Corona-Pandemie Wie ein Arbeitsvermittler zum Hartz IV-Fall wurde

21. Dezember 2022, 05:00 Uhr

Viele Jahre hat Lars Naundorf vielen Menschen geholfen aus Hartz IV heraus zu kommen und eine Arbeit zu finden. Doch durch die Corona-Pandemie ist der private Arbeitsvermittler selbst arbeitslos geworden. Er musste Insolvenz anmelden und hinzu kamen auch noch eine Reihe von privaten Katastrophen. Schafft er es nun auch sich selbst wieder auf die Beine zu helfen?

Lars Naundorf zieht die Augen zusammen und erklärt mit wackliger Stimme: "Das ist gerade ein Tiefpunkt in meinem Leben." Der 46-Jährige ist mit Corona in seine größte persönliche Krise gerutscht. Die Pandemie machte sein Geschäftsmodell zunichte. Es folgte die Pleite. Der einst erfolgreiche Berater von Arbeitslosen musste schließlich selbst Hartz IV beantragen. Doch lange solle das nicht so bleiben, erklärte er. Lars Naundorf wollte schnell wieder raus aus der Staatshilfe. Doch das ist auch für ihn nicht leicht.

Es war Anfang März dieses Jahres als die Welt von Lars Naundorf zusammengebrochen ist. Kurz zuvor hatte der einst selbstständige Arbeitsvermittler Insolvenz angemeldet. Dann rückte ein Gutachter im Büro in Korbußen in Thüringen an, um zu prüfen, ob dort noch verwertbare Gegenstände stehen. Alles wird erfasst.

Mein Insolvenzverwalter hat keine Hoffnung, dass mein Seminargeschäft überhaupt noch weitergehen kann.

Lars Naundorf

"Ich habe die Insolvenz mal gedacht als Rettung", erklärte Lars Naundorf. Der orangene Reißverschluss seines Pullovers ist fast vollständig offen. In diesem Moment hatte er das Gefühl, dass es ihm den Boden unter den Füßen wegreißt. "Mein Insolvenzverwalter hat keine Hoffnung, dass mein Seminargeschäft überhaupt noch weitergehen kann."

Die Erfolgsgeschichte: Als Arbeitsvermittler auf Hartz IV-Demos

An diesem Tag im März hatte der Insolvenzverwalter offiziell das Verfahren im Fall Naundorf eröffnet und auch damit wurde dem früher erfolgreichen Seminarleiter der wirtschaftliche Absturz noch einmal richtig bewusst. Vor 17 Jahren hatte der MDR Lars Naundorf ganz anders kennengelernt. Am Rande von Hartz IV-Demos bot er als junger Mann in Nadelstreifenanzug und mit Schlips Arbeitssuchenden seine Hilfe an. Getreu dem Motto: Wer Arbeit wolle, brauche nur das richtige Mind-Set. Das kam nicht bei allen gut an. "Fünfhundert Bewerbungen in den letzten zwei Jahren", schimpfte ein Demonstrant mit erhobenen Zeigefinger. "Wissen Sie, was das heißt?" Mehrere Arbeitslose fühlten sich vom damals 29-Jährigen "verhohnepiepelt".

Von den teils wütenden Reaktionen ließ sich Lars Naundorf nicht beeindrucken. Im Gegenteil: In den folgenden Jahren entwickelte er sein Geschäftsmodell: Er hilft Arbeitslosen, wieder einen Job zu bekommen. Wenig später waren seine Seminare hochgefragt. Die Jobcenter nahmen danach eine zentrale Rolle ein, denn dort fanden seine Kurse statt – seit 2012 reiste Naundorf durch die ganze Republik.

2015 gab es dann seit zehn Jahren Hartz IV. Zu diesem Anlass sagte Lars Naundorf mit breitem Grinsen: "Mein Kurz-Statement zu zehn Jahre Hartz IV: Ich glaube, mir hat es den schönsten Job der Welt gebracht." Für solche Sätze kassierte er jede Menge Widerspruch.

Doch das gehört für ihn offenbar zum Job. 2016 sitzen in Meißen 18 Seminar-Teilnehmer in U-Form um ihn herum. "Wir sind frustriert", sagt ein kräftiger Mann in schwarzem Hemd. "Wer geht heute schon auf´s Amt und freut sich auf´s Amt, weil er dort Hilfe kriegt?" Sie alle haben offenbar bereits viele Absagen auf ihre Bewerbungen bekommen. Doch in diesem Kurs über mehrere Wochen haben mehrere Teilnehmer Arbeitsverträge, Probearbeit oder ein Vorstellungsgespräch erhalten.

Der Abstieg: Als der Jobvermittler selbst Hartz IV beantragen musste

Doch nun schlägt sich der einstige Motivator mit seinem eigenen Frust herum – ohne Arbeit und mit den Folgen der Insolvenz. Beim Jobcenter in Greiz musste er im März 2022 selbst Hartz IV beantragen. "Das ist heute ein Gang, wo ich das Gefühl habe, nicht mehr über mein Leben zu bestimmen", sagte Lars Naundorf. Dennoch sei er froh, dass es das Jobcenter gebe. "Weil ich weiß sonst nicht, wovon soll ich das Essen bezahlen." Dennoch sagte er nach dem Termin euphorisch: "Ich möchte mich in einem halben Jahr hier abmelden, das ist mein Ziel."

Lars Naundorf erklärte: "Das Geschäft lief 20 Jahre. Dann kam halt Corona. Ohne Corona hätte es diese Insolvenz nie gegeben." Die Jobcenter sagten in der Pandemie die Präsenzseminare wegen Corona ab. Lars Naundorf ging auf die Straße, um Arbeitslose für Fernseminare zu gewinnen. Doch das funktionierte nicht so gut. Die Kurse via Internet brachten nicht genug Geld. Gleichzeitig liefen die Fixkosten weiter. Die Schulden wuchsen immer mehr an. Nun habe er ein schlechtes Gewissen gegenüber den Menschen, die ihm Geld geliehen hatten. Auch seinen vier Angestellten musste er kündigen.

Das Gefängnis: Zur Insolvenz kommen auch private Probleme

Doch Lars Naundorf bekommt nicht nur wegen des wirtschaftlichen Abstiegs Ärger. Im Mai 2022 musste der Familienvater sogar ins Gefängnis. Hintergrund ist die Eskalation des juristischen Streits mit seiner Exfrau und ihrem neuen Partner. Es ging um die jüngeren Kinder von Naundorf und seiner ehemaligen Ehefrau. Anfangs vor allem um deren Wohn- und Schulort.

Seine frühere Frau war mit den Kindern zum neuen Mann gezogen – gegen den Willen von Lars Naundorf. Er versuchte das rückgängig zu machen. Doch auch vor Gericht klappte dies nicht. Der Kontakt zu einem Kind bricht ab. Nach einem Jahr Streit hat er seine Sicht der Dinge in Videos im Internet veröffentlicht und spricht darin von "Kindesentführung" und "Kindesentziehung". Zudem wirft er dem neuen Partner, einem Kommunalpolitiker vor, er habe in diesem Zusammenhang sein Amt missbraucht.

Der so Beschuldigte zog seinerseits vor Gericht und erwirkte eine Unterlassung. Danach darf Lars Naundorf solche Behauptungen nicht mehr äußern. Weil er sich nicht daran hielt, kassierte er Ordnungsgelder. Weil er diese nicht zahlte und die Vorwürfe weiter wiederholte, verurteilten ihn zwei Gerichte zu insgesamt 47 Tagen Ordnungshaft. MDR exactlyt hat auch die Gegenseite angefragt. Weder die Exfrau noch der neue Partner wollten sich dazu vor der Kamera äußern.

Hilfe aus der Familie: Sohn Conrad sammelt Spenden für den Papa

"Als die Nachricht kam, dass Papa ins Gefängnis muss […], da ist mir das Herz in die Hose gerutscht", sagt sein ältester Sohn Conrad. Der 18-Jährige wohnt im Haus bei seinem Vater und soll nun fast anderthalb Monate allein verbringen. Lars Naundorf hat versucht für diesen Zeitraum im Mai 2022 alles vorzubereiten: "Wenn was ist: Notnummern oder Nachbarn, dir hilft jeder." Noch am selben Tag muss er hinter die hohen Mauern der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben.

Sein Sohn hatte Angst um ihn: "Meine größte Sorge ist, dass es ihn selber kaputt macht", sagt Conrad Naundorf. Er will seinem Vater helfen. 20 Hafttage sind nicht mehr abwendbar, doch 27 weitere Tage könnten durch die Zahlung von 9.300 Euro verhindert werden. Doch es bleibt die Frage: Woher nehmen? Der Sohn richtet ein Spendenkonto für seinen Vater ein. Nach knapp der Hälfte der Haftzeit schickt Conrad Naundorf ein Video an MDR exactly und sagt: "Wir haben 9.300 Euro an Spenden erreicht. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist." Nach zwanzig Tagen Ordnungshaft wird Lars Naundorf aus der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben entlassen.

Wir haben 9.300 Euro an Spenden erreicht. Ich hätte niemals gedacht, dass das möglich ist.

Conrad Naundorf

Als sein Sohn ihn Ende Mai vor dem Gefängnistor abholt, sagt Lars Naundorf: "Das war für mich wahnsinnig beeindruckend. Schlechtes Gewissen habe ich, dass ich manchen Leuten gar nicht Danke sagen kann, weil es war anonym." Es seien Beträge gespendet worden, die über seinem monatlichem Hartz IV-Satz lägen.

Schafft Lars Naundorf den Aufstieg zurück zum Erfolg?

Lars Naundorf hat seine Ankündigung, sich innerhalb eines halben Jahres beim Jobcenter abzumelden, nicht vergessen. Als MDR exactly ihn Anfang Oktober wieder trifft, hat er gerade einen Brief an das Jobcenter geschrieben, in dem er sich zum 1. Januar 2023 vom Leistungsbezug abmeldet. An diesem Tag gibt er sein erstes Seminar vor Langzeitarbeitslosen nach seiner Insolvenz und Lars Naundorf scheint wieder in seinem Element. Nach mehreren Kurstagen lautet seine Bilanz: Drei Leute sind raus aus Hartz IV, zwei weitere haben Aussicht auf einen Arbeitsvertrag. "Was die Teilnehmer nicht sehen, was mir das auch bedeutet. Auch das bedeutet, selber nicht aufzugeben und weiter zu machen und egal was passiert, dass es immer Lösungen gibt. Jeder hat sein Schicksal zu tragen."

Nächstes Jahr will Lars Naundorf eine Vollzeitstelle antreten. Seine Familie hat eine Firma für Seminare gegründet und er soll dort fest angestellt sein. Denn offenbar schafft es der Familienvater am Ende der Corona-Pandemie wieder seine Kurse zu geben, doch seine anderen Probleme hören nicht auf. Er soll erneut gegen eine richterliche Unterlassung verstoßen haben. Dieses Mal soll er für 30 Tage in Ordnungshaft. Wenn das so kommt, hieße das: Lars Naundorf sitzt über Weihnachten und Silvester in der JVA Hohenleuben. Dagegen will er juristisch vorgehen. Doch der Ausgang ist ungewiss.

Quelle: MDR exactly/ mpö

Dieses Thema im Programm: MDR+ | MDR exactly | 19. Dezember 2022 | 11:00 Uhr

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