Porträtfoto von Georg Restle 31 min
Mit MEDIEN360G spricht Georg Restle über Haltung im Journalismus, dessen Auftrag innerhalb der deutschen Verfassung und die Forderung nach mehr Neutralität. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | WDR Klaus Görgen

Das Interview zum Nachlesen Werteorienterter Journalismus statt Neutralität

10. Januar 2023, 11:15 Uhr

Georg Restle ist Journalist, Redaktionsleiter des Polit-Magazins "Monitor" und auf Twitter privat aktiv. Als Haltungs-Journalist möchte er nicht bezeichnet werden. Im Gespräch erklärt er, wieso er das als Vorwurf empfindet, und plädiert für den werteorientierten Journalismus. Mit welchen Werten und Gesetzen er seine journalistische Tätigkeit umsetzt, und wieso er seine Twitter-Community privat händelt, verrät er auch.

MEDIEN360G: Wenn Sie eine Sendung gemacht und darin, was ja für Sie durchaus typisch ist, Haltung gezeigt haben. Was kriegen Sie denn dann von ihren Kritikern im Anschluss eigentlich zu hören?

Georg Restle: Die Sendung polarisiert, gar keine Frage. Früher wurden die Briefe noch in Sütterlinschrift geschrieben. Ich erinnere mich noch gut daran, weil ich als junger Journalist bei "Monitor" angefangen habe. Heute geht es natürlich über die sozialen Netzwerke rund. Also wenn die Sendung vorbei ist, quillt unser Facebook-Account über. Auch Instagram und auf Twitter, wo ich persönlich bin. Was man da sieht, ist nicht repräsentativ. Da bin ich mir ganz sicher. Aber da ist eine starke Polarisierung zu beobachten. Viele, die uns hassen für das, was wir machen und viele, die uns auch lieben und unterstützen für das, was wir machen. Die Sendung polarisiert. Zumindest, soweit man das im Netz und in den sozialen Medien sehen kann. Da sind zum Teil schon ziemlich üble Beschimpfungen auch dabei. Also man muss eine dicke Haut haben nach der Sendung. Ich habe mir vorgenommen: Bevor ich ins Bett gehen nach einer Sendung, schaue ich da garantiert nicht mehr rein, weil dann doch neben viel positiver, unterstützender Rückmeldung auch jede Menge blanker Hass und Hetze auch mir persönlich dann entgegenschlägt.

MEDIEN360G: Wahrscheinlich, weil Journalisten ja auch nur Menschen sind, lässt Sie das nicht kalt. Wie gehen Sie denn mit so einer Kritik um, wenn sie doch an Sie rankommt?

Georg Restle: Ach, ich kann das schon sehr differenziert sehen. Ich mache den Job seit fast drei Jahrzehnten jetzt und bin da einiges gewohnt. Was mich nicht stört, was ich nicht an mich heranlasse, sind die orchestrierten Hetzkampagnen, von denen man weiß, wo sie herkommen, wer sich steuert und welches Ziel sie tatsächlich verfolgen. Das beeindruckt mich nicht, weil ich weiß, wer mich da vernichten will. Das geht zwar eigentlich an meine Person, aber eigentlich wollen die Leute, die mich beschimpfen, was ganz anderes: Nämlich die Art von Journalismus, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Grundwerte für die ich stehe – Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte – attackieren. Und deswegen belastet mich das relativ wenig. Politisch belastet mich das, aber nicht persönlich. Was mich eher belastet, sind Dinge, die dann unter die Gürtellinie gehen. Wo Leute mit Morddrohungen kommen und diese Morddrohungen dann auch ernst zu nehmen sind. Da gab es einige in der Vergangenheit, und das lässt einen nicht kalt, wenn man das weiß und dann von Sicherheitskräften auch noch die Anrufe bekommt, dass das ernstzunehmende Drohungen sind.

MEDIEN360G: Der zentrale Vorwurf an Sie ist oft: Georg Restle betreibt Haltungsjournalismus. Betreiben Sie denn in Ihrer Wahrnehmung Haltungsjournalismus?

Georg Restle: Es gibt gar keinen Journalismus ohne Haltung. Also der Begriff Haltungsjournalismus ist ein Kampfbegriff geworden, der vor allem von rechts natürlich gegen Journalisten und Journalistinnen wie mich geäußert wird. Aber Haltung hat jeder Mensch, und Haltung hat jeder Journalist. Und deswegen sage ich: Ich bin kein Haltungs-Journalist! Weil das impliziert, dass Haltung wichtiger sei als Wahrhaftigkeit. Was natürlich Unsinn ist. Es gibt keine Haltung ohne Wahrhaftigkeit, und es gibt keine Haltung ohne das Streben nach der Wahrheit. Das ist ganz klar. Aber es ist ein Kampfbegriff. Ich für mich sage: Natürlich bin ich ein Journalist mit Haltung, weil jeder Mensch ein Mensch mit Haltung ist. Wir haben bestimmte Haltungen bezüglich der Grundwerte, unserer Verfassung beispielsweise. Wir haben bestimmte Haltungen, weil wir, wie ich als katholischer Christ aufgewachsen bin und mit dem neuen Testament groß geworden sind. All das sind Dinge, die uns geprägt haben und die uns auch als Journalist prägen. Man muss nur offen und transparent damit umgehen. Da bin ich ganz sicher.

MEDIEN360G: Armin Wolf hat beispielsweise gesagt: Wer Haltungsjournalismus sagt, meint eigentlich Gesinnungsjournalismus. Und das als Vorwurf. Sehen Sie das ähnlich?

Georg Restle: Ja, das sehe ich genauso. Das ist ein Kampfbegriff. Man wirft uns Gesinnungsjournalismus vor, und dass wir nicht die richtige Haltung haben. Das ist ja auch ganz interessant. Diejenigen, die uns Haltungsjournalismus vorwerfen, werfen uns ja vor, nicht ihre Haltung zu bedienen. Das ist eigentlich die Wahrheit.

Porträtfoto von Armin Wolf 24 min
Armin Wolf ist Moderator und stellvertretender Chefredakteur der ORF-Fernsehinformation. Im MEDIEN360G-Interview spricht er über sein Verständnis von "Haltung im Journalismus" und den Einfluss sozialer Medien. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Christian Wind
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Armin Wolf teilt seine Gedanken zum Thema Meinungen im Journalismus und kritisiert den Haltungsbegriff. Seinen Fokus legt er im Interview auf die Rolle sozialer Medien.

Mi 04.01.2023 10:59Uhr 23:58 min

https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/armin-wolf-orf-interview-100.html

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MEDIEN360G: Weil ich gerade gesagt haben: Journalisten sind ja auch nur Menschen, die sozial geprägt und in Lebensumstände eingebettet sind. Journalisten sind kein Neutrum. Natürlich sind Sie auch groß geworden, sozialisiert, geprägt: Nicht frei von Meinung, letzten Endes. Dieser Begriff vom neutralen Journalismus – halten Sie den für haltbar? Kann ein Journalist, kann ein Medium neutral berichten?

Georg Restle: Neutral, was neutral eigentlich meint, kann nicht Journalismus sein. Weil das impliziert, dass es tatsächlich nur die eine reine Wahrheit und den einen reinen Blick auf die Dinge gibt. Und das ist ja Quatsch. Natürlich gibt es viele verschiedene Wahrnehmungen von dieser Welt und jede hat ihre Berechtigung. Und deswegen gibt es Neutralität in dem Sinne nicht. Wenn Neutralität meint, und das ist oft das Missverständnis, dass wir als Journalisten und Journalistinnen distanziert zum Gegenstand unserer Berichterstattung sein sollen, unvoreingenommen sein sollen: Dann unterschreibe ich das auf jeden Fall. Aber die Vorstellung von Neutralität, die uns als Journalisten zum Mikrofonhalter degradiert, die läuft ja geradezu darauf hinaus, dass wir die Kampagnen, die Leute verbreiten wollen, eins zu eins verbreiten, weil wir ja keine Haltung dazu haben, weil wir es ja nur neutral machen. Das kann Journalismus nicht sein. Das darf Journalismus auch gar nicht sein. Er soll distanziert und unvoreingenommen sein. Neutral kann er nie sein.

MEDIEN360G: Wenn man sich die Rundfunkstaatsverträge anschaut, dann wird dort immer von Unparteilichkeit und Ausgewogenheit gesprochen. Wenn man sagt, Haltungsjournalismus als Kampfbegriff ist nicht der, mit dem ich arbeiten möchte. Für mich ist es eine faire, wahrhafte und transparente Berichterstattung. Das heißt, dass man von den verschiedenen Programmangeboten auch erwartet, dass möglichst ausgewogen und über verschiedene Ansätze berichtet wird. Erlaubt das der Rundfunkstaatsvertrag überhaupt, dass man die Ausgewogenheit abbildet?

Georg Restle: Natürlich erlaubt der Rundfunkstaatsvertrag das. Er fordert es ja geradezu von uns. Und im Gesamtprogramm, würde ich sagen, erfüllt der öffentlich-rechtliche Rundfunk diesen Auftrag; natürlich nicht in jeder einzelnen Sendung. Also wer meint, dass in einer 30-minütigen Ausgabe von "Monitor" die ganze Welt ausgewogen von allen Seiten betrachtet werden muss, hat keine Vorstellung davon, wie schnell man in 30 Minuten am Ende der Sendezeit ist. Aber die Ausgewogenheit als Grundprinzip halte ich für richtig. Jeder, der an Diskursen bzw. an Debatten in diesem Land teilnimmt, soweit er auf dem Boden dieser Verfassung steht, soll die Möglichkeit haben, das im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch tun zu können. Und wenn ich mir anschaue, was es für ein Programmangebot bei ARD und ZDF gibt; wenn ich mir die Talkshows und auch die Magazine anschaue; wenn ich schaue, wer kommentiert in den Tagesthemen: Da muss ich sagen, ist das schon ziemlich ausgewogen, wenn man mal die AfD außen vorlässt. Aber das ist ein anderes Thema.

MEDIEN360G Grundvorwurf, der ja ergeht, ist, dass die Öffentlich-Rechtlichen oder eben die tradierten, klassischen Massenmedien sehr tendenziös berichten. Oft heißt es: Da wird vielmehr die linke Position transportiert, als vielleicht eine konservative oder sogar eine rechte Position; was ja aber irgendwie auch ein Maß an Ausgewogenheit möglicherweise wäre. Wie gut können Sie so einen Vorwurf nachvollziehen?

Georg Restle: Es kommt drauf an, von wem der Vorwurf kommt. Der Vorwurf, der von Rechtsaußen und von der AfD kommt, den kann ich leicht kontern, weil ich sage: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf keine Bühne für Verfassungsfeinde sein. Da ist die Grenze der Ausgewogenheit ganz klar zu definieren. Das steht auch in den Mediengesetzen. Das WDR-Gesetz ist eindeutig formuliert, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Grundwerte unserer Verfassung zu verteidigen hat. Und damit ist klar: Ausgewogenheit kann nicht bedeuten, Verfassungsfeinden vom rechten Rand hier eine Bühne zu geben. Im gesamten anderen Spektrum, und das ist ja sehr groß, würde ich sagen, kann ich keine politische Auffassung finden, die nicht im öffentlich-rechtlichen Rundfunk angemessen vertreten wird. Sei es in den Talkshows, sei es in den Kommentaren bei den Tagesthemen, oder sei es auch in den politischen Magazinen.

MEDIEN360G: Im Grunde genommen ist klar, dass eine Partei, die demokratisch gewählt wurde, nicht automatisch demokratisch sein muss. Das trifft auf die AfD zu. Gleichwohl ist sie in Parlamenten vertreten und kann natürlich dann sehr wohl darauf pochen: Ausgewogenheit. Wir wollen genauso repräsentiert sein.

Georg Restle: Da kann sie nicht drauf pochen. Weil die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Grundidee der Rundfunkfreiheit, wie sie vom Bundesverfassungsgericht ja ausführlich beschrieben und definiert worden ist, der Wortlaut der Mediengesetze, die Ausschluss dieser Rechtsprechung sind, machen alle ganz klar, dass die Grenzen der Ausgewogenheit da sind, wo diese Verfassung attackiert wird. Es kann nicht sein, und auch nicht im Rahmen einer Vorstellung von Ausgewogenheit, dass Verfassungsfeinde, die diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen wollen, die Grundpfeiler dieser Demokratie attackieren, die Institutionen abschaffen wollen. Dass wir denen die Bühne geben im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der schließlich seinerseits eine Institution dieser Verfassung ist.

MEDIEN360G: Weil Sie vorhin Twitter angesprochen haben: Wie wichtig ist es Ihnen eigentlich, dass das Publikum weiß, wie Herr Restle tickt?

Georg Restle: Ich finde, das ist ein Gebot der Transparenz, für Journalisten auch zu sagen: Hier und da habe ich ganz dezidierte Meinungen darüber. Das mache ich öffentlich und das mache ich transparent. Ihr könnt meine Berichterstattung daran messen. Wenn ihr seht, wie ich darüber berichte und über welche Themen ich berichte. Weil ja völlig klar ist: Wir sind ja auch in dem Sinne nicht neutral, dass wir alles, was diese Welt uns bietet, täglich abbilden würden. Wir wählen ja aus, was wir abbilden und diese Entscheidung – auszuwählen, was wir berichten und was wir nicht berichten – ist immer auch Ausdruck unserer Haltung zu dieser Welt und unsere Haltung zu den Dingen dieser Welt. Und ich finde, man muss transparent damit umgehen. Deswegen gehe ich auch offen damit um. Wenn ich zu ganz bestimmten Dingen eine dezidierte Meinung habe, dann kann sich jeder, der mich anschaut, seine eigene Meinung über meine Meinung bilden.

MEDIEN360G: Ich will trotzdem noch mal auf 2018 zurückkommen. Da war dieses viel kritisierte Ereignis in Berlin. Sie sind damals auf dieser Unteilbar-Demo als Redner aufgetreten. Der zentrale Vorwurf, der damals erging, war, dass aus dem Journalisten Restle, damit der Aktivist Restle geworden ist. Können Sie diesen Vorwurf rückblickend nachvollziehen?

Georg Restle: Wenn es eine Demonstration gewesen wäre, zu der eine Partei oder eine ganz bestimmte Organisation aufgerufen hätte, vor deren Karren ich mich hätte spannen lassen, dann hätte ich den Vorwurf verstehen können. Aber das war ein ganz breites Bündnis aller Parteien, der Gewerkschaften, der Zivilgesellschaft. Und ich begreife mich, als Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, durchaus als Teil dieser Zivilgesellschaft. Und weil das eine Demonstration der Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Breite war, hielt ich das für richtig, dass auch ein Journalist des öffentlich-rechtlichen Rundfunks da auftreten kann, um klarzumachen, wo die Gefahren für die Meinungs-, für die Presse- und für die Rundfunkfreiheit sind, weil darum ging es ja in meinem Beitrag.

MEDIEN360G: Wie sehr kollidiert das möglicherweise auch mit diesem alten Credo, sich nicht mit einer Sache gemeinzumachen, auch wenn es eine gute ist?

Georg Restle: Einer der am häufigsten missverstandenen Sätze im deutschen Journalismus. "Sich nicht mit einer Sache gemein machen, auch wenn es eine gute ist" meint, maximale Distanz zum Gegenstand seiner Berichterstattung zu halten. Und das halte ich auch für richtig. Wenn das bedeutet, dass man als Journalist nicht selber Haltung entwickeln kann oder eine Perspektive oder eine Position zu den Dingen, über die man berichtet, entwickeln kann, dann halte ich es für Unsinn. So ist dieser Satz von seinem Urheber nie gemeint gewesen, aber das wird daraus gemacht. Also: Maximale Distanz zum Gegenstand der Berichterstattung. Maximale Unvoreingenommenheit unterschreibe ich in jedem Fall. Aber das heißt ja nicht, dass ich nicht selber Dinge gut finden kann.

MEDIEN360G: Wenn man Hajo Friedrichs an dieser Stelle ganz liest, stellt man fest, dass es im Ansatz um ganz andere Dinge ging …

Georg Restle: Ja natürlich! Er hat ja selber heftig kommentiert, heftig eingeordnet, heftig Position zu den Dingen eingenommen. Aber was ihn gestört hat, ist, wenn man irgendwohin geht, den kritischen Blick und die Distanz verliert und das nur, weil einem vielleicht jemand sympathisch ist oder man vielleicht ein bestimmtes Weltbild mit jemandem meint zu teilen. Das darf einem nicht passieren. Ich kann ein sehr gutes Beispiel geben. Ich war gerade in der Ukraine. Und natürlich ist völlig klar: Dieser Angriffskrieg der Russen ist ein Kriegsverbrechen, weil er ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist. Es sei denn, man negiert das Völkerrecht. Das könnte auch eine denkbare Haltung sein. Aber wenn man das Völkerrecht akzeptiert, ist völlig klar: Dieser Krieg ist als das zu bezeichnen, was er ist: Ein andauerndes Kriegsverbrechen. Das heißt aber nicht, wenn ich in Butscha oder wenn ich in Irpin bin und mir die Bilder als Journalist anschaue, dass ich dann alles glaube, was mir ukrainische Quellen sagen. Nur weil sie auf der Opferseite stehen und weil sie möglicherweise meine Sympathie haben. Sondern dann muss ich im Sinne von Hajo Friedrichs Distanz wahren und mich nicht gemein machen. Selbst wenn ich möglicherweise Sympathie habe. Sondern sehr genau hingucken und sagen: Sehe ich ein Kriegsverbrechen oder ist es ein mutmaßliches Kriegsverbrechen? Wie weit muss ich zurückgehen in der Betrachtung dessen, was mir da gerade gezeigt wird? Und das ist genau der Unterschied. Daran kann man es ganz schön sehen. Man kann diesen Krieg als das verurteilen, was er ist: Als ein Angriffskrieg. Das heißt aber nicht, dass man sich mit den Menschen allen gemein macht, die in der Ukraine versuchen, ihre Geschichte dieses Kriegs zu erzählen.

MEDIEN360G: Das ist ein Thema, was ja gerade aktuell überhaupt die Berichterstattung in öffentlich-rechtlichen Medien generell in den Fokus rückt. Aber ich will noch andere Beispiele nennen. Die Gendersprache. Der Klimawandel oder auch die Frage des Umgangs mit den Corona-Maßnahmen. Das sind ja viele Themen gewesen, wo eben vom Publikum der Vorwurf kam: So ganz neutral und ausgewogen ist das nicht. Es kommt immer nur eine Seite zu Wort. Und irgendwie wird da immer Haltung mittransportiert, nämlich die Haltung, die eigentlich die gewollte Haltung sein soll. Sehen Sie bei diesen Themen auch irgendwelche Ansätze, wo Sie sagen, da ist möglicherweise was schiefgelaufen. Oder sagen Sie, auch da hätte sich der Rezipient ja eigentlich nur die Mühe machen müssen und das gesamte Angebot suchen müssen?

Georg Restle: Die Genderdebatte ist nun eine vergiftete Debatte gewesen, weil die dafür getaugt hat, ein Kulturkampfthema zu platzieren. Ich finde es auch unglücklich, dass die deutsche Sprache es mir nicht ermöglicht, am generischen Maskulinum vorbeizukommen und dass ich immer beide Fassungen verwenden muss und Sätze damit zu Ungetümen werden. Und deswegen fand ich das Gendersternchen einfach eine elegante Idee, die Sätze wieder kürzer zu machen. Ich bin überhaupt nicht verbissen, was das angeht und verwende in der Regel beide Formen, und versuche so, das generische Maskulinum zu umgehen. Aber damit mache ich mich nicht mit irgendjemandem gemein, sondern ich finde das einfach nach meiner Position eine richtige, nachvollziehbare Haltung. Wenn man die nicht hat, komme ich damit gut klar. Dass Leute das nicht schön finden, damit komme ich gut klar. Deswegen haben wir uns in der Redaktion auch dazu entschieden, so wenig wie möglich mit Gender-I zu sprechen und so häufig wie möglich beide Fassungen zu nehmen und, wann immer es geht, das generische Maskulinum zu umgehen. Weil ich das im Grunde richtig finde. Aber es geht mir nicht darum, hier irgendwelche Leute zu überzeugen, in einer Sprache zu sprechen, nur weil ich es möglicherweise für richtig und angemessen halte. Also der Vorwurf, wir würden hier den Leuten was auferlegen, dass sie nicht ihre Sprache sprechen könnten, der war schon immer absurd. Jeder kann so sprechen, wie ihm die Schnauze gewachsen ist. Ob das beim "Monitor" ist oder ob das da draußen in der Gesellschaft ist.

MEDIEN360G. Ich glaube, ich würde es ja andersrum aufsatteln. Wenn man sich die Umfragen anschaut und feststellt, dass ein überwiegender Teil der Bevölkerung die Gendersprache ablehnt. Da ist ja eher die Frage, ob man sich nicht über das hinwegsetzt, was der Rezipient möglicherweise in seiner Lebensrealität erlebt. Ich glaube, dass Binnen-I in einer Frühschicht bei Siemens wird wahrscheinlich nicht so oft vorkommen.

Georg Restle: Also wenn wir immer nur so berichten würden, wie es die Mehrheit der Gesellschaft für richtig hält, dann würden wir unseren Job aufgeben. Insoweit würde ich sagen: Wir als Journalisten müssen doch wissen: Was haben wir recherchiert? Was halten wir für richtig? Was für Haltungen stehen auch dahinter? Die machen wir transparent. Aber wir orientieren uns nicht an einem gefühlten oder realen Mehrheitswillen der Bevölkerung in unserer Berichterstattung. Das ist oft anstrengend, weil man im Investigativen oft Dinge herausbekommt, die der Mehrheit der Gesellschaft unangenehm sind. Aber das ist Journalismus. Wir sind keine gewählten Volksvertreter, die wiedergewählt werden wollen, sondern wir sind Journalisten, die sich um Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung bemühen.

Porträtfoto von Prof. Dr. Christian P. Hoffmann von der Universität Leipzig 41 min
Im Interview mit MEDIEN360G spricht Prof. Dr. Christian Hoffmann von der Universität Leipzig über Heterogenität im Berufsfeld Journalismus. Bildrechte: MDR MEDIEN360G | Universität Leipzig Tobias Tanzyma
41 min

Sind Redaktionen zu homogen aufgestellt? Prof. Dr. Christian Hoffmann von der Uni Leipzig meint, es sei schwierig, mehr Heterogenität im Journalismus zu schaffen.

Di 10.01.2023 10:46Uhr 40:39 min

https://www.mdr.de/medien360g/medienwissen/interview-christian-hoffmann-uni-leipzig-100.html

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MEDIEN360G: Ich will mal zum Leipziger Politikwissenschaftler Christian Hoffmann kommen. Der verweist nämlich darauf, dass es Unterschiede zwischen öffentlich-rechtlichen Angeboten und privatwirtschaftlichen Publikationen gibt. Kurz gesagt: Wer beispielsweise die TAZ kauft, weiß, wofür er sein Geld ausgibt und wer die Öffentlich-Rechtlichen durch Gebühren mitfinanziert, hat einen Anspruch auf Ausgewogenheit, sagt er. Inwieweit teilen Sie diese Einschätzung?

Georg Restle: Ich teile, dass Vielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein wichtiges Gebot ist. Das ist ein Verfassungsgebot. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht immer hingewiesen. Deswegen müssen wir im gesamten Programm darauf achten, dass möglichst viele Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen, unterschiedlichen Biografien zu Wort kommen. Das halte ich für richtig. Das ist dann das, was Leute für ausgewogen halten. Aber Ausgewogenheit ist natürlich auch ein gefährlicher Begriff. Wir kennen die Diskussion um die sogenannte False Balance, also die falsche Ausgewogenheit. Nicht jeder Unsinn muss gleichberechtigt oft berichtet werden, nur weil die Hälfte der Bevölkerung meint, dass dieser Unsinn richtig ist.

Zwei Gruppen von diskutierenden Personen befinden sich auf einer Waage. Die Waagschale, die sich zum Boden neigt, trägt nur eine Person. Während die Waagschale die nach oben neigt, mehrere Personen tragen muss. Auf dem Bild steht die Frage: Was ist False Balance? Daneben der Vermerk: In Bildern erklärt. 2 min
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MEDIEN360G: Wohin das führen kann, haben wir jetzt in Großbritannien gesehen. Da hat man bei der BBC gefühlt seit vielen Jahren so ein False Balacing betrieben. Auch aus einem selbst auferlegten Neutralitätswahn heraus. Sehen Sie so eine Gefahr für Deutschland?

Georg Restle: Ich sehe die Gefahr. Ich sehe die in doppelter Hinsicht. Erstens, dass man sich dadurch für Propaganda öffnet. Etwa für Kriegspropaganda: Es braucht ja nur ein cleverer Staat, wie Russland oder andere, seine Propaganda in die Kanäle spülen. Dann werden die verbreitet und geteilt. Und plötzlich entsteht daraus ein Anspruch, dass auch diese Sicht der Welt geteilt werden müsste. Und das erleben wir ja schon lange. Ob das Unternehmen sind, ob das Regierungen sind. Die versuchen allein dadurch, dass sie Themen besetzen und auch Fake-News verbreiten, in die Gesellschaft vorzudringen. Und wenn wir mit einem falschen Verständnis von Ausgewogenheit dafür dann sorgen würden, dass von uns Falsch-Nachrichten und Kriegspropaganda verbreitet werden, dann ist es nicht meine Vorstellung von Ausgewogenheit. Deshalb braucht es ja den Journalisten, der genau hinguckt, der recherchiert, der die Fakten checkt, um dann zu sagen: Das ist eine Haltung oder eine Sicht auf die Welt, die ich nicht verbreiten werde, weil ich es unter Umständen auch für gefährlich halte. Und wie gefährlich das ist, das erleben wir ja gerade am Beispiel des Ukraine-Kriegs.

MEDIEN360G: Nochmal zurück zur Ausgangssituation. Ich hatte ja gesagt: Wer eine TAZ kauft, der weiß wahrscheinlich, dass er eine sehr linke Einstellung kriegen wird. Wer die Süddeutsche kauft und so weiter... Was denken Sie: Gerade in der Bevölkerung, ist dieser Unterschied zwischen privaten Möglichkeiten und öffentlich-rechtlichen Grenzen, ist das bekannt, können die Leute das trennen? Ist das auch eine Frage der Medienkompetenz?

Georg Restle: Also ich glaube, dass die Leute, die sich die TAZ kaufen, wissen, was sie kaufen. Das ist ja ein überdurchschnittlich gebildetes Publikum, das sich solche Zeitungen kauft.

MEDIEN360G: Dann nehmen wir mal "Die Welt" beispielsweise. Man kann vielleicht ablehnen, die Bild zu lesen, weil das Überschriften-Journalismus ist, das will ich nicht. Dann nimmt man die vermeintlich tiefgründigere Welt. Quasi die Bild für Akademiker. Wissen die Leute das?

Georg Restle: Ich glaube, dass die meisten Leute, die diese Medien konsumieren, im Grunde wissen, welche Ausrichtung die jeweiligen Zeitungen haben. Dass "Die Welt" ein eher liberal-konservatives Weltbild hat, die TAZ vermutlich ein eher linkeres Weltbild hat. Das wissen die Leute, die das kaufen, schon. Das glaube ich schon. Oder gibt es da Forschung, die das Gegenteil beweist? Ich kenne jetzt natürlich keine evidenzbasierten Untersuchungen, das ist natürlich ein reines Gefühl. Ich glaube, man muss differenzieren. Ich glaube, dass die Leute, die ganz bewusst ein bestimmtes Medium konsumieren, in der Regel wissen, was sie da konsumieren. Die Leute, die im Netz unterwegs sind und alles Mögliche konsumieren und zum Teil nicht mal darauf achten, wer die Quelle ist, die haben keine Vorstellung davon, ob da eine bestimmte Agenda, ob da ein bestimmtes Weltbild, ob da eine bestimmte politische Färbung möglicherweise dahinter ist. Das ist schon das Problem. Also früher haben sich die Leute ganz bewusst für ein Medium entschieden und wussten, was sie da kriegen. Heute fliegt ihnen das im Netz entgegen und sie können zum Teil gar nicht mehr unterscheiden: Woher kommt was? Und wie seriös ist überhaupt eine Quelle? Das macht es uns ja auch so schwierig. Ich behaupte ja, dass wir echt einen harten Job hier machen. Wir recherchieren hier mit einem Team von sehr, sehr guten Journalisten Monat für Monat eine Magazin-Sendung und das ist harte, harte Arbeit. Das ist täglicher Faktencheck. Und zwar im Detail. Und ich glaube nicht, dass die Leute heute überhaupt noch merken, wieviel journalistische Mühe in so einem "Monitor"-Beitrag ist; im Vergleich zu dem, was da zum Teil im Netz einfach ausposaunt wird.

MEDIEN360G: Sind das dann die Leute, die Ihnen Haltungsjournalismus vorwerfen, die sich eben nicht damit beschäftigen und die nicht unterscheiden können?

Georg Restle: Es gibt verschiedene Leute, die mir Haltungsjournalismus vorwerfen. Die Leute, die finden, dass ich die falsche Haltung habe. Das sind insbesondere Leute im rechtsextremen Spektrum. Dann die Leute, denen die Art von Journalismus, der einordnende, kommentierende Journalismus, generell ein Dorn im Auge ist; die also eine Vorstellung von Journalisten als Mikrofonhalter haben. Und dann gibt es die, die schlicht und ergreifend ihre eigene Agenda verfolgen. Die sagen: Ich muss mit meiner Politik mich durchsetzen. Und der Restle macht mir mein Framing kaputt.

MEDIEN360G: Sie haben einen interessanten Begriff geprägt, nämlich den vom werteorientierten Journalismus. Jetzt könnte ich ja sagen: Naja, Herr Restle, das sind ja Ihre Werte. Und damit meine ich jetzt nicht die Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Georg Restle: Die meine ich aber.

MEDIEN360G: Wenn wir über die reden müssen – da muss man nicht drüber reden müssen, finde ich.

Georg Restle: Doch, darüber muss man reden. Weil viele Leute auch schon, zum Beispiel beim Grundrecht auf Asyl, ganz unterschiedliche Auffassung davon haben. Es würde sich ja mal lohnen, über die Werte unseres Grundgesetzes mit dieser Gesellschaft zu streiten. Ich glaube nämlich nicht, dass alle Leute erstens wissen, was da eigentlich drinsteht. Und zweitens, wenn man mit ihnen in die Diskussion geht, ganz klar hinter diesen Grundrechten stehen würden. Das ist eine relativ spannende Debatte, die diese Gesellschaft ja nie führt. Jedenfalls in der Mehrheit nie führt. Deswegen sage ich: Die Grundwerte unserer Verfassung zu verteidigen, ist ein Kerner-Job; auch als Journalist. Wir müssen die Gesellschaft daran erinnern: Was ist eigentlich das, woran wir Politik messen? Und woran können wir denn Politik messen? Natürlich werte ich Politik nicht an einzelnen Vorlieben von mir, sondern ich werte Politik erstens an ihren eigenen Ansprüchen. Und ich werte die Politik an einem Wertegerüst, das ich transparent mache. Und das ist im Kern das Wertegerüst des Grundgesetzes.

MEDIEN360G: Ich wollte eigentlich nur zum Ausdruck bringen, dass es sich vermutlich fast sinnlos gestaltet, mit Menschen, die nicht auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen, überhaupt über Dinge zu reden, die wir für wertvoll hatten.

Georg Restle: Aber es ist interessant. Wenn man über die Flüchtlingspolitik spricht und das, was im Mittelmeer passiert und sagt: Das ist ein ganz klarer Verstoß gegen Artikel eins unseres Grundgesetzes, die Menschenwürde, und daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Dann fangen schon einige Leute an zu sagen: So habe ich Menschenwürde aber nicht gemeint. So ist die Menschenwürde aber gemeint. Und deswegen ist es interessant, mit den Leuten genau darüber zu sprechen. So verstehe ich auch meinen Job: Die Leute daran zu erinnern. Was sind eigentlich die Werte, auf die wir uns alle scheinbar geeinigt haben. Und wie messe ich die Welt oder die Politik an diesen Werten? Um dann zu ganz konkreten Schlussfolgerungen auch zu kommen. Um dann auch eine Haltung zu entwickeln. Weil wie soll ich denn  einen Skandal als Skandal beschreiben können, wenn ich nicht sage: Politik oder Wirtschaft oder Macht versagt hier vor dem Hintergrund ihrer eigenen Ansprüche oder vor den Werten, auf die wir uns alle geeinigt haben?

MEDIEN360G: Ich will es mal an einem anderen Beispiel festmachen, was vielleicht kontroverser diskutiert werden könnte. Das, was Sie ansprechen, ist ein Thema, das man nicht kontrovers diskutieren kann; man kann Menschen nicht sterben lassen.

Georg Restle: Es gibt auch einige, die das anders sehen.

MEDIEN360G: Es gibt beispielsweise auch eine Diskussion um die Frage: Soll man abgelehnte Asylbewerber abschieben? Die linke Position wäre vermutlich: Das muss man sich genau angucken wo schiebt man die Leute hin ab, unter welchen Umständen, sind sie schon lange hier? Dann gibt es konservativere Positionen, die sagen: Es gibt einfach Gesetze. Wenn es keinen Schutzgrund gibt, wenn es ein Land ist, was touristisch finanziert ist... Da gibt es einerseits die Werte von Ihnen, Herrn Restles Werte, und es gibt..

Georg Restle: Nein. Es die Genfer Flüchtlingskonvention, es gibt das Grundrecht auf Asyl. Es gibt die Asylgesetze. Es gibt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es gibt zahlreiche Parameter, an denen man das messen kann. Wenn eine bestimmte Politik sich gegen die Grundsätze der internationalen Verträge, gegen die Grundsätze der internationalen Rechtsprechung oder gegen die Grundsätze unseres Grundgesetzes orientiert, dann müssen wir das kritisieren. Oder aber wir sagen, das ist dann die nächste Frage, es gibt ein Naturrecht, auf das wir uns alle berufen, indem wir sagen: Die Menschenwürde, in meinem Verständnis, geht noch weiter darüber hinaus, sodass ich finde, dass die Gesetze oder die Rechtsprechung dem nicht genügen. Dann muss ich das aber transparent machen und begründen. Das ist immer der Punkt. Eine bestimmte Haltung, die ein Journalist bringt, erfordert Transparenz. Ich muss die Wertebasis, auf die ich mich beziehe, transparent machen und zur Diskussion stellen. Das ist das, was gesellschaftliche Debatte ist, wo wir mit unseren Recherchen, wo wir mit unserer Arbeit gesellschaftliche Debatte voranbringen können.

MEDIEN360G: Gleichwohl möchte ich zu bedenken geben, dass gesellschaftliche Debatte auch darin besteht, dass vergleichbare Optionen bestehen. Jetzt könnte man ja sagen: Jetzt haben wir auf der einen Seite einen Journalisten mit einem Millionenpublikum. Und ich als Einzelner habe überhaupt nicht dieses Forum. Ist das eine Form von Bevormundungen? Ist das eine Form von Ungleichheit der Möglichkeiten?

Georg Restle: Wenn es nur Georg Restle im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gäbe, dann würde ich zustimmen. Aber so ist es ja nicht. Es gibt ja so viele verschiedene Journalisten und Journalistinnen. Es gibt so viele verschiedene Meinungen, wie man in Tagesthemen-Kommentaren sehen kann, wie man in den Talkshows sehen kann, dass ich sagen würde, niemand wird hier bevormundet. Jeder und jede Auffassung zu bestimmten politischen Dingen wird im öffentlich-rechtlichen Rundfunk angesprochen und auch vertreten. Beweisen Sie mir mal das Gegenteil!

MEDIEN360G: Das wird schwer sein. Wir haben schon kurz über die BBC gesprochen. Vertrauen der Bevölkerung weg. Honorige Journalisten weg. Eigentlich eine Kapitulation. Welche Lehren sollte denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland für Sie aus dieser Entwicklung Großbritanniens ziehen?

Georg Restle: Ich finde, dass wir viel stärker und offensiver mit der Gesellschaft in den Dialog gehen müssen. Also die Vorstellung, dass wir uns da abschotten, dass da Journalisten in ihren Elfenbeintürmen sitzen würden und ihre Dinge verhandeln und nicht mehr mit der Gesellschaft in Abgleich bringen. Die ist ja evident da. Und deswegen, glaube ich, müssen wir viel dialogischer werden. Die Kritik, die ja auch zum Teil zurecht geübt wird, müssen wir ernst nehmen und dürfen das nicht so abtun im Sinne von: Ja, ja, wir hören uns das alles mal an und dann gehen wir zur Tagesordnung über. Ich kann gut nachvollziehen, dass Menschen die Frage stellen: Was macht ihr eigentlich mit diesen 8,5 Milliarden Euro? Das ist eine Riesensumme. Müssen die Spitzenkräfte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk so viel Geld verdienen, wie sie verdienen? Das kann ich alles nachvollziehen. Brauchen wir wirklich alles, worüber ihr da berichtet? Müssen wir eine Fußball-Weltmeisterschaft in Katar haben und dafür viel, viel Geld an Organisationen bezahlen, die ich persönlich als mafiös bezeichnen würde? All das sind Fragen, mit denen ich durchaus was anfangen kann. Und ich finde, da muss sich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ändern. Und wenn wir irgendetwas aus der BBC und England hoffentlich lernen: Wir müssen das jetzt machen. Wir dürfen nicht warten, bis der nächste Skandal kommt und der Rückhalt in der Bevölkerung immer geringer wird. Weil davon bin ich auch überzeugt: Die Gesellschaft wird erst erkennen, was sie an ihrem öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat, wenn es ihn nicht mehr gibt.

MEDIEN360G: Was könnten Sie sich denn so ganz praktisch vorstellen, wie man das erreicht? "Dialogisches Format" ist schnell dahingesagt. Wahlarenen gibt es unter Umständen auch alle paar Jahre. Aber wie kann ich das denn regelmäßig im Journalismus integrieren?

Georg Restle: Also ich glaube, dass wir im digitalen Bereich unglaublich tolle Formate zurzeit entwickeln. Wo erstens sehr viele verschiedene Auffassungen aufeinandertreffen und wo viel mehr Beteiligung möglich ist. Man erlebt das ja überall. Ich will jetzt gar kein einzelnes Beispiel herausgreifen. Ich glaube, dass die Digitalisierung unsere Chance ist, dialogischer zu werden, offener zu werden, vielfältiger zu werden. Ich glaube, dass wenn man sich anschaut, was öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalen heute schon macht und was er im Linearen macht – das sind ja wie zwar unterschiedliche Welten. Und ich glaube schon, dass wir da noch mal auch über diese Digitalisierungskonzepte reden. Nicht nur um jüngere Zuschauer anzusprechen, sondern weil wir offener, vielfältiger, diverser, fragender, dialogischer werden. Das finde ich gut.

MEDIEN360G: Ist dialogisches Format für Sie auch: Die Kommentarspalte unter dem bei Facebook veröffentlichten "Monitor"-Beitrag? Ein Post, der unter Umständen von einem Social-Media-Redakteur betreut wird, der Kommentare eher auf Nettiquette überprüft? Wie hoch muss die Qualität im Kommentar-Management sein, wenn man da wirklich ernsthaft Dialog mit dem Zuschauer haben will?

Georg Restle: Deswegen bin ich auf Twitter und deswegen kommentiere ich alles selber. Das ist viel Arbeit zum Teil. Ich bin mein eigener Community-Manager. Ich bin mein eigener Autor. Das erwarte ich von mir selbst. Und ich finde, das dürfen auch Zuschauer und Zuschauerinnen von mir erwarten, dass ich mich Kritik auch persönlich stelle. Denn ich stelle mich auch persönlich ins Schaufenster. Um das Community Management gut zu gestalten: Wir haben da mittlerweile sehr gute Leute, die sehr gut im Stoff sind. Es gibt Factsheets. Wir gehen mit den Leuten rein. Die Rückmeldungen erreichen die Redakteure und Redakteurinnen, die die Beiträge verantwortet haben. Es ist ja nicht so, dass da nur ein Community Management einfach irgendwie Zuschauer und Zuschauerinnen bedient, sondern es gibt diesen Rückkanal immer wieder. Natürlich können wir nicht allen rund um die Uhr antworten. Das ist die schiere Masse, die nicht zu bewältigen ist. Aber überall da, wo wir das Gefühl haben, da hat jemand Lust auf Dialog und da geht jemand wirklich ernsthaft in der Debatte rein, und es geht nicht nur um Bashing oder irgendwie seine miese Laune zum Ausdruck zu bringen. Das sind etwa 60 bis 70 Prozent aller Rückmeldungen. Aber bei diesen 30 bis 40 Prozent, bei denen ernsthaft Dialog-Interesse da ist, mit denen gehen wir auch einen Dialog ein oder ich persönlich sogar bei Twitter.

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