit dem Pay-TV seinen Autoren-Sendungen, pardon: Autorenn-Sendungen mehr gemessene Zuschauer zu verschaffen (dwdl.de), ist ein Kunststück, das öffentlich-rechtliche Programme auch gerne hinkriegen würden.

Was vergangene Woche im Altpapier etwas unterging: Die Sendergruppe, zu der der größte deutsche Privatsender (wie auch n-tv) gehört, bekommt einen neuen Chef, weil die bisherige Chefin Anke Schäferkordt zum Jahresende durchaus ziemlich überraschend aufhört. Dabei hat "die erfolgreichste Managerin, die das deutsche  Fernsehen jemals hatte und vermutlich auch jemals haben wird" (Torsten Zarges neulich bei dwdl.de), ja, "der wichtigste Mensch im deutschen Fernsehen" (Steffen Grimberg in seiner innovativoiden Video-Audio-Schrift-Kolumne hier nebenan), ihren/ seinen Job doch "außergewöhnlich gut gemacht", wie die Moderatorin der WDR5-Radiosendung "Töne, Texte, Bilder" sagt, bevor sie dwdl.des Alexander Krei interviewt.

Jedenfalls bemerkenswert, wie klein die vielen kleinen Andeutungen, Anke Schäferkordt gehe nicht ganz freiwillig, trotz ihrer Vielzahl bleiben. Tagesaktuell legt Handelsblatt-"Medienkommissar" Hans-Peter Siebenhaar der Gütersloher Chefetage bloß ans Herz, dass der Schäferkordt-Nachfolger Bernd Reichart "dringend mehr finanziellen Spielraum" brauche. Zeitungen wie das Handelsblatt verfolgen die Chefs von Bertelsmann, das eigene Zeitungen ja praktisch nicht mehr verlegt, vermutlich noch am ehesten. Reichart gelte "als der Gentleman unter den deutschen Fernsehmanagern". Bislang ist er Chef von Vox, dem relativ spannendsten deutschen Privatsender.

... und für die "Lindenstraße"

Wo wir quasi gerade in Köln sind (wo RTL und seine Sendergruppe ja sitzen): Die ersten Medienbeobachter, die über die ARD-Entscheidung berichteten, die Serie "Lindenstraße" 2020 einzustellen, zeigten sich eher abgebrüht (Altpapier) und äußerten nicht sehr viel Bedauern. Inzwischen füllt sich die Waagschale der "Lindenstraßen"-Befürworter. Gestern wurde hier die bemerkenswerte scharfe WDR-Kritik der Medienkorrespondenz ("Die ARD, die 'Lindenstraße' und der Geist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks") verlinkt. Im Gegenstück zur katholischen MK, dem evangelischen Mediendienst epd medien, wies zuvor Michael Ridder mit recht genauer Bezifferung der "Lindenstraßen"-Kosten, die der ARD als Ganzes nun zuviel werden ("aufs Jahr gerechnet ...etwa acht Millionen Euro"), darauf hin, dass der WDR, "der im vergangenen Jahr 1,6 Milliarden Euro  eingenommen hat", die Serie rechnerisch auch allein herstellen könnte, wenn sie es ihm wert wäre. Dieser schon erwähnte Artikel steht inzwischen frei online.

Vielleicht wiegen Beiträge von Menschen, die sich gleich selbst als "altersmäßig noch zum Stammpublikum öffentlich-rechtlicher Sender" gehörig bezeichnen, nicht sehr viel. Der Gastbeitrag der Münchener Rechtsanwältin Dagmar Schön, den die Wochenend-Süddeutsche unter der Unter-Überschrift "Das Beispiel 'Lindenstraße' zeigt: ARD und ZDF werden ihrem Auftrag nicht mehr gerecht, der Gesellschaft als Ganzes zu dienen" veröffentlichte, hatte es aber auch in sich. Zumal die Autorin andererseits gleich "drei neu produzierte Krimis", die ihrer Juristinnenansicht nach "Selbstjustiz propagierten", aufzählt.

Und juvenile Medien-Matadoren, die gleich niemand im Stammpublikum öffentlich-rechtlicher Sender vermuten würde, legen sich auch für die Serie ins Zeug, wie der Thommy-Knüwer-Tweet

"Wie wäre ein TV-Serie über deutschen Alltag mit diesen Themen: Tindern, Hasskommentare im Web, Erdogan-Anhänger in  Deutschland, Coaching als Beruf. Klingt gut? Die Serie gibt es. Sie heißt @Lindenstrasse und wird 2020 von @DasErste eingestellt"

schön zeigt. Kann gut sein, dass der ARD die Entscheidung gegen die "Lindenstraße" ziemlich auf die Füße fallen wird. Wobei alle Entscheidungen, die gegen eine weitere Verschärfung des Klimawandel helfen würden, natürlich noch tausende Male dringlicher wären.


Altpapierkorb (Linkes "Betongold", DSGVO-Zwischenbilanz, "Gilets Jaunes", Vertikal-Videos, Litauen, Sonnenblumen)

+++ Der Tageszeitung Neues Deutschland geht es vermutlich noch schlechter als anderen Tageszeitungen. Aber ihre riesengroße Immobilie "im angesagten Bezirk Friedrichshain" ist reinstes "Betongold", das die Vermögensgesellschaft der Linken (siehe taz 2015) womöglich vor einer drohenden Insolvenz sichern möchte. Darüber berichtet die Süddeutsche (die ihren betongoldenen Sitz an der Sendlinger Straße ja schon längst zugunsten eines neuen in der Autobahnzufahrten-Pampa aufgeben musste) heute ausführlich.

+++ "Erste Daten für die ersten sechs Monate unter dem neuen Datenschutzregime", also der EU-weit final in Kraft getretenen DSGVO, zeigen, "dass vor allem ebenjene Giganten wachsen konnten. So konnten Google, Amazon und Facebook ihren Marktanteil bei Onlinewerbung steigern, während kleinere Konkurrenten Nachteile erlitten", berichtet der Standard.

+++ Auf der FAZ-Medienseite stellt Jürg Altwegg den "linken Geographen" Christophe Guilluy vor, der derzeit als "Prophet und Theoretiker der 'Gilets Jaunes'" in Frankreich viel Aufmerksamkeit erhält. +++ Und den heutigen Sat.1-Thriller "Amokspiel" nach Sebastian Fitzek kann Axel Weidemann ebd. "leider nicht empfehlen". +++

+++ Allerhand deutsche Anbieter zwischen Springer ("Bild Fußball"), Spiegel- und Zeit-Verlag sowie dem öffentlich-rechtlichen funk.net machen mit "zwischen drei und sieben Minuten langen" Vertikal-Videos beim jetzt auch hierzulande angebotenen Snapchat-Format namens Shows mit (dpa).

+++ "Auf der Baustelle für die künftige Digitalzentrale von Axel Springer (BILD, B.Z., Die Welt) ist am Montag ein Feuer ausgebrochen", berichtete als erste ebendiese B.Z. (mit eindrucksvollen Weltstadtfotos).

+++ "Babylon Berlin" wird weitergedreht. "Die Kosten pro Folge sollen ähnlich hoch bleiben. Für die ersten beiden Staffeln kamen die Produzenten insgesamt auf ein Budget von knapp 40 Millionen Euro. Den größten Anteil davon wird wieder die ARD tragen", meldet der Tagesspiegel.

+++ Der EU-Mitgliedsstaat Litauen belegt auf der Rangliste der Pressefreiheit weit oben Platz 36. Dort regiert eine "Koalition aus dem 'Bund der Bauern und Grünen' und Sozialdemokraten". Deren Politik gegen die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt LRT besorgt dennoch die taz.

+++ Die "True Media"-Initiative großer, mehr oder minder renommierter deutscher Zeitschriftenverlage, die wiederum gestern hier Thema war, hat nun auch Stefan Niggemeier bei uebermedien.de kommentiert ("reine Heuchelei").

+++ ZDF-Chefredakteur Peter Frey, dem Niggemeier neulich noch, wegen eines Horst-Seehofer-Interviews, den Rücktritt nahelegte, bekam seinen Vertrag nun bis September 2022 verlängert (dwdl.de).

+++ Und der NDR hat seine, also Emil Noldes "Sonnenblumen" zurück (und dazu einen 30minüter in der Mediathek).

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.