Symbolfoto: Festnahme, Handschellen werden anlegen
70 bis 80 Prozent der Jugendlichen, die in Haft waren, werden erneut straffällig.(Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / Sven Simon

Mehr Gewalt unter Jugendlichen Warum Jugendliche Straftaten begehen und was Herkunft damit zu tun hat

18. Dezember 2023, 16:41 Uhr

Silvesterkrawalle, Schlägereien in Freibädern und Ausschreitungen in Innenstädten: 2023 wurde viel über Kriminalität unter Jugendlichen diskutiert. Nicht selten wurden dabei Bezüge zu Migration und steigenden Flüchtlingszahlen hergestellt. Dabei gibt es aus Sicht von Kriminologen keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Herkunft. Generell werde dem Thema zu viel Bedeutung zugemessen, sagen sie. Dass Jugendliche Straftaten begehen, sei nämlich komplett normal.

Die Jugendkriminalität steigt seit 2016, besonders jedoch seit Ende der Corona-Pandemie. Insgesamt bewegt sich die Jugendkriminalität jedoch nach wie vor auf einem historisch niedrigen Niveau. Das zeigen die polizeilichen Kriminalstatistiken, ebenso wie Befragungsstudien unter Jugendlichen selbst. Denn zwischen Mitte der 2000er-Jahre und 2015 ist die Anzahl jugendlicher Tatverdächtiger stark zurückgegangen. Bei Gewaltdelikten hatten sich die Zahlen demnach mehr als halbiert.

"Eine bemerkenswerte Entwicklung", findet Kriminologe Christian Walburg. In einem kürzlich über den Mediendienst Integration veröffentlichten Forschungsbericht erklärt er, Gründe für diesen Rückgang seien mehr Präventionsprogramme an Schulen, weniger gewaltsame Erziehungsmethoden und weniger Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.

Warum Kriminalität in der Jugend normal ist

Dass die Jugendkriminalität aktuell wieder zunimmt, ist Walburg zufolge zunächst auf die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie zurückzuführen. Die Taten würden derzeit wohl teilweise "nachgeholt". Aber auch zunehmende ökonomische Probleme und fehlende Ressourcen in Familien seien ein Faktor.

Lisa Tölle
Lisa Tölle ist Kriminologin und Sonderpädagogin und hat einige Jahre als Lehrerin in einer Jugendhaftanstalt gearbeitet. Bildrechte: Paul Hense

Tatsächlich ist es aus kriminologischer Sicht aber normal, dass Jugendliche Straftaten begehen. Kriminologin und Sonderpädagogin Lisa Tölle sagt MDR AKTUELL, das komme daher, dass die meisten Jugendlichen Normen und Grenzen austesten würden. "Eltern werden weniger wichtig, Jugendliche sind mehr mit Freunden im öffentlichen Raum unterwegs, und durch Gruppeneffekte können sich Situationen ergeben, in denen Straftaten begangen werden."

Auch Christian Walburg erklärt, viele Jugendliche würden irgendwann eine Straftat begehen. Meist seien das leichte Delikte wie Sachbeschädigungen. Dabei lasse sich auch eine Alterskurve beobachten: Ab 16 bis 17 Jahren würden Straftaten seltener, mit Mitte bis Ende 20 verhielten sich nur noch wenige kriminell. Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen begeht Walburg zufolge öfter und teils auch schwere Delikte – etwa fünf bis sieben Prozent.

Jugendgewalt in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen

In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ist die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen 2022 deutlich angestiegen. In Sachsen-Anhalt waren darunter 1.295 Gewaltdelikte – ein neuer Höchstwert für das Bundesland.

Besonders die Jugendgewalt in Halle wurde medial immer wieder thematisiert. Zu deren Bekämpfung beschlossen Stadt und Land im Herbst mehrere Maßnahmen, beispielsweise Präventionspatenschaften zwischen Polizei und Schulklassen. Sozialwissenschaftler Hans Goldenbaum kritisierte allerdings, dass strukturelle Probleme so nicht gelöst würden.

Was Herkunft mit Kriminalität zu tun hat

Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migration gibt es nach Aussage von Kriminologe Walburg nicht. Immer mehr deutsche Jugendliche haben laut Bevölkerungsstatistik einen Migrationsbezug, 2022 bundesweit knapp 30 Prozent. Trotzdem ist die Tatverdächtigenquote deutscher Jugendlicher zwischen 2005 und 2015 deutlich zurückgegangen.

Befragungsstudien zeigen zudem, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht oder kaum häufiger als Jugendliche ohne Migrationshintergrund davon berichten, leichtere Delikte begangen zu haben. Bei selbstberichteter Gewalt allerdings liegt die Rate über der von Personen ohne Migrationshintergrund: elf im Vergleich zu sechs Prozent. 

Solche Befragungen sind Walburg zufolge akkuratere Erfassungsinstrumente als die bundesweite Polizeistatistik, unter anderem weil sie nicht auf die gleiche Art verzerrt werden. Denn Personen, die als "ausländisch" wahrgenommen werden, werden häufiger angezeigt und häufiger kontrolliert. Opferbefragungen zeigen, dass Betroffene eher Anzeige erstatten, wenn der Täter als "fremd" wahrgenommen wird.

Warum die bundesweite Polizeistatistik keinen Aufschluss über den Zusammenhang von Herkunft und Kriminalität gibt

Die bundesweite Polizeistatistik gibt keinen Aufschluss darüber, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund mehr Straftaten begehen oder nicht. Der Migrationshintergrund wird nicht erfasst, nur die Staatsangehörigkeit. Aber auch da kann die Statistik verzerrt sein, denn es sind etwa auch Straftaten enthalten, die ausländische Tourist*innen begehen. Zudem zeigen Studien, dass Personen, die als "fremd" wahrgenommen werden, häufiger von der Polizei kontrolliert und auch häufiger angezeigt werden. Kriminologe Christian Walburg, Mediendienst Integration

Zudem ist die Polizeiliche Kriminalstatistik eine Tatverdächtigenstatistik – sie gibt keinen Aufschluss darüber, wer tatsächlich verurteilt wurde. Sie ist eher ein Tätigkeitsbericht der Polizei. Kriminologin Lisa Tölle

Nicht-deutsch Aussehende sind deswegen in der Polizeistatistik überrepräsentiert. "Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Herkunft und Kriminalität. Es gibt aber einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Kriminalisierbarkeit", sagt Tölle. Nicht-deutsche Jugendliche begingen nicht häufiger Straftaten als deutsche. "Ihre Straftaten werden durch verstärkte Kontrollen aber eher aufgedeckt."

Der Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden ist der größte Risikofaktor für Kriminalität bei Jugendlichen.

Lisa Tölle Kriminologin und Sonderpädagogin

Das liegt Tölle zufolge auch daran, dass Stadtteile mit hohem Ausländeranteil häufig als soziale Brennpunkte markiert sind und die Polizei daher dort präsenter sei. "Es gibt mehr Streifen, mehr Polizeiwachen und Videoüberwachung." Eine Aussage, die den Vorwurf des "Racial Profiling" unterstützt, der immer wieder gegen die deutsche Polizei vorgebracht wird.

Zuletzt hatte der Sachverständigenrat für Migration und Integration Racial Profiling als "empirische Realität" in Deutschland bezeichnet. Der Rat hatte 15.000 Menschen zu Polizeikontrollen befragt. Das Ergebnis: Von den Befragten, die 2021 und 2022 kontrolliert worden waren, nahmen sich 8,3 Prozent aufgrund von äußerlichen Merkmalen selbst als ausländisch wahr. 4,4 Prozent verneinten das.

Risikofaktoren: Unter welchen Umständen Jugendliche häufiger kriminell werden

Wenn Jugendliche häufiger oder stärker straffällig werden, hängt das mit verschiedenen Risikofaktoren zusammen. Christian Walburg zufolge sind das einerseits fehlende Zuwendung oder gar eine gewaltsame Erziehung und andererseits fehlende finanzielle und zeitliche Ressourcen der Eltern. Der Kriminologe benennt in seinem Forschungsbericht außerdem das Aufwachsen in benachteiligten Stadtteilen und Mangel an Bildung als weitere Risikofaktoren.

Auch Lisa Tölle betont, wie wichtig Schulbildung ist. Sie schütze vor Kriminalität, aber auch vor Kriminalisierung. Bei Jugendlichen, die noch zur Schule gehen, werde eher von Haftstrafen abgesehen, um ihnen einen Abschluss zu ermöglichen. Sie sagt auch, was wirklich vor einer kriminellen Laufbahn schütze, seien feste Bezugspersonen: "Verlässliche Erwachsene, an die man sich wenden kann, wenn man Ärger hat."

Männliche Jugendliche begingen dabei häufiger Straftaten als weibliche, erklärt Kriminologin Lisa Tölle: "Das liegt an der Art und Weise wie Jungen und junge Männer in unserer Gesellschaft lernen, mit Konflikten umzugehen, wie transportiert wird, was ein 'richtiger Mann' ist."

Jugendkriminalität: Warum härtere Strafen nicht helfen

Eine zentrale Aufgabe von Haftanstalten ist die Resozialisierung von Menschen, die straffällig geworden sind. Tatsächlich sei aber der Kontakt zu Strafverfolgungsbehörden der größte Risikofaktor für Jugendkriminalität, sagt Lisa Tölle. "Wenn wir Jugendliche einsperren, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie nochmal straffällig werden, deutlich erhöht. Die Rückfallquoten beim Jugendarrest bzw. Jugendstrafvollzug liegen bei 60 bis 80 Prozent."

Buchcover, das die Tür einer geschlossenen Gefängniszelle zeigt 4 min
Bildrechte: Mitteldeutscher Verlag

Der Grund: Die Jugendlichen würden aus ihren Unterstützungssystem herausgerissen: "Ihre Ausbildung wird unterbrochen, unter Umständen verlieren sie ihre Wohnung, wenn sie eine haben." In der Haftanstalt verbringen die Jugendlichen dann viel Zeit mit anderen jungen Menschen, die Straftaten begangen haben. Viele von ihnen werden Tölle zufolge in diesem Kontext erneut straffällig, begehen Drogen- oder Gewaltdelikte und bekommen so noch in der Haft eine erneute Anzeige.

Nach Ablauf der Haftstrafe gestalte sich der Übergang in die Freiheit meist schwierig, weil die Jugendarreste bzw. Jugendstrafvollzugsanstalten sehr geschlossene Systeme seien. "Das Stigma bleibt. Und wenn Jugendliche einmal im Fokus der Strafverfolgungsbehörden sind, werden sie auch häufiger kontrolliert", sagt Tölle.

Ein höheres Strafmaß für Jugendliche, wie es nach den Silvesterkrawallen von verschiedenen Stellen gefordert wurde, hält Tölle nicht für sinnvoll. Man komme mit den rechtlichen Möglichkeiten, die bereits existieren, sehr gut aus. "Ich halte diese Forderungen nach höheren Jugendstrafen für politische Augenwischerei."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL – Das Nachrichtenradio | 25. Dezember 2023 | 11:30 Uhr

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