Judenfeindlichkeit im Sozialismus Antisemitismus in Ostdeutschland: Wie judenfeindlich war die DDR?
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09. November 2022, 11:32 Uhr
Antisemitismus ist tief in der deutschen Geschichte verankert. Trotz der vermeintlichen Umkehr nach den unmenschlichen Verbrechen der Nationalsozialisten besteht er bis heute fort, wie das Attentat auf die Synagoge in Halle 2019 beweist. Ganz weg war Antisemitismus eben nie – auch wenn genau das zu DDR-Zeiten behauptet wurde. Die Realität sah anders aus: Enteignungen, staatliche Repressionen und antizionistische Propaganda prägten das Leben der jüdischen Bevölkerung.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führte die Sowjetische Militäradministration eine rigorose Entnazifizierung durch. Tausende ehemalige NSDAP-Mitglieder und NS-Verbrecher wurden enteignet, ihrer Ämter enthoben, in Speziallagern inhaftiert oder zum Tode verurteilt. Damit war die Sache für die sozialistische Führung erledigt: Faschismus und Antisemitismus, das gibt es bei uns nicht mehr. Doch die DDR wurde diesem Anspruch nicht immer gerecht.
Durch den Volksentscheid in Sachsen sowie durch die dem Volkswillen entsprechenden Beschlüsse der Regierungen der übrigen Länder der sowjetischen Besatzungszone wurden Betriebe und sonstiger Besitz der Nazi- und Kriegsverbrecher, darunter auch aller großen Monopolvereinigungen, enteignet und in die Hände des deutschen Volkes übergeführt.
Jüdische NS-Opfer in der DDR nicht entschädigt
1949 aus der sowjetischen Besatzungszone gegründet, organisierte sich die Deutsche Demokratische Republik nach sowjetischen Vorbild: Gewalteneinheit, Planwirtschaft und antifaschistische Ideologie. Die Eigentumsverhältnisse wurden sozialistisch umgestaltet, "kapitalistisch" geführte Betriebe und Einrichtungen verstaatlicht und Großgrundbesitzende enteignet. Dementsprechend fand auch keine Rückerstattung geraubten jüdischen Eigentums statt – die Wiederherstellung von Privateigentum wäre schließlich nicht mit dem Prinzip des Volkseigentums zu vereinbaren gewesen.
Holocaust-Überlebende erhielten Sonderleistungen
Wegen ihrer Antifaschismus-Doktrin sah sich die DDR auch nicht als Rechtsnachfolgerin des NS-Regimes. Deshalb lehnte sie jede Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus ab und weigerte sich, dem israelischen Staat Wiedergutmachung zu leisten. Immerhin: In der DDR lebende Holocaust-Überlebende erhielten wie alle "Opfer des Faschismus" Sonderleistungen und Zusatzrenten, sofern sie systemkonform waren.
Widerstandskämpfer und Kommunisten galten allerdings automatisch als "Kämpfer gegen den Faschismus" und waren damit finanziell besser gestellt als "Verfolgte des Nazisregimes". Bezeichnend auch: Das erste Nationaldenkmal der DDR, das 1958 eingeweihte Buchenwald-Mahnmal, zeigte ebenfalls nur kommunistische Widerstandskämpfer – andere Opfergruppen und insbesondere die jüdischen KZ-Insassen blieben unerwähnt.
Enteignung eines Holocaust-Überlebenden
Ein besonders perfides Beispiel für den Umgang mit Holocaust-Überlebenden und jüdischem Besitz in der DDR zeigt der Fall des Adalbert Frank. Der ungarische Unternehmer besaß eine Hotelgesellschaft auf Rügen, die er im Zuge der "Arisierung" an die Nationalsozialisten verlor. Nach dem Krieg kehrte er in die Sowjetische Besatzungszone zurück und erwarb eines seiner Hotels zurück – nur um es 1953 bei der Enteignungswelle "Aktion Rose" erneut zu verlieren. Schlimmer noch: Die SED warf dem Hotelier "kapitalistische Ausbeutermethoden" vor, er sei gar von "Profitgier beseelt" – also klassische antisemitische Stereotype. Ein Gericht verurteilte Adalbert Frank zu zehn Jahren Zuchthaus und entzog ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte als Opfer des Faschismus.
Ausreisewelle wegen stalinistischer Säuberung
Im Rahmen einer Säuberungskampagne verfolgte die Sowjetunion Anfang der 50er-Jahre Jüdinnen und Juden als "Kosmopoliten" und "imperialistische Verschwörer". Die DDR griff die antizionistische Propaganda auf – und verbreitete nur wenige Jahre nach dem Holocaust selbst judenfeindliche Vorurteile. Ein besonders eindrückliches Beispiel: das Papier "Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský", ein Beschluss des Zentralkomitees der SED vom 20. Dezember 1952:
Die zionistische Bewegung hat nichts gemein mit Zielen der Humanität und wahrhafter Menschlichkeit. Sie wird beherrscht, gelenkt und befehligt vom USA-Imperialismus, dient ausschließlich seinen Interessen und den Interessen der jüdischen Kapitalisten.
Die jüdischen Bürgerinnen und Bürger in der DDR standen zu jener Zeit unter Generalverdacht, "Agenten" des Zionismus und Imperialismus zu sein. Viele wurden von der Stasi bespitzelt, verhört, verhaftet oder aus ihren Stellungen entlassen. Rund 500 jüdische Gemeindemitglieder flohen zwischen 1952-1953 in die Bundesrepublik. Der staatliche Antizionismus richtete sich aber nicht nur gegen Jüdinnen und Juden: Paul Merker, ein hochrangiges Mitglied des SED-Politbüros, wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er sich unter anderem für die Gründung eines jüdischen Staates eingesetzt hatte. Erst mit Stalins Tod 1953 endeten die Repressionen und die meisten Inhaftierten wurden freigelassen und rehabilitiert.
Wiederaufbau jüdischen Lebens in der DDR
Nach Stalins Tod wendete sich langsam das Blatt für die deutlich kleiner gewordenen jüdischen Gemeinden in der DDR. 1955 zählten sie nur noch 1.715 Mitglieder, die sich auf acht Städte verteilten: Ost-Berlin, Leipzig, Dresden, Erfurt, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Schwerin. Sie erhielten finanzielle Unterstützung für den Erhalt von Synagogen und Friedhöfen, in der Hauptstadt gab es eine koschere Metzgerei. Dennoch wurden sie von der Stasi beobachtet.
Feindbild Israel und antizionistische Propaganda
Auch wenn Jüdinnen und Juden nicht mehr verfolgt wurden, blieb die DDR ihrer Anti-Israel-Politik treu. Die SED-Führung stand im Nahostkonflikt auf der Seite der arabischen Länder und Palästinas und lieferte diesen sogar schwere Waffen. Selbst nach dem tödlichen Attentat auf das israelische Olympia-Team in München 1972 stellte sich die DDR hinter die Palästinenser. Der Drahtzieher des Anschlags, Abu Daud, durfte jahrelang mit dem Wissen der Stasi in Ost-Berlin ein- und ausreisen.
Die antizionistische Propaganda belastete die jüdische Bevölkerung. Mehrfach wurde sie von der Staatsführung aufgefordert, öffentlich Stellung zu beziehen. Nur die wenigsten erklärten sich dazu bereit. Inzwischen hatte sich die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in der DDR weiter verringert: 1971 betrug sie 1.110, zwei Jahre später waren es nur noch 710.
War die DDR-Bevölkerung antisemitisch?
Der Historiker Harry Waibel konnte 900 antisemitische Straftaten in der DDR belegen, wie zum Beispiel die Schändung jüdischer Friedhöfe und Gräber. Seit den 1960er-Jahren fanden etwa 200 pogromartige Angriffe in über 110 Städten und Gemeinden der DDR statt. Insgesamt gab es 7.000 schriftliche oder mündliche Angriffe von Antisemiten oder Neonazis. Die Vorfälle wurden von der SED unterdrückt.
80er-Jahre: Kurswechsel in der Israelpolitik
In den 80-Jahren begann die DDR, ihr Verhältnis zu Israel zu liberalisieren. Ihr Ziel: internationales Ansehen und bessere Handelsbeziehungen. Die jüdischen Gemeinden profitierten vom Kurswechsel. Neben finanzieller Unterstützung organisierte die Staatsführung Aufklärungskampagnen, wie zum Beispiel eine Ausstellung zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht.
Das Gedenken und die Erinnerung an den Holocaust gehörten bislang nicht zu den Prioritäten der SED. Offiziell gab es ja keinen Antisemitismus in der DDR – daher wurde eine tiefgreifende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auch nicht als nötig erachtet. Wer sich über die Shoah informieren wollte, war auf kulturelle Angebote wie Bücher oder Filme angewiesen. Der DEFA-Film "Jakob der Lügner" über einen jüdischen Polen wurde sogar für den Oscar nominiert.
DDR entschuldigt sich bei Israel
Erst im Februar 1990, kurz vor der Deutschen Einheit, bekannte sich die DDR unter Regierungschef Hans Modrow erstmals zur gesamtdeutschen Verantwortung für den Holocaust und bot den jüdischen Opfern materielle Entschädigung an. Viele waren jedoch nicht mehr übrig: Die verbliebenen fünf jüdischen Gemeinden zählten nur noch 400 Mitglieder. Am 12. April 1990 bat die neugewählte Volkskammer die "Juden in aller Welt um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel".
Gab es Antisemitismus in der DDR?
Antifaschistische Propaganda, Enteignungen oder die Hoffnung auf internationale Beziehungen – der Umgang der DDR mit ihrer jüdischen Minderheit war meist von politischen oder wirtschaftlichen Interessen geprägt. Eindeutige antisemitische Züge wies die Politik nur während der stalinistischen Säuberungen auf. Doch auch die antizionistische Ausrichtung und Propaganda der SED belastete die jüdische Bevölkerung. Gleichzeitig erhielt sie aber die Erlaubnis zur Ausübung ihrer Religion und finanzielle Unterstützung. Wer systemtreu war, konnte in der DDR auch als Jude zumeist unbehelligt leben.
Was ist Antisemitismus?
Als Antisemitismus bezeichnet man die Feindschaft gegenüber Juden. Sie kann die Form einer pauschalen Abneigung bis hin zum Judenhass annehmen. Manchmal ist damit eine ganze Weltanschauung verbunden, die in der Existenz der Juden die Ursache aller Probleme der Welt, einer Nation oder "Rasse" sieht. Extremste Ausformung des Antisemitismus war der Holocaust, also der Völkermord an den europäischen Juden durch das NS-Regime.
Der Begriff Antisemitismus entstand um 1880 und bezeichnete damals die Ablehnung der Juden aus politischen und rassenideologischen Gründen. Insbesondere deutschnational Gesinnte Bekämpften Juden, weil sie in ihnen Vertreter von Liberalisierung, Demokratisierung und Kapitalismus sahen. In früheren Jahrhunderten seit dem Mittelalter war die Feindschaft gegenüber Juden religiös bedingt.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Antisemiten sind immer die anderen | 09. Oktober 2022 | 22:20 Uhr